Kirchenraum im evangelischen Verständnis
Von Klaus Raschzok
In den sogenannten Wolfenbütteler Empfehlungen des Deutschen Evangelischen Kirchbautages zum evangelischen Kirchenraum von 1991 heißt es: »Der gottesdienstliche Raum ist ein gestalteter Raum, der deutlich zu erkennen gibt, was in ihm geschieht. Er soll so beschaffen sein, daß in ihm durch Lesung, Predigt, Gebet, Musik und bildende Kunst das Wort Gottes verkündigt und gehört werden kann und die Sakramente gefeiert werden können. Durch seine gegenwärtige Gestaltung und Ausstattung soll die Begegnung der Gemeinde mit dem lebendigen Gott zum Ausdruck kommen. Auch die Gestaltungsformen, die frühere Generationen hierfür gefunden haben, sind unverzichtbar. Sie zeigen, daß Kirche eine Weggemeinschaft und die Gegenwart nur eine Station ist. Der Raum soll die Gemeinde möglichst zu verschiedenen Gottesdienstformen anregen.«
Zunächst richteten sich die Kirchen der Reformation im 16. Jahrhundert in den überkommenen Kirchenräumen des Spätmittel alters ein und benutzten sie weiter. Nur wenige Anpassungen an die Erfordernisse des evangelischen Gottesdienstes waren notwendig. Meist wurde nur noch einer der Altäre benutzt. Im Laufe der Zeit erhielten die Räume festes Gestühl, und zugleich wurden hölzerne Emporen eingezogen, um die Gemeinde sitzend zur Predigt zu versammeln.
Während die reformierten Gemeinden in Südwestdeutschland und in der Schweiz die überkommenen Kirchenräume radikal von ihrer spätmittelalterlichen Ausstattung befreiten und sich auf die Kanzel und einen hölzernen Abendmahlstisch beschränkten, konnte das Luthertum im Umgang mit den überkommenen Kirchenräumen seine bewahrende Kraft entfalten: Seiten- und Nebenaltäre mit ihren Retabeln, Figuren der Maria und der Heiligen, Bilder, Kelche und Sakramentshäuser blieben erhalten und wurden nicht abgebrochen.
So verfügen zahlreiche historische evangelische Kirchenbauten bis heute über einen großen Ausstattungsreichtum.
Die Notwendigkeit zum Neubau evangelischer Kirchengebäude entstand – von Ausnahmen abgesehen – erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Das ausgehende 17. und das 18. Jahrhundert entwickelten eigenständige evangelische Raumlösungen, die dem Kirchenbesucher von allen Plätzen des Raumes gute Sicht- und Hörbarkeit des gottesdienstlichen Geschehens an Kanzel und Altar boten, den Gesetzen der Symmetrie folgten und ausreichendes Licht für den Gebrauch des Gesangbuches im Gottesdienst vermittelten.
Der Kanzelaltar mit der Übereinanderordnung von Altar, Kanzel und häufig auch Orgel in einer Achse wurde Ausdruck für die Überzeugung, daß Christus in Predigtwort und Sakrament gleichberechtigt gegenwärtig ist. Wesentliches Ausstattungsstück aber wurde die Gemeinde selbst. Evangelische Kirchenräume dieser Zeit sind ohne anwesende Gemeinde architektonisch unvollständig. Das Gestühl erhielt raumbildende Funktion und repräsentierte zugleich die gottesdienstliche Gemeinde.
Im 19. Jahrhunderts wurden auch im evangelischen Kirchenbau historische Stilformen eingesetzt. Neugotische und neuromanische Kirchenbauten sollten der kirchendistanzierten Industriearbeiterschaft in den rapide wachsenden Städten kirchliche Heimat bieten. Sie griffen dazu auf scheinbar zeitlose Raumlösungen zurück, stellten Altar und Kanzel wieder getrennt auf und gaben dem Chorraum mit dem Altar als Ort des Gebetes, des Abendmahls und des Segens neues Gewicht.
Die Gemeindebewegung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert setzte schließlich Akzente, die bis in den gegenwärtigen evangelischen Kirchenbau fortwirken. Zunächst kam es in ihrem Gefolge zum Verzicht auf die historischen Baustile. Zeitgenössische Architekturformen mit Materialien wie Stahlbeton und Glas bestimmten fortan das evangelische Kirchengebäude. In ganz unterschiedlichen Raumlösungen wurde die Gemeinde immer wieder neu eng um das Zentrum des gottesdienstlichen Geschehens in der Nähe des Predigers bzw. Liturgen gruppiert und bewußt auf jegliche Monumentalität des Kirchenraumes verzichtet. Die schlichte Gemeindekirche, deren überschaubare Kirchenräume von familiärer Atmosphäre geprägt und häufig mit anschließenden Gemeinderäumen zu einer Einheit verbunden sind, wurde neues Leitbild. Gegenwärtige evangelische Kirchenbauten sind Räume, die unterschiedlichste Gottesdienstformen ermöglichen und nicht mehr ausschließlich auf den sonntäglichen Hauptgottesdienst ausgerichtet sind. Ihre Ausstattungsstücke Altar, Kanzelpult, Taufstein und Gestühl sind bei gleichzeitiger gestalterischer Eindeutigkeit ihrer Bestimmung weitgehend mobil konzipiert. Die Altäre stellen Abendmahlstische dar, die dem Liturgen bzw. der Liturgin eine der Gemeinde zugewandte Stellung ermöglichen, die schon Martin Luther vorgeschwebt hatte. Christus wird so in der Mitte der gottesdienstlichen Versammlung als anwesend gedacht.
So nähern sich zeitgenössische evangelische und katholische Kirchenräume zunehmend an, wenn auch Unterschiede bleiben: Evangelische Kirchenräume kennen in der Regel keinen Priestersitz, sondern Liturgin oder Liturg nehmen bewußt in der Gemeinde und nicht ihr gegenüber Platz. Der evangelische Kirchenraum kennt auch keine Aufbewahrung der Abendmahlselemente im Tabernakel, keine Reliquien in den Altären und keine Weihwasserbecken im Eingangsbereich der Kirchen. Bis heute bestimmen Liedanstecktafeln evangelische Kirchenräume, während katholische sich meist durch Liedprojektoren auszeichnen. Und im evangelischen Raum wird noch konsequent die Kanzel benutzt, die im katholischen Gottesdienstraum durch die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils funktionslos geworden ist. Annäherungen vollziehen sich aber auch in der Praxis der Opferkerzen, die im Gefolge des Bedürfnisses nach individuellen Zonen der Meditation und des Gebetes in den evangelischen Kirchenraum einzieht. Gebetswände werden eingerichtet und Bücher für Gebetsanliegen aufgelegt. Zunehmend sind evangelische Kirchenräume auch außerhalb der Gottesdienstzeiten für die persönliche Andacht geöffnet.
Die protestantische Freiheit im Umgang mit dem Kirchenraum macht sich im Anspruch bemerkbar, grundsätzlich an jedem Ort, selbst zur Not, wie Martin Luther einmal polemisch meinte, in einem Schweinestall, Gottesdienst halten zu können. Sie kommt in den sogenannten Rummelsberger Richtlinien des Deutschen Evangelischen Kirchbautages von 1951 zum Ausdruck, in denen es heißt: »Evangelischer Gottesdienst kann grundsätzlich überall gehalten werden, in jedem Raum und auch im Freien. Aber schon aus praktischen Gründen ist für eine an einen Ort gebundene Gemeinde ein Kirchengebäude notwendig. Dieses Gebäude muß so ausgestattet sein, daß in ihm das Wort Gottes verkündigt und die Sakramente gereicht werden können. Der gottesdienstliche Bau und Raum soll sich um seines Zweckes willen klar unterscheiden von Bauten und Räumen, die profanen Aufgaben dienen. Aber zugleich wächst er über jede rationale Zweckbestimmung hinaus, da er mit seiner Gestalt gleichnishaft Zeugnis von dem geben soll, was sich in und unter der gottesdienstlich versammelten Gemeinde begibt: nämlich die Begegnung mit dem gnadenhaft in Wort und Sakrament gegenwärtigen heiligen Gott.«
Konsequenten Ausdruck findet diese Haltung in der sich ab 1965 im Bereich der deutschen evangelischen Kirchen abzeichnenden Tendenz, keine isolierten Kirchenbauten, sondern nur noch Gemeindezentren mit einer Mehrfachnutzung des gottesdienstlichen Raumes auch als Gemeindesaal zu errichten. Dahinter steht ein funktionales Verständnis des Kirchenraumes, das heilige Räume nur im Gebrauch kennt. Außerhalb des Gottesdienstes werden diese Räume wieder zu normalen Alltagsräumen.
Doch die meisten der als Mehrzweckräume konzipierten Gemeindezentren hatten im Laufe der Jahre entweder eine Erweiterung um einen eigenen Kirchenbau oder zumindest eine Sakralisierung des überwiegend gottesdienstlich genutzten Raumes durch künstlerische Ausstattung zur Folge. Denn die Gemeinden hatten ein Gespür dafür entwickelt, daß die Nutzung von Räumen und Gegenständen für den Gottesdienst diese verändert. Bereits 1937 hatte der evangelische Theologe Hans Asmussen diese Erfahrung in seiner Gottesdienstlehre beschrieben: »Der Bau eines kirchlichen Gebäudes wächst aus den Erfordernissen des gottesdienstlichen Geschehens und ist insofern Aufgabe der kirchlichen Gestaltung. Das Geschehen, das sich in diesem Hause abspielt, gestaltet das Haus. Es ist töricht, davor die Augen schließen zu wollen … Es ist freilich richtig, daß christliche Gottesdienste in jedem nur denkbaren Raum möglich sind. Aber ebenso steht fest, daß jedweder Raum, der für gottesdienstliche Zwecke benutzt wird, sehr bald die Spuren dieser Benutzung an sich trägt. Er verändert sich und gewinnt eine Gestalt, die anzeigt, daß in ihm christliche Gottesdienste gehalten werden.«
Ein Kirchenraum trägt die Spuren der gottesdienstlichen Benutzung und ist deshalb nach evangelischem Verständnis nicht ein geheiligter, besonderer Raum an sich, sondern ein Raum, der Spuren trägt. Es sind Spuren der Benutzung durch eine gottesdienstliche Gemeinde, aber auch Spuren der Inbesitznahme durch Christus, der in den Gottesdiensten gegenwärtig wird. Und je intensiver und dichter diese Spuren des Gottesdienstes, des Gebetes und der Christusgegenwart in einem Kirchenraum sind, umso machtvoller wird dieser Raum. Er ist wie mit Kraft aufgeladen. Heiliger Raum bezeichnet nach evangelischem Verständnis dann einen Raum, der der kontinuierlichen Gottesbegegnung der Gemeinde dient und von diesem Geschehen durchdrungen ist. So stark durchdrungen, daß selbst der touristische Besucher außerhalb der Gottesdienste etwas in diesem Raum spüren und aufnehmen kann. Heiliger Raum meint damit, zu Christus gehörig, für ihn vorbehalten und für ihn ausgesondert zu sein, als Ort der Gemeinschaft der Heiligen, zu der alle Getauften gehören. Ein Kirchenraum erzählt seine Gottesdienst- und Gebetsgeschichte. Für den, der die Christus-Spuren zu lesen vermag, wird Christus im Raum wieder gegenwärtig. Ein heiliger Raum ist ein Raum, mit dem ehrfürchtig umzugehen ist, weil in ihm Spuren aufbewahrt sind, mit deren Hilfe der auferstandene Herr der Kirche gegenwärtig werden will.
Dieser Eigenwert des evangelischen Kirchenraumes über die konkrete gottesdienstliche Nutzung hinaus für die persönliche Glaubensgestaltung wird derzeit in der Kirchenpädagogik-Bewegung neu entdeckt und geschätzt. Evangelische Kirchenräume stellen dabei für Schulklassen und touristische Besucher spirituelle Potentiale dar, deren gezielte Erschließung durch kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor allem in den neuen Bundesländern augenblicklich einen weitaus größeren Personenkreis als die in ihnen gefeierten Gottesdienste erreicht.
Literatur: Klaus Raschzok, Der Feier Raum geben. Zu den Wechselbeziehungen von Raum und Gottesdienst, in: Thomas Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Münster 1998, 112-135; Klaus Raschzok/Reiner Sörries (Hg.), Geschichte des protestantischen Kirchenbaus, Erlangen 1994.
Quelle: Michael Meyer-Blanck/Walter Fürst (Hrsg.), Typisch katholisch – typisch evangelisch. Ein Leitfaden für die Ökumene im Alltag, Rheinbach: CMZ, 2003, S. 178-183.