Von Jürgen Roloff
1.Zum Begriff
Der Begriff Gemeinde hat sich im Deutschen, neben Kirche, als Wiedergabe von (griech.) ἐκκλησία eingebürgert. Maßgeblich dafür war Luther, der in seinem Neuen Testament konsequent ἐκκλησία mit »Gemeinde« übersetzte, weil ihm das Wort »Kirche« undeutlich und mißverständlich erschien, während er in »Gemeinde« die biblischen Aspekte der Versammlung von Menschen und der gegliederten Gemeinschaft angedeutet fand. Luther hat jedoch auf die Dauer das Wort »Kirche« nicht verdrängen können. In der heutigen Theologie ist vielmehr eine Unterscheidung üblich geworden, die sich vom Neuen Testament her nicht semantisch, allenfalls ein Stück weit sachlich, begründen läßt und die, weil in andere Sprachtraditionen kaum vermittelbar, ökumenisch problematisch ist: Gemeinde ist demnach die konkrete örtliche Versammlung der Christen, »Kirche« dagegen das Volk Gottes als universale Größe und in seinen überörtlichen Organisationsformen.
2. Die Anfänge
Schon in seinen Anfängen hat sich das werdende Christentum vorwiegend in örtlichen Gemeinden organisiert, wobei das Modell der Synagogengemeinden von Einfluß war: Diese ist ein der gemeinschaftlichen Lehre und dem Gebet dienender örtlicher Zusammenschluß ohne eigenständige theologische Relevanz. Maßgeblich für Israels Selbstverständnis blieb, wenigstens vor 70, die Ausrichtung auf Jerusalem als das alleinige kultische Zentrum. Analog blieben auch die ersten christl. Gemeinden nach Jerusalem ausgerichtet. Die dortige Gemeinde verstand sich nicht als lokale Größe, sondern als Mitte des durch den Heiligen Geist zu sammelnden endzeitlichen Gottesvolkes. Die von ihr schon früh gewählte Selbstbezeichnung »ἐκκλησία Gottes« (1 Kor 15,9) ist Ausdruck eines zugleich universalen und eschatologischen Selbstverständnisses, denn sie meint das endzeitliche Aufgebot Gottes, die Versammlung des Gottesvolkes in seiner endzeitlichen Gesamtheit.
1.3. Paulus
Es war Paulus, der die örtliche Gemeinde als fundamentale theologische Größe gedeutet und damit wirkungsgeschichtlich den Grund dafür gelegt hat, daß bis heute in nahezu allen Kirchen die Ortsgemeinde als unaufgebbare Lebensform der Christen gilt. Die Ansätze dafür liegen gleichermaßen in Christologie, Sakramentsverständnis, Pneumatologie und apostolischem Selbstverständnis des Paulus. Christus hat durch sein Sterben die Unheilsmächte, vorab das Gesetz, überwunden (Gal 3,13; 4,5); als der von Gott Auferweckte ist er der Anfang der endzeitlichen Schöpfung Gottes. Die ihm Zugehörigen haben bereits jetzt an dieser neuen Lebenswirklichkeit Anteil (2 Kor 5,17), nicht in der Weise eines individuellen Heilsbesitzes, sondern als Eingegliederte in einen von Christus geprägten, von seiner Macht bestimmten sozialen Lebensbereich: Sie sind »in Christus« (Phil 2,5; Gal 3,28). Noch wichtiger fast als die Taufe, in der die Unterstellung unter die Macht Christi erfolgt (Gal 3,27), ist das Abendmahl für das paulinische Verständnis von Gemeinde: Durch den gemeinsamen Empfang der Gabe, deren Inhalt der sich selbst für »die Vielen« dahingebende Herr ist, werden diese »Vielen« zusammengebracht zu einer Gemeinschaft, in der die erneuernde Macht dieses Herrn bestimmende Lebenswirklichkeit ist, sie werden »ein Leib« (2 Kor 10,17). Von daher ist die Gemeinde »Leib Christi«, ein lebendiger Organismus, dessen vielfältige Lebensfunktionen in der Weise einander zugeordnet sind, daß die in Christus gegebene endzeitliche Lebenswirklichkeit zeichenhaft Gestalt gewinnt (1 Kor 12,12). Wesentlich für die Gemeinde ist, daß sie »zusammenkommt« zum Gottesdienst (1 Kor 14,23). Durch das, was sie hier in Wort und Sakrament empfängt, wird sie das, was sie ist: Lebens- und Zeugnisgemeinschaft, in der Menschen nicht mehr übereinander herrschen, sondern einander nach der Weise Jesu dienen (Gal 5,13), und in der die befreiende Macht des Evangeliums sich in der Überwindung aller zwischenmenschlichen Unterschiede und Schranken erweist (Gal 3,28). Im Bild des »heiligen Baues« stellt Paulus den pneumatischen Aspekt der Gemeinde heraus. Sie ist Gottes endzeitlicher Tempel, den der Heilige Geist erbaut, in dem er wohnt und über dessen Heiligkeit und Reinheit er wacht (1 Kor 3,16). Deshalb unterstellt Paulus Gemeindeglieder, die, diese Heiligkeit und Reinheit mißachtend, unbußfertig in der Sünde verharren, Sanktionen des Geistes (1 Kor 5,1–13). Die Gründung von Gemeinden ist Ziel des apostolischen Auftrages (Röm 1,5) und zugleich Kriterium für dessen Erfüllung (2 Kor 10,13–16). Denn das Evangelium, dessen Träger und Repräsentant der Apostel ist, ist machtvolles, auf leibhafte Manifestation drängendes Geschehen. Weil die jeweilige örtliche Gemeinde solche Manifestation des apostolischen Evangeliums ist, darum ist sie auch ἐκκλησία im vollen Sinne; sie wird dazu nicht erst, indem sie sich als Teil und Darstellung einer (etwa in Jerusalem repräsentierten) Gesamtkirche versteht. Für Paulus ist zwar die überörtliche Dimension von ἐκκλησία wichtig, wie seine Jerusalemkollekte zeigt; aber sie besteht einzig in der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe zwischen den einzelnen örtlichen Versammlungen, in denen jeweils das Wesen von Gemeinde konkrete Gestalt gewinnt.
Diese Konzeption des Paulus wurde bereits im Deuteropaulinismus modifiziert. So sind die ekklesiologischen Aussagen des Kolosser- und Epheserbriefes an der ἐκκλησία als übergreifender, weltweiter heilsgeschichtliche Größe interessiert, während die Bedeutung der Einzelgemeinde zurücktritt.
Lit.: Dahl, N.A.: Das Volk Gottes, Oslo 1941 – Manson, T.W.: The New Testament Basis of the Doctrine of the Church, JEH 1 (1950) 1–11 – Murphy, J.L.: The Use of »Ekklesia« in the New Testament, AEcR 140 (1959) 250–259. 325–332 – Pfammatter, J.: Die Kirche als Bau, Rom 1960 – Schnackenburg, R.: Die Kirche im Neuen Testament, Freiburg 1961 – Schrage, W.: »Ekklesia« und »Synagoge«, ZThK 60 (1963) 178–202 – Hainz, J.: Ekklesia, Regensburg 1972 – Holmberg, B.: Paul and Power, Lund 1978 – Klaiber, W.: Rechtfertigung und Gemeinde, Göttingen 1982 (ausführliche Bibliographie).
EKL3, Bd. 2/4 (1988), Sp. 46-48.