Gerhard Sauter, ‚Sinn‘ und ‚Wahrheit‘. Die ‚Sinnfrage‘ in religionstheoretischer und theologischer Sicht (1977): „Wenn nun gesagt wird, die Sinnfrage sei eine heidnische Frage, dann soll dies nicht nur heißen, daß die Theologie für die Beantwortung dieser Frage nicht zuständig sei, sondern die Frage selber wird als illegitim behandelt. Die Theologie hat nicht nur keine Antwort darauf zu geben, sondern die Frage selbst in Zweifel zu ziehen.“

„Sinn“ und „Wahrheit“. Die „Sinnfrage“ in religionstheoretischer und theologischer Sicht

Von Gerhard Sauter

Das Wort „Sinn“ ist aufklärungsbedürftig geworden. Es begegnet uns in einer fast schon unübersehbaren Anzahl von Wortverbindungen, die alle­samt voraussetzen, es sei deutlich, was mit „Sinn“ gemeint sein kann: Sinnhaftigkeit, Sinngehalt, Sinnkonstitution, Sinndeutung, Sinnfindung, Sinngebung, Sinnstiftung, Sinnvertrauen, Sinnfragen und Sinnkrise – die beiden letzten Bezeichnungen sind bereits in die Grundsatzprogramme der beiden großen deutschen Parteien eingegangen. Wir haben uns inzwi­schen schon so sehr an die Konjunktur des Wortes „Sinn“ gewöhnt, daß man sich nur noch selten die Mühe gibt, genau zu sagen, weshalb von „Sinn“ die Rede ist, und daß ebensowenig versucht wird, jeweils nach der unverwechselbaren Bedeutung des Wortes zu fragen, um es auch um­schreiben zu können. Doch gerade die Vielfalt gebräuchlicher Assoziatio­nen muß zu bedenken geben, warum „Sinn“ auch frag-würdig sein kann. Das Wort „Sinn“ muß nicht zuletzt dafür herhalten, Begriffe verfließen zu lassen, die genau gegeneinander abgegrenzt sind und deshalb einen präzi­sen Sprachgebrauch erfordern. Dafür ein Beispiel: In einer amerikani­schen Publikation wird von „values“ gesprochen – der Übersetzer setzt dafür „Sinn“ ein; wo von „working with values“ die Rede ist, heißt es im Deutschen „Sinnfindung“[1]. Offenbar läßt sich die Beziehung zu Werten und Normen hierzulande nur „verkaufen“, wenn der Eindruck erweckt wird, man werde zu letzten, umfassenden Fragen hingeführt oder ein Ver­lust sei wieder wettzumachen.

Diese nur an einigen wenigen Sprachbeobachtungen aufgezeigte Vieldeu­tigkeit des Wortes „Sinn“, die mit Undeutlichkeit gepaart ist, läßt umso mehr aufmerken, als dieser Sprachgebrauch offensichtlich noch ziemlich jung ist. Das Grimm’sche Wörterbuch verrät, daß unsere Vorväter den heute üblichen ausgedehnten Gebrauch des Wortes „Sinn“ noch nicht ge­kannt haben. Sie konnten wohl auf die oben auswahlweise genannten As­soziationen noch gar nicht vorbereitet sein, weil „Sinn“ für sie nur ele­mentar anthropologisch (als Bezeichnung für die Organe der Wahrneh­mung) und hermeneutisch (als „Sinn“ eines Wortes oder Textes, also bezo­gen auf „Bedeutung“[2]) zugänglich war[3]. Von einer „Sinnfrage“ ist hier noch gar nicht die Rede; auch fehlt noch ganz das Räsonieren über „sinn­loses“ und „sinnvolles“ Tun oder entsprechende Erfahrungen, es sei denn, ein Satz sei als sinnvoll oder sinnlos zu beurteilen.

Vermutlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Sprach­entwicklung zu verfolgen, mit deren Hintergründen wir uns noch später (in III) befassen müssen. Ihr vorläufiges Resultat läßt sich so kennzeich­nen:

  • Zu den bisher geläufigen Bedeutungsmöglichkeiten, die auf die Natur des Menschen und auf seine sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten bezogen waren, tritt „Sinn“ als Handlungsorientierung. „Sinn“ meint, was „Handeln“ intendiert, woran es sich hält und wonach es sich richtet.
  • „Sinn“ heißt das, worauf sich eine Gegebenheit bezieht bzw. worauf sie bezogen ist und wodurch sie mitgeteilt werden kann[4].
  • „Sinn“ heißt schließlich der Zusammenhang, das Ganze (deshalb auch in den Wortverbindungen: Sinnzusammenhang, Sinnganzes, Sinntotali­tät), wenn Phänomene, Handlungen, Texte in unabsehbare Beziehungen gleichsam verwoben sind, von denen her sich das Einzelne überhaupt erst wahrnehmen und feststellen läßt. So wird „Sinn“ geradezu zur Kategorie für Wirklichkeit. In dieser umfassenden Bedeutung hat die sog. „Sinnfra­ge“ ihren Platz. Wir können auch umgekehrt sagen: Die Sinnfrage be­schränkt die Verwendung des Wortes „Sinn“ auf die Einordnung von Phä­nomenen, freilich mit dem Anspruch, damit das Höchste und Letzte des­sen zu sagen, was überhaupt begriffen werden kann. Deshalb gilt die Sinnfrage als die religiöse Frage katexochen – und Religion ist in diesem Verständnis nichts anderes als Entfaltung der Sinnfrage.

I

Welchen Sinn hat es also, von „Sinn“ zu reden? Diese Frage ist zu stellen, um wenigstens das Notwendigste an sprachlichen Unterscheidungen auf­rechtzuerhalten, ohne die von „Sinn“ gar nicht mehr spezifisch gespro­chen werden kann und ohne die auch die „Sinnfrage“ eine Chimäre würde.

Die wichtigste dieser sprachlichen Unterscheidungen scheint mir die zwi­schen dem Sinn von Handlungen (d.h. ihrer Sinnhaftigkeit) und der Sinn­erfülltheit zu sein, die „sinnvoll“ und „sinnlos“ entgegenzusetzen erlaubt. Für die Unterscheidung zwischen „Sinn“ (als Merkmal mitteilbarer Hand­lungen) und dem Zusammenhang, der Thema der Sinnfrage ist, gibt es ei­nen biblischen Anhaltspunkt, der uns weiterführen kann und der im übrigen trotz der zeitlichen Entfernung sachlich durchaus nicht überholt ist. In einem Text der alttestamentlichen Weisheitsliteratur findet sich eine Meditation über die „rechte Zeit“, den Kairos, die als eine Umschreibung der Erfahrung von Kontingenz und als eine Reflexion über diese Erfah­rung auszulegen ist: Koh 3,1-11[5].

Alles hat seine bestimmte Stunde,
jedes Ding unter dem Himmel hat seine Zeit:
Geboren werden und Sterben
Pflanzen und Ausreißen
Töten und Heilen
Weinen und Lachen
Suchen und Verlieren
Schweigen und Reden
Lieben und Hassen
Krieg und Frieden.

Ich habe aus dieser Aufzählung nur die wichtigsten der genannten Gegen­satzpaare herausgegriffen, deren Umriß die für das menschliche Dasein disponierte Welt enthält, indem er die alltäglichsten Handlungen ebenso wie den Eintritt ins Leben und den Tod einbegreift. Gemeint sind damit keine einander entgegengesetzten Entscheidungsmöglichkeiten, keine Ge­genstände menschlicher Wahl, die je zu ihrer Zeit, d.h. zu dem für sie gün­stigen oder gar determinierten Zeitpunkt, nicht versäumt werden dürfen. Dies alles mag im einzelnen auch im Blick sein, doch gilt es beispielsweise nicht für den eingangs genannten Gegensatz von Geburt und Tod, der ja keiner Entscheidung zugänglich ist. Aber beides sind „Möglichkeiten“, die mit Handlungsmöglichkeiten gemein haben, daß sie sich gegenseitig aus­schließen. Eben dies soll ausgesprochen werden: Jedes Handeln schließt unvermeidlich das Gegenteil seines Sinnes aus, jedes Handeln ist – nicht schon in der ethischen Reflexion, sondern im Vollzug – die Negation seines Gegensatzes. Dadurch, durch den Ausschluß dessen, was zwar möglich, aber jetzt durch die Wirklichkeit seines Gegensatzes unmöglich ist, be­stimmt sich jedes Handeln – und bestimmt sich, blicken wir auf Geburt und Sterben, auch jedes Erleben. Wenn ich weine, kann ich nicht zugleich lachen, wobei dieses „Können“ nur zum geringsten Teil von meinem bewußten Wollen oder gar von einer gezielten Entscheidung herrührt. Und wenn Krieg geführt wird, vielleicht um zu einer anderen, „rechten“ Zeit Frieden zu schließen, dann ist der Frieden zur Zeit des Krieges ausge­schlossen, was die Frage, ob es jetzt „rechte“ Zeit für den Krieg ist, nur noch dringlicher stellen läßt.

Darum läßt das Bestimmtsein, das jedem Erleben und jedem Handeln zu­gehört und auf dem die konkrete Zeitlichkeit jedes Lebensvollzuges be­ruht, nach der Wahl der rechten Zeit fragen im Blick auf die jeweils ausge­schlossene, aktuell verneinte Gegenmöglichkeit. Wichtig ist dabei nicht nur die Einsicht, daß jede Wahl das Gegenteil des Entschiedenen aus­schließt, sondern auch, daß das Gegenteil „möglich“ ist. Möglich bleibt es in einem Zusammenhang, der das faktische Erleben und Handeln und sein Gegenteil enthält, der deshalb Wiederholungen erlaubt und ein andermal eine andere Wahl zuläßt.

Damit treten wir aus der bisher geschilderten Welt der Möglichkeiten her­aus, in der Erleben und Handeln zunächst nur als sinnhaft festgestellt zu werden brauchen: eben durch die Negation der je ungegenwärtigen Mög­lichkeit. Die Frage nach der rechten Zeit des Handelns, aber auch des Er­lebens, das auf unsere Handlungen Einfluß nimmt, geht einen Schritt wei­ter- den Schritt, der die verschiedenen Möglichkeiten (und zwar nicht nur die jeweils entgegengesetzten Möglichkeiten, sondern die Möglichkeiten insgesamt) im Zusammenhang sieht. So sagt es der „Prediger“: „Ich sah die Plage, die Gott verhängt hat, daß die Menschenkinder sich damit ver­geblich abmühen. Alles hat er gar schön gemacht zu seiner Zeit, auch den olam hat er ihnen ins Herz gelegt – nur daß der Mensch das Werk Gottes von Anfang bis zu Ende nicht fassen kann.“ (V. 10f) Ich übersetze „olam“ nicht – wie meistens üblich – mit „Ewigkeit“, sondern mit „Zusammen­hang“, so daß sich dieser Textsinn ergibt: Die Menschen haben zwar eine Ahnung von dem Zusammenhang aller Dinge zu ihrer rechten Zeit, näm­lich ihrer Bestimmtheit im Zusammenhang des Wirkens Gottes – aber die­sen Zusammenhang, und d.h.: die Kongruenz des bestimmten Handelns Gottes mit unserem bestimmten Handeln, können wir weder für den Ein­zelfall noch im ganzen dieses Zusammenhanges (von Anfang bis zu Ende) ermessen.

Es genügt also nicht mehr, ein bestimmtes Erleben und Handeln als wirk­lich wahrzunehmen, indem sein ungegenwärtiges Gegenteil faktisch ne­giert wird. Jetzt wird darüber hinaus nach dem Lebenszusammenhang ge­fragt, in den unser Erleben und Handeln einbezogen ist. Wir stoßen auf ein Gegenüber, eine Begrenzung unseres Lebens durch die für jedes Erleben und Handeln bestimmende „rechte Zeit“, die zur Zeit insgesamt in Bezie­hung steht, und zwar nicht zu irgendeinem Zeitverlauf, sondern zur Zeit Gottes, zu der sinn-erfüllten Zeit („Kai­ros“). Auf diese zeitliche Bestimmt­heit, den Ort des Zeitmomentes im Zusammenhang der Zeit, richtet sich jetzt die Frage. Es genügt offensichtlich nicht mehr, im konkreten Erleben und Handeln die jeweilige Gegenmöglichkeit verborgen präsent zu halten.

Für die Reflexion auf die „rechte Zeit“ bleiben beide Möglichkeiten zu­gleich überschaubar, sie können als Möglichkeiten ausgesprochen werden, und dadurch wird das jeweilige Erleben und Handeln mit Nicht-Erleben und Handlungsentzug verbunden. Erst so erscheint die „Welt des Mögli­chen“ aufgefüllt, und ihr gegenüber muß das jeweilige Erleben und Han­deln gerechtfertigt werden. Jeder Lebensmoment wird nun in den Zusam­menhang gestellt, der alles enthält, was möglich ist.

Doch an dieser Stelle hält der Prediger inne. Er gesteht zwar ein, daß ihm dieser Zusammenhang aller Dinge nicht unbekannt ist, aber er kann die­sen Zusammenhang nicht überblicken und darum die Einordnung seines Erlebens und Handelns in ihn nicht vollziehen. Sein Handeln vermag er durch solche Einordnung nicht zu deuten. Er muß sich darauf beschrän­ken, die Bestimmtheit seiner Handlungen durch den Ausschluß des Nur-Möglichen wahrzunehmen und zu verstehen. Aber er kann sie nicht insge­samt rechtfertigen, indem er sie auf die „rechte Zeit“ in den Augen Gottes zurückführt. Diese Rechtfertigung wird allein Gott anheimgestellt. Was dem Menschen zukommt, ist die Freude, die sich dann einstellt, wo er un­befangen erkennt, daß das aktuell Wirkliche zugleich das Gute ist – und dieses „weiß* er allein vermöge des Zusammenhanges aller Dinge mit dem Wirken Gottes, ohne im Einzelfall die Welt in eine Zone des Guten und in einen Bereich des Bösen aufteilen zu können. Es ist ihm verwehrt, und er versagt es sich, einzelne Lebensmomente aus der ihm zugänglichen Welt auszugrenzen und dadurch die Welt zu zerspalten.

In unserer Paraphrase von Kohelet 3 sind wir auf die Unterscheidung zweier Bedeutungen von „Sinn“ gestoßen, die wir eingangs nannten: Sinn ist ein­mal die mitteilbare Bestimmtheit z.B. von Handlungen, zum anderen läßt sich mit „Sinn“ das Ganze bezeichnen, in das alles Mögliche und Wirkli­che, das zunächst unterschieden werden muß, eingeordnet werden kann und dann sozusagen zur Disposition steht. Die erste Bedeutung von „Sinn“ möchte ich jetzt Sinnhaftigkeit nennen und die zweite Wortbedeutung der Sinnfrage zuweisen, die zwischen Sinnvollem und Sinnlosem unterschei­det und nur noch das Sinnvolle als wirklich gelten läßt. Kohelet bleibt bei der Feststellung des Sinnhaften stehen. Er kennt zwar die Sinnfrage, läßt sich aber nur soweit auf sie ein, als er die Aporie der Rechtfertigung seines Lebens ausspricht. Diese Rechtfertigung kann von ihm nicht mehr vollzo­gen werden. Was dies besagt, wird uns später (in IV und VII) beschäftigen; zuvor ist aber die eben getroffene Unterscheidung der beiden Bedeutun­gen von „Sinn“ noch zu vertiefen.

II

Wir treffen auf den Unterschied von Sinnhaftigkeit und Sinnerfülltheit, wenn gefragt wird: Was ist Handeln? Diese Frage hat sich, phänomenolo­gisch gesehen, schon sehr früh gestellt, wie Kohelet zeigt. Als Frage nach dem telos jedes Handelns ist sie – vor aller Nachfrage nach Werten und Normen – von Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ erörtert worden, und Aristoteles hat bereits die vielseitige Zuordnung des Handelns bedacht[6]. Wissenschaftsgeschichtlich hat sich indessen erst die neuere So­ziologie der Beschreibung von Handlungen in Verbindung mit dem Sinn­begriff ausdrücklich angenommen. Die Soziologie hat allerdings auch den Unterschied zwischen Sinnhaftigkeit und Sinnerfülltheit weitgehend ver­wischt – und sie wird eben deshalb zum Anwalt der Sinnfrage, weil sie nicht nur einzelne Handlungen in ihrer mitteilbaren Sinnhaftigkeit be­schreibt, sondern dies häufig allzu rasch mit der Frage verquickt, ob diese Handlungen als sinnvoll anzusehen sind oder nicht. Damit kommt sie ei­ner Zeitbestimmung entgegen, für die eine solche Eingrenzung von Hand­lungen als sinnvoll (im Gegensatz zum Erleben von Sinnlosigkeit und der Reflexion darauf) eine sozial höchst bedeutsame Rolle spielt.

Demgegenüber wollen wir uns darauf besinnen, daß jedes Handeln als ein sinnhaftes festgestellt und verstanden werden kann. Aristoteles hat prohairesis, praxis und techne voneinander abgehoben, um sie allesamt als Handeln beschreiben zu können[7]. Jedes Handeln ist als sinnhaft zu verste­hen, weil es sein telos in sich selber trägt. Es muß gar nicht immer mit beson­deren Zwecken verbunden sein, von denen es sich ausdrücklich unterschei­det und auf die es gerichtet ist. Es kann auch seinen Sinn „in sich selber tragen“, weil es geschehen kann, wie es geschieht. Wenn ich mich z.B. auf einen Stuhl setze, ist das ein sinnhaftes Handeln. Erst bei genauerer Ana­lyse wird deutlich, welche Fülle von Momenten (Wirklichkeitsannahmen, Erwartungen usf.) in diesem Akt zusammengeschlossen sind. Und dieses Handeln ist zu verstehen, d.h. es wird als bestimmte Handlung von mir und von anderen aufgefaßt, jedenfalls von anderen Menschen, die das gleiche vollziehen können. Es ist – ohne großen Anspruch auf besondere Bedeu­tung – verständlich.

„Sinnhaftigkeit von Handlungen“ ist also, phänomenologisch betrachtet, eine Tautologie. Sinnhaftigkeit bringt nichts zu einer Handlung hinzu. Aber in dem Moment, wo die Mitteilungsqualität dieses Sinnes von ande­ren nicht mehr verstanden wird oder anders verstanden wird, kann und muß nach der Sinnhaftigkeit ausdrücklich gefragt werden. Dies ist das hermeneutische Geschäft der Soziologie. Gordon D. Kaufmann beschreibt im Anschluß an Ludwig Wittgenstein die verschiedenen Verweisungen ei­nes nicht mehr eindeutig identifizierbaren Handelns, indem er aufzählt, was ein Holzfäller, den er beobachtet, „eigentlich“ tut, d.h. welches telos sein Handeln haben könnte[8]. Ich setze dieses Beispiel fort: Bonifatius hat die Donar-Eiche gefällt, um einen Gott als Götzen zu entlarven. Sein Han­deln war für seine Zeitgenossen unmittelbar verständlich. Wenn jedoch heute jemand einen Altar in einer christlichen Kirche zerstört, ist dies bei aller vordergründigen Ähnlichkeit keine vergleichbare Handlung, weil das telos ein anderes ist. Es wäre demnach müßig, zu erwägen, ob Bonifa­tius nicht aufklärerisch und religionskritisch genug war, als er die Präsenz eines Gottes widerlegte und damit zugleich die Demonstration „seines“ Gottes verband. – Die Auslegung der Verweisung eines Handelns auf das, Was mit ihm verständlich wird, deckt also den sozialen, kulturellen und religiösen Kontext auf, in dem dieses Handeln seine Referenz besitzt und demzufolge zu verstehen ist. Diese Phase bleibt auch dann noch bestehen, wenn diese Referenz strittig wird. Das geschieht, wenn der ursprüngliche soziale Kontext verlassen wird; die bisherige Referenz kann sich auch ver­ändern oder erweitern. Die Grenze solcher Feststellung von Sinn ist erst dann erreicht, wenn ein Handeln überhaupt keine Referenz mehr erken­nen läßt, d.h. wenn es beliebig geworden ist und nichts Bestimmtes mehr besagt. Dann erscheint es als „sinnlos“ – und nun kommt die „Sinnfrage“ ins Spiel. Die Sinnfrage kann aber auch umgekehrt entstehen, wenn der in einem bestimmten sozialen Rahmen als selbstverständlich akzeptierte „Sinn“ (das telos von Handlungen) einer bestimmten Handlung nicht mehr zugeordnet werden kann, so daß sie sozusagen „aus dem Rahmen“ fällt. Der gleiche Effekt kann schließlich dann eintreten, wenn Handlungen nicht mehr in bezug auf ein bestimmtes telos zu unterscheiden sind, bei­spielsweise wenn es heute heißt: „Jeder Mensch braucht soziale Anerken­nung, aber es ist gleichgültig, mit welcher Tat er dies erreicht.“ Beliebig gewordenes Handeln ist zwar immer noch sinnhaft, aber es ist im Blick auf ein bestimmtes telos, das mit ihm verbunden wird, nicht mehr zu iden­tifizieren, und das heißt: es ist sinnlos geworden.

Diese Auflösung der hermeneutischen Zuweisung sinnhaften Handelns ist heute allgegenwärtig. In dieser Lage meldet sich das Bedürfnis, die Hand­lungen, deren Sinnhaftigkeit nicht mehr – zumindest nicht mehr sozial be­ziehungsreich – verständlich ist, von neuem als sinnhaft festzustellen. Ei­ne solche hermeneutische Anstrengung, die über die „normale“ Explika­tion der Sinnhaftigkeit einer Handlung nicht nur hinausgeht, sondern phänomenologisch und soziologisch von ihr verschieden ist, nennen wir Sinngebung oder Sinnstiftung. Die heutige Soziologie ist weitgehend mit dieser Sinngebung beschäftigt, indem sie noch vorhandene Sinnstiftungen ins Licht rückt oder für verlorengegangenen Sinn andere Sinndeutungen reaktiviert und damit selbst schon als Sinnstifter tätig wird. Zugleich ist sie zwangsläufig daran interessiert, den Prozeß der Identifikation und der Hermeneutik des elementaren Handlungssinns zu rekonstruieren und des­halb nach dem „Sinn des Handelns“ ausdrücklich zu fragen. Dieser Sinn muß von der Sinnhaftigkeit jeder Handlung scharf unterschieden werden, denn er thematisiert die hermeneutische Referenz von Handeln überhaupt in Beziehung zur Wirklichkeit als ganzer; gefragt wird also, wie „Sinn“ überhaupt zustande kommt, gefragt wird demnach nicht mehr nur sozio­logisch, sondern philosophisch nach der Konstitution von Sinn.

Beispiele für diese Rekonstruktion sind die Wissenssoziologie, wie sie mit anderen Peter L. Berger vertritt, und die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Berger schreibt: „Die wichtigste Funktion der Gesellschaft ist Nomisierung, das Setzen verbindlichen Sinns. Die anthropologische Vorausset­zung dafür ist das Verlangen des Menschen nach Sinnhaftigkeit, das of­fenbar die Kraft des Instinktes besitzt. Der Mensch wird mit einem zwanghaften Drang geboren, der Wirklichkeit sinnhafte Ordnung zu ge­ben.“[9] Dieses Zitat zeigt, daß die hier gemeinte „Sinnhaftigkeit“ nicht nur mehr, sondern etwas anderes bedeutet als der von uns oben gekennzeich­nete Handlungssinn. Die von Berger gemeinte Sinnhaftigkeit des indivi­duellen und des sozialen Handelns soll das Sinnlose ausscheiden, um eine Wirklichkeit erfahren zu können, die den Rahmen für das bildet, was als „sinnvoll“ gelten kann. Dieser Rahmen ist aber nicht mehr das Referenz­system, das in jeder Auslegung von Handlungen immer schon mitgemeint ist und das sicherlich als sozial bedingt und insofern auch als historisch veränderlich gelten muß. Es geht jetzt vielmehr um die „Erstellung“ der Welt als eines Ganzen, an der die „Gesellschaft“ beteiligt ist. Dies ist aber m.E. erst eine Konstellation am Ende der Neuzeit, in der bemerkenswerter­weise gerade die Soziologie von den konkreten, begrenzten sozialen Grup­pen um der „Gesellschaft“ willen absieht bzw. soziale Gruppen nur noch als Teilsysteme dieser Gesellschaft zur Kenntnis bringt. Dann kann aber zwischen „sinnhaft“ und „sinnvoll“ gar nicht mehr semantisch unterschie­den werden, weil alles das, was die imaginär-totale „Gesellschaft“ als sinnhaft auszulegen vermag, zugleich auch als sinnvoll gelten muß, weil alles weitere zuvor ausgegrenzt worden ist. Mit anderen Worten: Was nicht unter dem Diktat dieser Gesellschaft verständlich ist, kann letzten Endes auch gar nicht mehr beschrieben werden.

Ähnliche Konsequenzen lassen sich bei Luhmanns Einführung von „Sinn“ als Grundbegriff der Soziologie beobachten[10]. Luhmann beachtet zwar noch unter dem Einfluß der Phänome­nologie durchweg die Doppelbedeu­tung der „Konstitution“ von Sinn: als sinnhafte Beschaffenheit von Phä­nomenen oder Handlungen einerseits und als bestimmte konstituierende Akte menschlicher Weltbegegnung andererseits. Beides scheint aber bei der Kategorie „Kontingenzbewältigung“ ineinander zu verfließen, mit der Luhmann die Konstitution der wirklichen Welt (des „Systems“) zu erfas­sen sucht[11]. Luhmann meint, daß erst durch den Akt der Bewältigung von Kontingenz (d.h. dessen, was ist, weil es da ist, obwohl es auch nicht sein könnte) die Wirklichkeit erfahren oder (besser gesagt:) erlebt wird. In die­sem grundlegenden Erleben sind Passivität und Aktivität noch nicht un­terschieden. Kontingenzbewältigung ist nach Luhmanns Ansicht für die Selbsterhaltung sozialer Systeme lebenswichtig. Erst wenn die Konstitu­tion des Gesamtsystems „Gesellschaft“ nur mehr durch soziale Teilsyste­me wahrgenommen werden kann, geht Kontingenzbewältigung in die Sinnstiftung über, durch die Gruppen oder einzelne eine geordnete, trag­fähige Welt erfahren gegenüber anderen, die in Sinnlosigkeit versinken.

Luhmanns Theorie wird häufig so verstanden (und, wie ich meine, mißverstanden), als müsse durch Deutung von überraschenden, unbegreiflichen oder beziehungslos gewordenen Erfahrungen dem brüchig gewordenen Leben wieder Sinn verliehen werden. Einzelne Menschen oder Gemein­schaften, die aus der Bahn des Gewohnten geworfen worden sind, müßten einen undurchschaubaren Eindruck der Wirklichkeit wieder verarbeiten lemen. Kontingenzbewältigung gilt dann als eine spezifische Handlungsweise, besonders im Namen der Religion, die inmitten oder gegenüber der Gesellschaft die Aufgabe hat, für das „Sinnvolle“ einzustehen[12].

Doch auch hier wird – wenn wir Luhmann folgen – Wirklichkeit ur­sprünglich erlebt, nicht durch Handeln geprägt, wie es der mißverständliche Ausdruck „Kontingenzbewältigung“ nahelegen könnte. Luhmanns Grundprinzip sollte eher darauf aufmerksam machen, daß die Lebenswelt eben nicht auf Handeln zurückzuführen ist – wider die heute vorherr­schende Meinung, die auch die Äußerungen der Religion zu Aktivitäten umwertet. Religion hat indessen für Luhmann nicht nur die „Funktion“, unsere Handlungen in die Grenzen des Erlebens zu weisen. Sie soll vor al­lem der Gesellschaft helfen, keine Lebensmöglichkeiten zu vergessen. Luhmanns religionstheoretische Anregungen scheinen mir von der Sorge inspiriert zu sein, daß unsere Welt immer kleiner werden könnte, weil die Menschheit bestimmte Gegebenheiten, die sie als kontingente erinnern und erfassen müßte, aus ihrem Gedächtnis verliert[13]. Die Religion hat die­ser Vergeßlichkeit entgegenzuwirken, sie ist eine Art Gedächtnisstütze der Gesellschaft, sozusagen die Buchhaltung des Lebens in seiner Gesamtheit, der nichts entgeht und die alles registriert, was in Erscheinung getreten ist.

Ich möchte hier den theologischen Einwand erst andeuten, der es m.E. ver­bietet, die Wahrnehmung des Glaubens als Kontingenzbewältigung zu verstehen: Wenn die Theologie vom Handeln Gottes zu reden hat, dann von „Kontingenz“ in einem anderen Sinne als im eben genannten. Wir er­leben Gottes Handeln als kontingent, weil wir Gott in seiner Freiheit er­warten: keinen anonymen Abgrund der Welt, sondern Gott, den wir anru­fen, in seiner Freiheit, die den uns eingeprägten Notwendigkeiten wider­spricht, ohne Willkür zu sein, weil sie die Verheißung seiner Treue ist. Deshalb ist Gott nicht aus dem Ganzen der Wirklichkeit, die den Bestand unserer Erfahrungen bildet, zu „erheben“. Und darum bedarf es der Un­terscheidungskraft, die Gott und Welt nicht vermischt; es bedarf einer Trennschärfe der Wahrnehmung, die preisgegeben würde, wenn der Glau­be sich als äußerste Anstrengung zur Integration einer Gesellschaft verste­hen müßte, die zweifellos durch Zerstreuung ihres Gedächtnisses gefähr­det ist.

Doch auch unbeschadet dieses theologischen Einspruchs ist zu bedenken, daß sich bei der Ansicht, Religion sei Sinnstiftung, leicht eine optische Täuschung einstellt. Kontingenzbewältigung im letztgenannten Sinne, als ein ausgezeichnetes Verhalten zur Erhaltung der ‚Welt als Gesellschaft‘, läßt sich nicht ohne weiteres aus der Beschreibung von Handlungen in ih­rem mitteilbaren Wirklichkeitsbezug („Sinnhaftigkeit“) heraus entwickeln. Die Formel „Kontingenzbewältigung“ zeigt vielmehr eine Refle­xionsstufe an, die einzelne, besondere Handlungen als sinnstiftend gegen­über anderen auszeichnet. Aber hier ist zu fragen, von welchem Interesse diese Reflexion geleitet ist. Meine These lautet: Dieses Interesse gilt der Reflexivität der Wirklichkeit. Ich meine damit eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung dessen, was ist. Diese philosophische, metaphysische Frage wird von der Soziologie aufgenommen und beantwortet: Soziologie rekonstruiert, wie „Wirklichkeit“ als Wirklichkeit für den Menschen ent­steht und sich selbst begründet. Mit diesem Bemühen setzt sie jedoch nicht bei der elementaren Sinnhaftigkeit von Handlungen an, sondern bei der Sinnfrage, die den Zusammenhang aller sinnvollen Handlungen ergrün­den will. Die Sinnfrage geht über die Orientierungsbedürftigkeit des Men­schen hinaus – die Orientierungsbedürftigkeit, die an dem telos des Han­delns ausgerichtet ist und die zur menschlichen Verfassung gehört. Sie gibt dem Rechtfertigungsbedürfnis Ausdruck, mit dem Menschen ihr eige­nes Dasein legitimieren wollen, wenn sie keine andere Letztberufungsin­stanz für ihr Handeln und Leben mehr kennen[14].

III

Das Rechtfertigungsbedürfnis, das die Sinnfrage hervorruft und sie wi­derspiegelt, entspringt derjenigen historischen Konstellation, die gemein­hin als „Nihilismus“ (Friedrich Nietzsche sagt: christlicher Nihilismus[15]) bezeichnet wird. Und nur mit Rücksicht auf diese Lage ist m.E. auch die vielberedete Sinnfrage geschichtlich und systematisch zu lokalisieren.

Nietzsche wurde zur Schlüsselfigur für diese Konstellation, weil er ihr Ausdruck verliehen und sie zugleich prophetisch gedeutet hat. Er nahm die klassische anthropologisch-physiologisch-ästhetische Bedeutung von „Sinn“ als Wahrnehmungsweise auf und verwies die Philosophie auf die Welt der Sinne. Indem er aber das Geschäft der Philosophie auf die Sinneswahrnehmungen zurückführte, machte er zugleich darauf aufmerk­sam, daß zu den uns bekannten fünf Sinnen weitere hinzugekommen sind: etwa der „historische Sinn“[16] und der ‚Sinn für das Leiden‘, der nicht bloß Schmerzen empfinden läßt, sondern das Leiden am Leiden hervorbringt[17]. Diese Vermehrung unserer Sinne führt nicht nur zu einer Erweiterung un­seres Wahrnehmungsfeldes, sondern die neuen Sinne haben sich derart zu den früheren gestellt, daß sie die anderen sich unterwerfen und sich von ihnen so abheben, daß auch sie selber isoliert untersucht werden können. Der historische Sinn und der Sinn für das Leiden haben gemeinsam, daß sie Deutungen sind, die versprechen, Wahrnehmungen zu sein, ohne dies zu gewährleisten. Deutung, Bedeutsamkeit und Illusion können zwar als gegeben beschrieben, nicht aber mehr letztgültig unterschieden werden: Alle unsere Sinne sind der Täuschung ausgesetzt[18]. Daß Sinne täuschen können, rührt daher, daß sie nicht nur Empfindungen mitteilen, sondern auch produktiv sind. „Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnli­chen, Gleichen, – derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!“[19] Diese Beobachtung verbindet die Physiologie mit der Hermeneutik.

Die Verknüpfung von Sinneswahrnehmungen und Wirklichkeitsdeutung stellt sich für Nietz­sche als ein Entwicklungsprozeß der (abendländischen) Menschheit dar, an dem das Christentum einen entscheidenden Anteil hat und der jetzt zu einer durch das Christentum mitverursachten Weichen­stellung führt, bei der Physiologie und Hermeneutik auseinandertreten. Daraus entsteht die Orientierungslosigkeit des zeitgenössischen Men­schen, die in der Frage nach dem »Sinn des Daseins“ zur Sprache kommt. Der so fragende Mensch kann sich nicht mehr an seiner Orientierungsbe­dürftigkeit genügen lassen, sondern bedarf der Rechtfertigung seines Da­seins, um sich seines Standorts zu vergewissern. Mit diesem Rechtferti­gungsbedürfnis hat sich bisher die christliche Hermeneutik des Lebens beschäftigt, aber die Christenheit ist jetzt mit ihrer Deutungskunst am Ende. „Indem wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stoßen und ihren ,Sinn‘ wie eine Falschmünzerei verurteilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die Schopenhauersche Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? — jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein ge­hört zu werden.“[20] Nietzsche hat mit dieser Prophetie nur insofern unrecht gehabt, als ein paar Jahrzehnte genügten, um die „Sinnfrage“ durchzuset­zen, auch im Hause der Wissenschaften.

Nietzsche hat am Christentum getadelt, daß es den Menschen seiner un­mittelbaren Wahrnehmung der Dinge entfremde und an deren Stelle eine „Welt für den Menschen“ setze, die durch ein Beziehungsnetz von Bedeut­samkeiten gebildet wird. Mittel für diese Weltkonstitution ist der „Sinn“ als das Medium zwischen Mensch und Realität. In dieses Medium hinein wird zunächst die Objektivität der Dinge (auch der Ereignisse, der Ge­schichte usw.) aufgehoben, aber ihm gibt sich auch der Mensch fortschrei­tend preis, indem er sich selber als sinnbedürftiges Wesen kennenlernt: „Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein, d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei. Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält: weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisiert.[21] Daß Nietzsche hier die Sinngebung an seine Metaphysik des Willens bindet, sollte gegenüber der Beobachtung, daß „Sinn“ des Da­seins immer konstituiert werden muß, nicht zu sehr ins Gewicht fallen. „Sinn“ als Medium zwischen den Sinneswahrnehmungen und der Realität bedeutet also, daß Mensch und Wirklichkeit miteinander vermittelt sind. Die Religionstheorie hat dieses Medium mit den Symbolen identifiziert, in denen die alltägliche Realität oder wenigstens Teile von ihr auslegungsfä­hig werden für das Göttliche.

Die Auffassung von Sinn als Medium hat sich in der Folgezeit, vorerst ab­seits der Religionstheorie, auf die Grundlagendiskussion zunächst der Geisteswissenschaften, dann aber auch der Sozialwissenschaften ausge­wirkt. Als ein besonderer Zuständigkeitsbereich für eben dieses Medium hat sich die Hermeneutik entwickelt; dadurch trat sie aus ihrer bisherigen Rolle als Kunstlehre des Verstehens heraus und wurde zur Wirklichkeits­wissenschaft. Hans-Georg Gadamer hat dargestellt, wie die Textherme­neutik zu einer Hermeneutik der Welt ausgestaltet worden ist[22]. In diesen Prozeß hat sich seit Max Weber auch die Soziologie eingefügt und ihn zu­nehmend mehr zu bestimmen versucht: Die „verstehende Soziologie“ schildert das Medium „Sinn“ als eine soziale Konstitution und begnügt sich deshalb nicht, Handlungen nur als sinnhaft zu beschreiben[23]. Wäh­rend sich die Hermeneutik zur Universal Wissenschaft ausdehnte, ist auf Seiten des Empirismus gelegentlich noch versucht worden, die von Nietz­sche gewünschte Verschränkung von Sinneswahrnehmung und Wahr­heitsfrage konsequent zu behaupten: vor allem beim Rekurs auf das „em­piristische Sinnkriterium“ des Logischen Positivismus[24]. Dieser Versuch hat sich indessen, wie man heute rückblickend urteilen muß, als eine redu­zierte Fragestellung erwiesen.

Seit Nietzsche ist schließlich das Bewußtsein lebendig geblieben, daß das Medium „Sinn“ nicht nur aufzufinden, sondern auch aufzubauen sei. Die­ser Aufgabe der Konstruktion der Wirklichkeit (nicht nur ihrer Rekon­struktion!) haben sich verschiedene Wissenschaften gewidmet. In erster Linie ist hier die Geschichtsphilosophie zu nennen, als ihr Sprecher Emst Troeltsch.

Troeltsch ist bestrebt, eine – wie ich sagen möchte: – „Welt-Hermeneutik“ auf wissenschaftlichem Wege zu entwickeln und dadurch eine Sinnwelt aufzubauen. Um die Wissenschaft in diese Aufgabe einzuweisen, führt er zunächst den Nachweis, daß die Institutionen, die bisher „Sinn“ sozial ge­währleistet haben, diese Funktion nicht mehr erfüllen und deshalb für „Sinn“ nicht mehr tragfähig sind. Ihre institutionelle Rolle muß jetzt, so meint er, die Wissenschaft übernehmen, und zwar die Universalwissen­schaft, die als Begründungs- und Letztberufungsinstanz aller Einzelwis­senschaften tätig wird: die Religionsphilosophie. Die Religionsphiloso­phie ersetzt zugleich die Institution „Kirche“, wenn es um die universale Frage nach dem Sinn geht, den nur die Religion, nicht aber begrenzte In­stitutionen, wahrnehmen kann. – Die erste Stufe der religiösen Universal­wissenschaft ist die „Metaphysik der Geschichte“, die Troeltsch so cha­rakterisiert: „Indem sie aus gewissenhafter Versenkung in die Historie und aus der Deutung ihres Sinnes hervorgeht, sucht dieses Urteil die Kon­tinuität und bildet es sie weiter als eine relativ schöpferische Tat.“[25] Aus­gehend von der „empirischen Geschichtsforschung“ soll das Fundament alles geschichtlichen Verstehens in einem Sinn- und Werdezusammenhang gefunden werden, der indessen – als ein geschichtlicher – selber der Fortbildung bedarf und deshalb evolutionär zu erfassen ist[26]. Diese Lei­stung erbringt die Religionsphilosophie, sofern sie „die philosophische Kritik und Einbeziehung des Gottesbegriffes in das Ganze der prinzipiel­len Erkenntnis bedeutet“[27]. – Damit ist das Motiv der Sinnfrage als Frage nach dem „Sinn der Geschichte“ angeschlagen, das die Historismus-De­batte seither begleitet, bis hin zu den Reflexionen über „Sinn“ und „Ziel“ der Geschichte nach den beiden Weltkriegen[28] und zu den universalge­schichtlichen Entwürfen seither[29]; als bezeichnende Formulierung sei Theodor Lessing: „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“[30] genannt.

Der Historismus und die durch ihn ausgelöste Diskussion wird in dieser Hinsicht verständlich als Ausdruck dafür, daß der historische Sinn, den Nietzsche analysiert hat, inzwischen auf der Suche nach seinem Gegen­stand ist.

Eine andere Variante der Bemühung um eine Sinn-Konstitution finden wir in der Sozialphilosophie, etwa in Martin Bubers Auffassung von der „Gewißheit, daß der Sinn des Daseins in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist“[31]. Dieser Sinn ist gehalten in der Ich-Du-Beziehung, zu der der „Du-Sinn des Menschen“ gehört[32]. Die personale Sinn­beziehung ist die Antwort auf die verlorengegangene Frage nach dem „Sinn des Lebens“[33], und dieser Sinn enthüllt sich als der „Sinn der Bezie­hung“[34], nämlich der zwischenmenschlichen, dialogischen Konstitution der Wirklichkeit. Der Sinn der Beziehung, der ursprünglich aus der Got­tesbegegnung erwächst, muß sich dann an der Welt „bewähren“[35]. Dies al­les sind Prolegomena nicht nur zu der modernen Vorstellung der Sinnfin­dung durch Sozialisation, sondern auch zur Schlüsselrolle des Handelns für die Auffassung der Wirklichkeit.

Die bei Troeltsch sichtbar gewordene konstruktive Absicht bleibt aller­dings bei Buber ebenso verdeckt wie bei Martin Heideggers Interpretation des von ihm so genannten „Sinnes von Sein“[36]. Heidegger überführt die von Nietzsche reklamierte Frage nach dem Sinn des Daseins in die Herme­neutik des Daseins[37], wobei „Sinn“ das Ausgelegtsein der menschlichen Existenz für sich selbst wie für andere bedeutet. „Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn. Der Begriff des Sinnes um­faßt das formale Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was verste­hende Auslegung artikuliert. Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als et­was verständlich wird.“[38] Eine offenkundig konstruktive Vorstellung! Be­merkenswert ist nun, daß Heidegger sich nicht darauf beschränkt, Hand­lungen (im umfassenden Sinne dieses Wortes) als „sinnhaft“ zu explizie­ren, sondern daß er das Verstehen von Handlungen mit der Sinnfrage der­art gleichsetzt, daß das sich verstehende Dasein eo ipso „sinnvoll“ ist, während „Sinnlosigkeit“ sich im Nicht-Verstehen äußert, auf diese Weise aufgedeckt und wieder mitgeteilt werden kann[39]. Hier wird das Problem des Nihilismus so gelöst, wie es Heidegger später nicht mehr glaubte sehen zu können[40].

Unter dem Einfluß der Hermeneutik ist dann die Sprache als Sinn-Me­dium identifiziert worden, und zwar nicht nur von der Sprachontologie[41], sondern auch von der analytischen Sprachtheorie und den empirischen Sprachwissenschaften bis hin zur Kommunikationswissenschaft. Der ge­meinsame Boden all dieser Wirklichkeitsauffassungen ist das Prinzip: Die Sprache kann nicht hintergangen werden, wir finden uns immer schon in ihr vor. Dieses Prinzip hat die Psychoanalyse therapeutisch einzusetzen verstanden und hat so einen praktischen Beitrag zum Aufbau einer nicht nur sinnhaft mitteilbaren, sondern vor allem sinnvoll erfüllten Wirklich­keit zu leisten beansprucht. Darum kann es nicht überraschen, wenn hier – etwa bei Carl Gustav Jung[42] – die Formel „Sinn des Lebens“ auftaucht, wobei jetzt „Leben“ in noch mehr umfassender Weise als früher „Ge­schichte“, „Sozialität“ oder „Sprache“ zum Inbegriff von „Sinn“ wird. An­gemerkt sei, daß in der praktisch-theologischen Disziplin, die sich der Psychoanalyse und Psychotherapie verpflichtet weiß, nämlich der Seel­sorge, von „Sinnfrage“ und „Sinnfindung“ heute ständig die Rede ist, während sich bezeichnenderweise der Sinnbegriff in der älteren Seelsor­ge-Literatur noch gar nicht findet[43]. – Die aufbauende Zielsetzung der Psychotherapie ist allerdings offenbar wider ihre Absicht nicht immer zum Zuge gekommen, wie Paul Ricoeur in seiner Kritik an den destrukti­ven Tendenzen der Theorie Siegmund Freuds nachweist[44] – und damit wieder die konstruktive Aufgabe in Erinnerung ruft: durch den Rekurs auf Sinn zur Wirklichkeit zu kommen.

Dagegen scheint die Ausgangsbeobachtung Nietzsches[45] – die Verhaftung von „Sinn“ an die Welt der Sinne – weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Beiträge zu diesem Thema haben sich entweder aus der Bindung an eine universale Sinnfrage gelöst und sind als spezifisch anthropologi­sche Fragestellungen weiterentwickelt worden[46], oder sie beziehen sich auf den Aufbau der Persönlichkeit, die jetzt die Sinn-Wirklichkeit bil­det[47]. Auf dieser Linie bewegt sich das Interesse wieder auf die Soziologie zu (etwa in der Verhaltenspsychologie[48]) und findet so den Anschluß an die oben skizzierte empirische Auslegung der Sinnfrage[49].

Wie verhält sich zu alledem die Religionstheorie, wenn wir von der Aus­kunft absehen, die Troeltsch gegeben hat? Es ist aufschlußreich, den Un­terschied zwischen der Religionstheorie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu Schleiermachers klassischer Definition als „Sinn und Ge­schmack fürs Unendliche“[50] zu untersuchen. Schleiermachers Umschrei­bung gehört durchaus in die Reihe der Versuche, die Vielfalt menschlicher Wahrnehmungsweisen in ihrem ganzen Umfang zu ermessen, so also, wie Nietzsche den historischen Sinn entdeckt hatte. Indem Schleiermacher nicht nur vom Sinn, sondern auch vom Geschmack redet, bringt er zum Ausdruck, daß der sensus religionis den Sinneswahrnehmungen zuzuord­nen ist, daß „Sinn“ demnach keine bloße Metapher ist. Dieser Sinn richtet sich auf das Unendliche, und darunter versteht Schleiermacher einen Ge­genstand, der nicht-endlich ist und deshalb von keiner Operation unserer Erfahrung und unseres Denkens erfaßt werden kann, die sich mit endli­chen Gegenständen befassen. Hierüber hat die spätere Religionstheorie prinzipiell anders gedacht. Das Unendliche ist für sie – für Rudolf Otto nicht anders als für Ernst Troeltsch oder Georg Wobbermin – das Ganze der Wirklichkeit, oder anders und mit den Worten Rudolf Ottos gespro­chen: die religiöse „Ahndung“ richtet sich auf den „ewigen Sinn“ der Wirklichkeit als ganzer[51]. Dementsprechend versteht sich die Religions­theorie als Gesamtanschauung des Universums und ist methodisch be­strebt, eine nichts auslassende Integration aller Wahrnehmungen, d.h. aller Sinneswahrnehmungen und sämtlicher Reflexionsleistungen, zu errei­chen[52]. Mit diesem Anspruch trennt sie sich ebenfalls von Schleiermachers Separation des religiösen Gefühls von der Metaphysik.

Unter dem Eindruck der Krise der Kultur in und nach dem Ersten Welt­krieg hat Paul Tillich Nietzsches Erschütterung durch die Frage nach dem Sinn des Daseins wieder zur Sprache gebracht, und zwar jetzt ausdrück­lich als „Sinnfrage“. Nietzsche hatte diese Frage ,um der Wahrheit willen‘ gestellt und davor gewarnt, sich der Sinnfrage auszuliefern, weil sie die Gefahr einer Selbsttäuschung mit sich bringt, die gerade durch den Zwei­fel als den radikalen Willen zur Wahrheit verursacht wird. Um so erstaun­licher ist es, daß Tillich Sinnfrage und Wahrheitsfrage schlicht gleich­setzt: „Der Zweifler im religiös bedeutungsvollen Sinn ist derjenige Mensch, der mit dem Verlust der religiösen Unmittelbarkeit Gott, die Wahrheit und den Lebenssinn verloren hat oder auf irgendeinem Punkte des Weges zu diesem Verlust steht und doch nicht in diesem Verlust ausru­hen kann, sondern getroffen ist von der Forderung, Sinn, Wahrheit und Gott zu finden … Der Zweifler befindet sich also in der Lage dessen, der an seinem Heil verzweifelt, nur daß für ihn das Unheil nicht das Verwer­fungsurteil Gottes, sondern der Abgrund der Sinnleere ist.“[53] Im Blick auf das „Unheil“ sind hier „das Verwerfungsurteil Gottes“ und „der Abgrund der Sinnleere“ gleichbedeutend – und dadurch erscheint es als möglich, die Sinnfrage als säkulare Transformation der Gottesfrage begreiflich zu machen. Jedem, der von Nietzsches Analyse der Sinnfrage aus der inneren Problematik des Christentums betroffen ist, muß dies unbegreiflich sein! Doch das Gegenteil ist heute augenscheinlich der Fall: Auf dem von Til­lich beschrittenen Wege ist die Sinnfrage in jüngster Zeit zum Inbegriff ei­ner neuen Fundamentaltheologie geworden, zum universalen Anknüp­fungspunkt für die Hinführung zum Glauben[54]. Auf diesem Wege hat der Sinnbegriff allerdings immer mehr von seiner Präzision verloren; was man allenfalls noch vage erkennen kann, ist die Vorstellung eines Ganzen, das als solches heilvoll ist. Das Wort „Sinn“ zeigt nun die Sehnsucht des heutigen Menschen nach innerer und äußerer Synthesis seiner zersplitter­ten Wahrnehmungen an. Die theoretische Vereinigung von Ganzheit, Har­monie und Heil als Quintessenz der Religion läßt den Unterschied von Er­lösung und Integration vergessen[55]. Hier gelangt auch die Religionsphi­losophie an einen Scheideweg, wo die Sinnfrage zur Götzenfrage wird, wenn sie das Ziel der Einheitsstiftung verfolgt.

Es fällt indessen außerordentlich schwer, über eine solche Funktionsbe­stimmung hinaus die Sinnfrage als eine tatsächliche Erfahrung aufzuspü­ren. Diese Schwierigkeit zeigt sich beispielsweise darin, daß mW. kaum authentische Selbsterfahrungen bekannt sind, die die Sinnfrage phäno­menologisch erschließen. Ich möchte vermuten, daß immer dort, wo bereite die Sinnfrage zum Thema der Beschreibung genuiner Erfahrungen geworden ist, ein ursprüngliches Phänomen gar nicht mehr zur Sprache gebracht werden kann, weil man sich hier derjenigen Interpretationsmu­ster bedient, die der Nihilismus-Diskussion entnommen sind. Darum be­stätigen derartige Selbsterfahrungen nur immer wieder die bereits be­kannte kulturkritische Zeitdiagnose, statt diese Diagnose an neu erfahre­nen Gegebenheiten überprüfen zu helfen. In dieser Lage kann es, wie mir scheint, nur hilfreich sein, die Sinnfrage nicht unmittelbar und als solche zum Thema zu erheben, sondern diejenigen Erfahrungen zu nennen, in de­nen „Sinn“ bereits ausgesprochen ist und die deshalb zu anderem ausge­legten Sinn in Beziehung gesetzt werden können.

Die Sinnfrage wäre also zunächst in bestimmte Einzelerfahrungen zu zer­legen, die dadurch charakterisiert werden können, daß ihr telos ‚auf sich beruht‘ und deshalb nicht erst durch weitere Operationen aufgebaut wer­den muß. In diesem Sinn ist „Sinn“ das, was nicht handlungsaktiv oder re­flexiv hintergangen zu werden braucht. Im Blick auf dieses telos wäre nur zu fragen: Wieweit ist das telos erfüllt? – und die Antwort auf diese Frage erlaubt es, die jeweils konkrete Beziehung zum telos anzugeben. Insofern wird nicht mehr die „Sinnfrage“ als solche gestellt, sondern es können sinnvolle und sinnlose Fragen im Blick auf das telos von Erfahrungen for­muliert werden.

Ein Paradigma dafür ist die Einstellung zum Tode. Sie gilt heute zumeist als Ausdruck für die Sinnfrage schlechthin, und hinter ihr treten andere ebenso wichtige Erfahrungen zurück, etwa die der Gegebenheit des indi­viduellen Lebens und die Erfahrung der Individualität des anderen Men­schen, nicht zuletzt aber auch die Erfahrung des Denkens (die früher ein­mal zum ontologischen Gottesbeweis geführt hatte, gegen den Nietzsche letzten Endes seine Sinnfrage ins Feld führt!).

Für die Todeserfahrung ist nun entscheidend, ob der Sinn des Sterbens darin besteht, die Frage nach einem „erfüllten Leben“ aufzuwerfen (dies scheint die heute übliche Fassung der „Sinnfrage“ angesichts des Todes zu sein), wobei die Vorstellung vom erfüllten Leben alles andere als deutlich ist und offensichtlich auf sehr wandelbaren Erwartungen an die soziale Referenz der eigenen Biographie beruht. Ganz anders hat der Psalmist ge­sprochen: „Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß“ (Psalm 39,5). Das „Ziel“ des Le­bens ist seine Befristung durch Gottes Handeln, die nicht nur die Lebens­zeit abschließt, sondern sie als ganze bestimmt. Das Gebet des Psalmisten legt aber nicht das Sterben so als Gotteshandeln aus, daß nur an ihm er­fahrbar würde, was „Handeln Gottes“ ist. Vielmehr kann und muß jetzt gefragt werden, in welcher Beziehung jeder einzelne Lebensmoment zu dem durch die: Verheißungen Gottes angekündigten Gotteshandeln steht. So ist die Erfahrung des Todes im Sinne der Bibel zu entfalten. Und im Vergleich dazu müssen dann die Einstellungen zum Tode beschrieben werden, die sich mehr oder weniger ausdrücklich mit der biblisch formu­lierten Frage des Todes auseinandersetzen. Beispielhaft hat dies Reinhold Schneider getan, als er die Wandlungen der Frage nach dem ewigen Leben bei seinen Zeitgenossen ins Auge faßte: „In christlicher Sicht mag man das Verstummen der Frage nach Unsterblichkeit als eine seelische Katastro­phe betrachten, wohl gar als ein Geheimnis der Finsternis; das ewige Le­ben wird erlangen, wer Gott aus ganzer Seele liebt und den Nächsten wie sich selbst. Aber auch diese Bezogenheiten richten sich an eine ganz be­stimmte seelische Gegebenheit. Kann der nur Gott lieben aus ganzer See­le, der das ewige Leben will: Liebt er Gott um dieses Lebens willen? … Die durch die Herabkunft Christi beantwortete, ihm vorausgegangene Frage ist geschichtlich, genau lokalisiert, also Stimme einer variablen, ei­ner sehr besonderen Konstellation. Hieran scheitern an bestimmter Stelle Verkündigung und Mission. Was kann Christi Sieg über den Tod Men­schen und Völkern bedeuten, die sich in der Tod ergeben haben, nach Ewigkeit gar nicht verlangen?“[56]

Mit meinem Vorschlag zur Auslegung der „Sinnfrage“ wende ich mich ge­gen das heute vorherrschende Bestreben, diese Frage an sog. Grenzsitua­tionen zu binden, die zur Verfassung des Menschen gehören und seiner konstitutionellen Beziehung zu der ihn umgebenden Wirklichkeit, die ihm immer schon vorgegeben ist und die er nicht hervorbringen kann, Aus­druck geben soll. Eine solche Reduktion auf anthropologische Konstanten mag zwar nahelegen, daß jeder Mensch auf die „Sinnfrage“ angelegt ist und deshalb der (religiösen?) Antwort auf sie bedarf. Doch die Vorstellung der Grenzsituationen verschleiert die‘ Einsicht, daß der Mensch mit der Frage nach Sinn jeweils nach etwas Bestimmtem fragt, auf das er sich be­ziehen will, weil es identifiziert werden kann; er will durchaus nicht im­mer „Transzendenz“ zum Thema seiner Selbstauslegung machen, sich also gar nicht als das Wesen präsentieren, das sich durch ständige Fraglichkeit auszeichnet.

Warum aber verdeckt das Reden von „Sinn“ heute zumeist solche be­stimmten Fragen? Warum ist die Sinnfrage überdies zur Signatur einer Kulturdiagnose geworden, die außerdem paradoxerweise beansprucht, ei­ne relativ überschaubare geschichtliche Konstellation zu erklären: näm­lich aus der Entwicklung der menschlichen Welt, die in ihrem Aufbau von den Wandlungen der Gesellschaft abhängig ist und gleichwohl in immer vorgegebenen menschlichen Lebensleistungen begründet bleibt?!

Wir haben es hier — und zwar bereits bei Nietzsche – mit einer Evolutions­theorie zu tun, die die Welt aus sich selber heraus erklären will und dies nur genetisch zu tim vermag. Ist diese wissenschaftsgeschichtliche Fest­stellung richtig, dann müßte die „Sinnfrage“ in der vorhin beschriebenen Weise – nämlich als Verhältnisbestimmung des Menschen zum Ganzen der Wirklichkeit, unter Einschluß von Transzendenz – zunächst einmal histo­risch lokalisiert werden, und zwar im Blick auf die Institutionalisierung dieser Sinnfrage in der Wissenschaft. Ich vermute, daß die Evolutions­theorie, die die Sinnfrage erklären soll, selber ein Substrat der Frage nach „Sinn“ als dem Universum menschlicher Selbstauslegung ist. Die „Sinn­frage“ wäre dann die durchaus historisch und sozial eingrenzbare Erkun­dung alles dessen, was Menschen für bedeutsam halten und als bedeutsam zur Disposition halten können. Nur mit Rücksicht auf diese Ortsbestim­mung kann m.E. die Sinnfrage auf genommen und sinnvoll erörtert werden.

Zum Schluß meiner fragmentarischen Bemerkungen zu einer Begriffsge­schichte von „Sinn“ und „Sinnfrage“ sei Goethes Meditation im Faust-Monolog über die Übersetzung des logos von Johannes 1,1 erwähnt, die in nuce eine Entwicklungsgeschichte der Formulierung für die Repräsentation von Transzendenz enthält. Der Übertragung des „logos“ in das „Wort“ folgt die Identifizierung von „logos“ und „Sinn“, die freilich sogleich in Frage gestellt wird: „Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?“, um in der Antwort darauf „Sinn“ durch „Kraft“ und „Tat“ zu ersetzen[57]. Hat Goethe nicht die falsche Reihenfolge gewählt? Die Sinnfrage hat doch längst das Vertrauen auf Taten als Anfangsgründe der Wirklichkeit über­holt! Das gehört zum Krebsgang der abendländischen Kulturgeschichte der Neuzeit.

Als Zwischenergebnis können wir festhalten, daß die Bedeutung von „Sinn“ als „Wahrnehmung“ bzw. in bezug auf Wahrnehmung immer mehr zurückgetreten ist – zugunsten einer als Konstitutionsleistung empfunde­nen Grundhaltung, als die sich die „Sinnfrage“ präsentiert. Nietzsche hat diesen Wechsel aus dem wachsenden Mißtrauen in die schlichten Sinne des Menschen erklärt. Er hat das Ungenügen aufgedeckt, aus der indivi­duellen „Sinnlichkeit“ den Gemeinsinn zu begründen, der diejenige Ge­meinsamkeit der Welt gewährleistet, die nicht durch die Vervielfältigung individueller Deutungen hervorgebracht wird. Zuvor hatte Immanuel Kant auf seine Weise den Gemeinsinn als sozialen Zusammenhalt der Welt in Frage gestellt. Gemeinsinn heißt ja höchst zweideutig „gemeiner Sinn“, seine Allgemeinheit kann sich darauf beschränken, „allenthalben“ ange­troffen zu werden – und, so wird man hinzufügen müssen, nur als Meinung angetroffen, die allzu leicht bloß ein Spielball kräftiger Suggestionen ist. Darum hat Kant den sensus communis aufs neue würdigen wollen, indem er ihn als die „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ bestimmte, „d.i. eines Beurteilungsvermögens“, „welches in seiner Reflexion auf die Vorstel­lungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleich­sam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und da­durch der Illusion zu entgehen …“[58] Das verräterische „gleichsam“ deutet indessen schon an, daß die Gesamtvernunft der Menschheit nicht mehr ei­nen jedermann unmittelbar überzeugenden Anhalt bildet, sondern durch eine gemeinschaftliche Anstrengung gewonnen werden muß, die Kant „Geschmack“ nennt (wohl auch, um durch dieses Wort eine quasi-sinnli­che Empfindung wiederzugeben). Kants Vorschlag hat, jedenfalls auf die Dauer gesehen, die Schwierigkeit einer gemeinsamen Urteilsbildung nur anzeigen, sie aber nicht lösen können.

Die Sinnfrage, die von nun an das Feld der Verständigung beherrscht – und die m.E. unbedingt geschichtlich einzugrenzen, nicht aber als unab­dingbare Urfrage des Menschen zu beanspruchen ist! -, verdrängt jetzt mehr und mehr die Wahrnehmungsweisen, die früher mit dem Sinnbegriff verbunden waren: den sensus communis (später denaturiert zum common sense der öffentlichen Meinungsbildung)[59] und den consensus[60], die beide für die Antike in einer Anthropologie verwurzelt blieben, deren Analyse der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten von vornherein mit der Frage nach der Einheit der Welt beschäftigt war[61]. Wir können heute, so meine ich, das kaum noch erträgliche Gewicht der „Sinnfrage“ nur dann hilfreich vermindern (ohne einem Anachronismus zu verfallen), wenn wir uns wieder auf die Beziehung von „Sinn“ und „Wahrnehmung“ besinnen.

IV

Wir lassen uns von dieser Beziehung nicht ablenken, wenn wir daran erin­nern, daß in der Geschichte christlicher Theologie das Thema „Sinn“ in dem vielschichtigen Begriff „consensus“ eine weitreichende (ekklesiologische und anthropologische) Bedeutung erlangte[62]. Vor allem konzentrierte sich die theologische Wahrnehmung mehr und mehr auf den „Schriftsinn“. Der Konsensus der Kirche als Anlaß zur Lehrbildung wie als Kriterium der Wahrheit und der Schriftsinn hängen zusammen, weil die Theologie ihre Texte in der Erwartung auslegt, daß sich in ihnen der Konsensus des Glaubens ausspricht: als Einstimmung in das, was Glauben begründet, und als Einverständnis der Glaubenden, in dem ihre Gemeinschaft zum Ausdruck kommt. Die Alte Kirche erklärte mit ihrer Bindung an die Heili­ge Schrift, daß ihre Wahrnehmung auf einen, nämlich diesen bestimmten Gegenstand gerichtet ist. Die Fixierung des Kanons war ein Bekenntnis zur Endgültigkeit der Offenbarung. Dieses Bekenntnis war und ist aber zugleich von der Zuversicht getragen, daß die in der Schrift mitgeteilte Wahrheit die Gegenwart und Zukunft der Kirche umfaßt. Im Sinn der bib­lischen Texte ist die Offenheit für die Erkenntnis des Kommens Gottes in die Geschichte beschlossen. Darum kann weder von neuer Offenbarung noch von fortschreitender Offenbarung noch aber auch von einer stetigen Entfaltung der einmal geschehenen und nur noch überlieferten Offenba­rung die Rede sein. Hier ist „Hermeneutik“ nichts anderes als die Feststel­lung dieses Schriftsinnes – sie wird also noch nicht, wie später, mit dem Problem der Übersetzung einer Tradition in die Gegenwart des Interpre­ten verknüpft.

Theologischer Schriftsinn wird festgestellt, wenn mit Hilfe der Auslegung eines Textes Gottes Handeln begründet erwartet werden kann. Diese „ein­fache“ Aufgabe der Hermeneutik geriet in dem Augenblick in Gefahr, als die Wirklichkeit, mit der Gott zu tun hat, als komplex und vieldeutig und die Hörer des biblischen Wortes als verschiedenen Schichten des Verste­hens zugehörig empfunden wurden. Aus dieser Auffassung ist die Theorie vom „vierfachen Schriftsinn“ entstanden[63]. Diese Theorie wollte zweierlei leisten: Indem jeder Text in mehrfacher Hinsicht gedeutet werden kann (nämlich historisch; allegorisch, d.h. im Blick auf einen Bedeutungsgehalt, der auf eine andere Bedeutungsebene übersetzt werden kann; tropologisch = ethisch; anagogisch als Aufweis einer Glaubenserfahrung), scheint der inneren Gliederung der Wirklichkeit methodisch und vor allem vollstän­dig Rechnung getragen. Hier klingt schon das Motiv des Ganzen an, das später zur ständigen Krise des Textverstehens, zur Auflösung jeder an der Tradition ausgerichteten Wahrnehmung und damit zur „Sinnfrage“ in ih­rer heutigen Gestalt führte. – Außerdem ist in der Theorie vom vierfachen Schriftsinn insgeheim eine sozusagen kirchensoziologische Anschauung enthalten, die den inneren Aufbau der Glaubensgemeinschaft an eine Hie­rarchie von Interpreten bindet, von denen nur die oberste Schicht in die wahre Tiefe der Texte eindringt. Nicht jeder Gläubige kann den ganzen Tiefsinn eines biblischen Textes verstehen. Die meisten müssen sich auf die ethischen Anweisungen verlassen, die andere der Bibel entnehmen; sie sind für ihre Wahrnehmung der Gegenwart Gottes an die Gnadenmittel der Kirche angewiesen und müssen sich mit dem Wissen begnügen, dieser Kirche anzugehören[64].

Martin Luthers Kritik am vierfachen Schriftsinn wird nur ganz begreif- lieh, wenn man ihre doppelte Stoßrichtung: gegen die vollständige Abbil­dung göttlichen Heilshandelns in einer Anschauung menschlicher Lebens­wirklichkeit und gegen deren soziale Manifestation, hinreichend beachtet. Darum forderte Luther, daß jedermann die Bibel nicht nur lesen können, sondern auch verstehen müsse. Und dieses Verstehen richtet sich auf das Handeln Gottes am Menschen, das nicht das Ziel einer Interpretationsauf­gabe ist, sondern sich selber im Wirken des Evangeliums ereignet[65]. Das meint Luthers hermeneutischer Grundsatz: Sinn des biblischen Wortes sei, »was Christum treibet“. Die Auslegung des biblischen Wortes kann nur eines tun: die Hindernisse aus dem Wege räumen – soweit dies men­schenmöglich ist –, die das Wirken Gottes verstellen. Den Sinn des bibli­schen Textes vernehmen heißt: Gott wirken lassen.

Daß die Wahrnehmung des Glaubens darin besteht, Gott in seinem Han­deln recht zu geben und so die Wahrheit Gottes am Menschen geschehen zu lassen, formuliert die reformatorische Rechtfertigungslehre als Verstehensregel. Die Rechtfertigungslehre faßt den Inhalt der Heiligen Schrift zusammen, aber eben in der Form einer Verstehensregel, nicht in Gestalt einer universalen Theorie des Verstehens, die die ganze Wirklichkeit in sich begreift. Zugleich sagt die Rechtfertigungslehre über den Menschen aus, daß unser Menschsein, das zum Leben in der Gemeinschaft mit Gott bestimmt ist, durch Gottes Tat begründet wird. Dadurch fällt jeder Ver­such der Selbstbegründung des Menschen in sich zusammen, er entlarvt sich als Gottlosigkeit und Lebensverfehlung, gerade auch dort, wo der Sinn des eigenen Lebens durch das Gelingen bestimmter (religiöser) Le­bensleistungen unter Beweis gestellt werden soll. Deswegen widerspricht die Rechtfertigung allein aus Glauben der Werkgerechtigkeit. Dies bedeu­tet keineswegs, daß Handlungen aus dem Glaubensvollzug ausgeschlossen oder daß sie für ihn gleichgültig werden. Vielmehr wird die Sinnhaftigkeit einzelner Handlungen, sofern sie dem Stehen des Menschen vor Gott zuge­wiesen sind, anders bestimmt, als sie im bisherigen Kodex religiöser Lei­stungen verstanden worden waren (etwa als heilige Handlungen). Damit wird die Unterscheidung vollzogen, die wir oben bei Kohelet kennengelernt haben: Der Sinn von Handlungen hängt nicht von der Sinngebung ab, mit der der Mensch sich inmitten der von ihm überschauten Wirklich­keit selbst rechtfertigt. Und die „Sinnfrage“ wird durch das rechtfertigen­de Urteil Gottes beantwortet, und sie ist für das Menschsein des Menschen in der Rechtfertigung des Sünders ein für allemal beantwortet. Sie erneut aufzugreifen, würde eine selbst geschaffene Welt an die Stelle Gottes set­zen wollen. So verbietet sich eine Deutung der Rechtfertigungslehre, die in jüngster Zeit oft vertreten worden ist: Sie sieht in der Rechtfertigung ei­nen von Gott dem Leben des einzelnen verliehenen Sinn, auf den hin das Leben gestaltet werden kann und muß[66]. Wir werden uns mit diesem gra­vierenden Mißverständnis später noch auseinandersetzen müssen. Hier ist nur noch einmal hervorzuheben, daß die Rechtfertigungslehre die Unter­scheidung zwischen dem Begründet-Sein menschlichen Lebens vor Gott und dem Gelingen sinnhafter Handlungen zuläßt. Der Sinn des Mensch­seins kann gleichsam nicht auf der gleichen Augenhöhe wahrgenommen werden wie die Sinnhaftigkeit menschlicher Handlungen, allen voran der religiösen Lebensleistungen. Sinn hat unser Handeln allein im Blick auf das richtende und rettende Handeln Gottes, in der Erwartung des Rechtes Gottes an aller Welt.

Die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben sagt nicht zuletzt aus, daß der Glaube der „Sinn“ für die Wahrheit Gottes ist. Dieser Glaube ist aber kein Bestandteil des Menschen, keine zusätzliche und höherstehende Sinnesleistung (etwa das Empfangsorgan für die Intelligible Welt), sondern die Einstimmung des ganzen – als des von Gott kon­stituierten – Menschen in das Heil Gottes[67]. Der Glaube erkennt Gott als Gott und den Menschen als Sünder. Darum spricht sich die Wahrnehmung des Glaubens immer zugleich als Bitte um die Erneuerung aller Sinne aus:

Entsündge meinen Sinn,
daß ich mit reinem Geiste
dir Ehr und Dienste leiste,
die ich dir schuldig bin[68].

V

Wie es in der Neuzeit dazu kam, daß die eben skizzierte Linie des Sinnver­stehens verlassen worden ist, kann hier in Kürze nicht erklärt werden. Ich beschränke mich auf zwei Hinweise. Einmal ist zu beobachten, daß die Bitte um die „Erneuerung des Sinnes“ der Frage nach dem Ursprung des Verstehens im Subjekt gewichen ist; dadurch wurde dieses Subjekt genö­tigt, seiner konstitutionellen Orientierungsbedürftigkeit durch das geisti­ge Erfassen der Wirklichkeit zu genügen. „Sinn“ wird nun zum „Sinn für“ das verstehende Subjekt. Zum anderen gewinnt jetzt die Texthermeneutik eine Schlüsselrolle für dieses Sinnverstehen. Durch die Interpretations­praxis entsteht der Eindruck eines unabsehbaren und gleichwohl durch die Sprache in sich geschlossenen Bedeutungszusammenhanges, in dem wir Menschen uns immer schon bewegen. Dieser Eindruck wurde durch eine theologische Hermeneutik noch befördert, die die Bibel als ein Gan­zes auffaßte, und zwar derart, daß dieses Ganze durch die Verweisung al­ler einzelnen biblischen Texte zueinander erschlossen werden kann. Das war die Konzeption der „Heilsgeschichtlichen Theologie“, die sich als Pro­totyp für den Übergang von der Texthermeneutik zu einer Welthermeneu­tik erwies. Der Auslegung eines Textes ist jetzt immer schon der „Sinn“ vor- und übergeordnet, in dem alles, was Menschen je verstehen können, bereits zusammengefaßt ist.

Diese Vorordnung einer Sinn-Einheit läßt sich am besten an der Entwick­lung des Geschichtsbegriffs nachweisen. Die Theologie war durch ihre Praxis der Schriftauslegung auf Textzusammenhänge gestoßen, hatte die­se Zusammenhänge geschichtlich ausgedehnt und sie dann metage­schichtlich zu verstehen versucht: metageschichtlich etwa in der Weise, wie Augustin von dem von Gott gewollten zielstrebigen Verlauf der Welt­geschichte hin zum Gottesreich gesprochen hatte. Darum erschien es ganz folgerichtig, weitreichende Sinnbezüge gesondert zu bedenken, sie gleich­sam zu hypostasieren und sie dann als kritische Instanz für die Betrach­tung einzelner Vorgänge und das Verstehen begrenzter Sinneinheiten zur Geltung zu bringen. Die Heilsgeschichtliche Theologie hat es unternom­men, die „Offenbarung“ metageschichtlich zu begreifen, indem sie die Bi­bel in ihrer Ganzheit als Urkunde des göttlichen Geschichtsplanes inter­pretierte, dessen Verwirklichung in der Rückschau auf den bisherigen Ge­schichtsverlauf und in der theologischen Deutung von Zeitereignissen nachzuweisen war[69]. Ein anderer metageschichtlicher Standpunkt begeg­net uns in Gotthold Ephraim Lessings Unterscheidung von notwendigen Vernunftswahrheiten und zufälligen Geschichtswahrheiten: sie soll erklä­ren, daß der Interpret sich in einer Verständigung über aller Geschichte bewegt, wenn er Geschichtstatsachen einordnet und beurteilt[70]. In verbor­gener geistiger Verwandtschaft zu Lessings Rekurs auf die Vernunft als Wahrheitsorgan hat der schwäbische Pietist Friedrich Christoph Oetinger den „sensus communis“ enzyklopädisch erfassen und mit seiner Hilfe die Wahrheit der Dinge ergründen wollen[71]. Eine weitere metageschichtliche Anschauung ist in der Rede vom „Sinn und Ziel der Geschichte“ enthalten, die unter dem Eindruck steht oder den Eindruck erweckt, daß geschichtli­che Tatsachen beziehungslos geworden sind, daß unsere Welt in eine un­übersehbare Vielzahl isolierter Fakten zerfällt und daß deshalb eine Zu­sammenschau aller Vorgänge lebensnotwendig ist. Wir nähern uns hier der höchst verfänglichen Formel Theodor Lessings „Geschichte als Sinn­gebung des Sinnlosen“, die voraussetzt, daß Geschehnisse nicht mehr aus sich heraus verständlich sind, sondern daß ihnen ein „Hintersinn“ abge­rungen werden muß, der der Geschichte als ganzer unterlegt wird[72].

Wie „die Geschichte“ zur Sinn-Einheit ausgestaltet worden ist, sind auch „die Sprache“ und „die Gesellschaft“ zu Inbegriffen für den Sinn gewor­den, der das Medium für alle als bedeutsam hervortretenden Erscheinungen bildet. Für die Theologie wirkt sich eine solche Vorordnung von Sinneinheiten so aus, daß etwa die Heilsgeschichte vorausgesetzt wird, um dann einzelne Geschehnisse als Handeln Gottes in ihr festzustellen; oder daß in anderen Auffassungen die Überlieferung zum Sinnträger wird; daß schließlich Erfahrungen mit der Sprache, mit Verständigungsmöglichkei­ten und Verstehensschwierigkeiten, zum Schlüssel für das Reden vom Wort Gottes werden. Dann ist aber nicht mehr möglich – was doch die ele­mentare Aufgabe der Theologie wäre -, von Gottes Handeln zu reden, um im Blick darauf menschliches Handeln wahrzunehmen; und Gott in seiner Anrede zu vernehmen, ohne Gott aus seinem Wort begreifen zu wollen. Diese Umstellungen sind von der Theologie in einem langwierigen Prozeß bewußt vollzogen worden. Wenn dieser Prozeß, wie es heute am Tage liegt, in die „Sinnfrage“ mit ihren nihilistischen Untertönen aufgegangen ist, dann darf nicht übersehen werden, daß diese Sinnfrage eben nicht die Urfrage des Menschen ist, die sich ihm mit seinem Dasein in der Welt stellt, sondern daß sie geschichtlich – genauer gesagt: wissenschaftsgeschicht­lich – entstanden ist und auch ihre Zeit gehabt haben sollte.

VI

Die Sinnfrage hat sich neuerdings in der Theologie noch einmal auf eigen­tümliche Weise radikalisiert. Dafür ein Beleg: „Die Sendungsgewißheit hebt die Sinnfrage auf, denn die Frage nach dem Sinn ist eine heidnische Frage“, schreibt Hans-Joachim Kraus, und er beruft sich dabei auf eine Grundüberzeugung jüdischer Theologie[73]. Das zunächst abgewiesene The­ma „Sinn“ taucht dann aber im Zusammenhang der Rede von der „Sinn­eröffnung aller Geschichte und allen Lebens“[74] von neuem und nun ganz unvermittelt auf. Ist also anzunehmen, daß sich in der evangelischen Theologie demnächst eine ähnliche Zweideutigkeit einstellt, wie es beim Religionsbegriff schon einmal der Fall gewesen ist? Unter dem Anschein einer vehementen Sinnkritik wird die Sinnfrage dialektisch aufgegriffen: in empirischer Hinsicht wird sie dem Unglauben zugeschrieben, um sie dann christlich so umzudeuten, daß von nun an alle weiteren Realisations­formen gleich-gültig werden, weil sie sämtlich unter der radikalen Kritik des endgültig begriffenen Sinnes stehen. So der Eindruck; tatsächlich wird jedoch das Thema „Sinn“ nur auf eine andere Ebene verlagert, näm­lich auf die Ebene einer Weltgestaltung, die Sinn stiften, d.h. den Sinn ver­wirklichen soll, der für „alle Geschichte und alles Leben“ eröffnet worden ist. Hier wird der Unterschied zwischen der Sinnhaftigkeit von Handlun­gen und Sinnstiftungen in einer Vorstellung geschichtlich-gesellschaftli­chen Handelns aufgehoben. Damit meint man einer nihilistischen Erfah­rung begegnen zu können, die nicht zuläßt, daß der Mensch sich in einer geordneten Welt vorfindet und sich in ihr versteht. Alles, was an Lebens­gestaltung überliefert worden ist, wird jetzt vor das Forum einer Kritik gebracht, die jede Lebensgestaltung nur als sinngebendes Handeln zu be­greifen erlaubt. Und vergangene Lebensformen, auch Lebensentscheidun­gen, werden daran gemessen, was heute als sinnvoll gelten darf.

Durch diese Prozedur gewinnt jedoch die Sinnfrage immer mehr an Bo­den, und die Erfahrungen von Sinnlosigkeit werden methodisch vermehrt. Vermehrt wird darum auch menschliches Leid, sofern es aus dem Leiden an einer Wirklichkeit entspringt, die man nicht mehr „deutungslos“ zu er­fahren vermag. Wir sahen zwar in der eingangs ausgelegten Passage aus Kohelet, daß die Sinnhaftigkeit von Handlungen durchaus strittig, ja zu­tiefst fraglich werden kann. Aber wir können uns dieser Fraglichkeit nicht dadurch entziehen, daß wir einen Zusammenhang möglicher Handlungen aufzubauen suchen, mit dessen Hilfe wir alles überblicken, einordnen und zugleich das Rechte tun könnten. Die Unterscheidung von Sinnhaftigkeit und Sinngebung erweist sich gerade angesichts der heute empfundenen Sinnkrise als ein durchaus nicht bloß theoretischer Unterschied, der Orientierungsprobleme aufteilt. Ich möchte es ohne Umschweife sagen: Diese Unterscheidung ist nichts Geringeres als die Sache des Glaubens. Das heißt, daß keiner sich zu dieser Unterscheidung willentlich aufzu­schwingen vermag. Doch diese Unterscheidung kann und muß dann ge­troffen werden, wenn wir die Alternativen unseres Handelns als Lebens­möglichkeiten sehen, wenn wir außerdem um den Zusammenhang wissen, zu dem alle Lebensmöglichkeiten gehören, daß wir aber auch hinnehmen, daß wir diesen Zusammenhang „von Anfang bis zum Ende“ nicht fassen können. Heute fehlt nicht nur diese Bereitschaft, es fehlen vor allem die Voraussetzungen, diese Unterscheidung denkend zu vertreten. Und sofern die Sinnfrage die Einstellung erzeugt, alle Begebenheiten und Erlebnisse müßten miteinander vermittelt sein, um das Leben erträglich zu machen, läßt sie die Wahrnehmungsweise verkümmern, die die Möglichkeiten des Lebens zu erkennen geben. Darum rührt die Sinnfrage von einer Wahr­nehmungskrise her, die die überlieferte und bestehende Sinnhaftigkeit von Lebenszusammenhängen und Handlungsweisen verwirft (und in die­ser Hinsicht auch die Sinnfrage nur noch rhetorisch aufnimmt!) – die je­doch andererseits Sinn stiften will oder ihn reklamieren muß, wenn sie sich auf die Anschauung der Welt als Gegenstand menschlicher Verwirkli­chung (vor allem von Heilszielen) zurückgeworfen sieht.

Wenn nun gesagt wird, die Sinnfrage sei eine heidnische Frage, dann soll dies nicht nur heißen, daß die Theologie für die Beantwortung dieser Frage nicht zuständig sei, sondern die Frage selber wird als illegitim behandelt. Die Theologie hat nicht nur keine Antwort darauf zu geben, sondern die Frage selbst in Zweifel zu ziehen. Aber dies geschieht, indem ein anderer Sinn als theologisch verbindlich herangezogen wird: der Sinn der Ge­schichte. Damit könnte zunächst nur gemeint sein, daß der Horizont der Sinnfrage weiter geworden ist als der einer individuellen Frage nach dem Sinn des Lebens. In der Regel – auch bei H.-J. Kraus – geht es jedoch um etwas anderes: Allein wenn sich Menschen auf die von der Zukunft her er­hellte Geschichte einlassen, bekommen sie gleichsam Boden unter die Fü­ße. Die existentielle Sinnfrage, der Zweifel am Grund des eigenen Daseins, die Furcht, ins Bodenlose zu fallen, wird mit dem Motiv des geschichtli­chen Weges umgangen. Nun ist der Boden nicht mehr schwankend, weil ein Weg gewiesen ist, auf dem man alles Zerbrechende, Hinfällige, Über­holte hinter sich lassen kann. Ein Zusammenhang, in dem wir uns zu ber­gen vermöchten, ist nicht mehr nötig, wenn man einer Zukunft gewiß ist, die alles bisher Geschehene auf sich ausrichtet und ihm Wert und Gestalt verleiht. Doch diese Zukunft ist allein ein Ziel und wird deshalb zur Auf­gabe der Wandernden. Um das Ziel zu erreichen, bedarf es einer neuen Sinngebung des Lebens, zu der die „Sendungsgewißheit“ ermächtigt. Was ist hier geschehen? Die Frage nach dem Sinn des Lebens wurde aufgege­ben, um sie als Forderung, in einer sinnleeren Welt den Sinn der Geschich­te zu verwirklichen, von neuem zu stellen.

VII

Die Kritik an der Sinnfrage darf nicht zu einer doppelbödigen Rede vom Sinn führen. Die Sorge um den „Sinn des Lebens“ darf nicht entwertet werden, um dann als „Sinn der Geschichte“ wieder Verbindlichkeit zu er­langen. Die Berufung auf das alttestamentliche Bilderverbot (Ex 20,4f) hat in diesem Zusammenhang für die gegenwärtige Theologie eine höchst ir­reführende Rolle gespielt: Es diente dazu, die vorgefundene Welt aller Sinngarantien zu entleeren und ihr dann „Sinn“ allererst aufzuprägen – und sich dadurch in neuen, unabsehbaren Sinnfragen zu verlieren.

Das Verbot, Gott in Bildern zu repräsentieren, hat in der Tat ganz wesent­lich mit der Sinnfrage zu tun. Gott verbietet seine Symbolisierung in der Weise, daß er – der im Bild durchaus als jenseitig und nicht verfügbar be­trachtet werden kann – doch im Bild eine Präsenz gewinnt, die seine Ge­genwart verbürgt. Seine transzendente Wesenheit strömt immer wieder in dieses Bild ein, sie entzieht sich ihm zwar auch wieder, bleibt aber doch soweit am Bild haften, daß sie in ihm zu greifen ist.

Zu beachten ist aber nun, daß diese theologische Grenzziehung bezeich­nenderweise als ein Verbot ausgesprochen worden ist, nicht etwa als eine Reflexion über das Verhältnis von Gott, Wirklichkeit und symbolischer Vermittlung von Wirklichkeit. Darum können auch wir jetzt nicht versu­chen wollen, den Verzicht der Theologie, bestimmte Fragen in Zusammen­hang des Sinnproblems zu stellen und zu beantworten, anders auszulegen als in der Verdeutlichung des gebotenen Verzichts. Er kann nicht selbst ursprünglich begründet werden, sonst würde er sich selber aufgeben.

In der Bibel sind daraufhin eine Reihe von Verbotszeichen aufgerichtet worden, die den Rückschluß von einer der Deutung zugänglichen Wirk­lichkeit auf Gott nicht zulassen. Ich nenne dafür drei Beispiele.

Im Neuen Testament wird der Tod vom „geistlichen“, „ewigen“ oder auch „zweiten Tod“ unterschieden (Joh 8,51; Röm 5,12; 6,23; 7,13; Offb 2,11; 20,6; 21,8): der erste bedeutet das Sterben, der zweite die endgültige Verfallenheit an das Nichts. Diese Unterscheidung sagt aus, daß der physische Tod den Menschen weder vor Gott zunichte werden läßt noch ihn in die Ewigkeit versetzt. Nein, Bleiben und Vergehen stehen unter dem richten­den und rettenden Urteil Gottes, das uns in der Berufung zum Glauben er­reicht. Wird ein Mensch in seiner Lebenszeit von Gottes Entscheidung für sein Leben getroffen, dann kann der ewige Tod ihn nicht mehr bedrohen, weil er schon durch Gottes Gericht hindurchgegangen ist (vgl. Joh 5,24). Zeit und Tod werden nun anders erfahren als in der »Krankheit zum To­de“, die das Stigma menschlicher Endlichkeit bildet. Die „natürliche“ Rei­henfolge von Leben und Tod wird umgekehrt, weil der lebendige Gott uns mitten im Leben begegnet und der Tod nicht mehr die Grenze ist, jenseits deren Gott gesucht werden kann.

Ein anderes Beispiel ist die Verwurzelung menschlicher Gemeinschaft in der gemeinsamen Gotteserfahrung. Wir wissen aus dem Alten Testament, wie glaubensnotwendig es war, der Kultgemeinde anzugehören. In vielen Psalmen klingt an, daß der Fromme die Entfernung vom Kultort oder gar den Ausschluß aus der Kultgemeinschaft als Krankheit oder Tod empfin­den mußte. Und die Rettung vom Tode ist gleichbedeutend mit der Mög­lichkeit, wieder am Gottesdienst teilzunehmen[75]. Die Teilhabe an der Kultgemeinschaft wird jedoch als Handeln Gottes erlebt und auch so aus­gesprochen; hingegen wird die Gemeinschaftsbildung nicht zur Bedin­gung erklärt, Gott zu erfahren.

Als drittes Paradigma nenne ich einige Texte aus der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, in denen die „Sinnfrage“ wohl am deutlichsten in der biblischen Überlieferung hervortritt. Hier werden die alltäglichen Proble­me genannt, die bis zum heutigen Tage zur Sinnfrage führen: die Todeser­fahrung (Koh 3,19-21; 12,1-3), die Sinnhaftigkeit von Handlungen in ih­rer Mehrdeutigkeit, Kontingenzerlebnisse, das Rätsel der Zeitlichkeit (Koh 3,1-15; 8,17a.16b,17b; 9,12), die Nötigung, die Ordnung der Dinge zu ermessen, und die unzugänglich gewordene Rationalität der Wirklichkeit (Koh 1,12-18). Wie aber wird dann von Gott gesprochen? Unvermittelt so, daß er nicht die mit alledem aufgeworfene Sinnfrage beantwortet, sondern so, daß der Zusammenhang und die Ordnung aller Dinge Gott anvertraut bleibt und daß man sich auf das einläßt, was man aus seinen Händen emp­fängt: die unvermittelte Gewißheit der Freude am Leben, wo immer sie unverhofft gewährt wird (Koh 3,22; 5,19).

Diese Beispiele fordern zur Gotteserkenntnis auf, zu der auch das Bilder­verbot auf seine Weise ermutigt. Das Bilderverbot behauptet also gar nicht, daß Gott „bildlos“ im Sinne einer strikten Unsichtbarkeit sei. Denn eine solche Unsichtbarkeit konnte – wie die Religionsgeschichte zeigt – allmählich in eine Repräsentation Gottes im Geistigen, in deutungsfähi­gen und deutungsbedürftigen Sinnelementen innerhalb der erfahrbaren Wirklichkeit umgedacht werden. Im Aufruf zur Wahrnehmung Gottes wird dagegen die Frage nach Sinn in die Erkenntnis der Wahrheit aufge­hoben, die nicht bereits in der Symbolisierung der uns Menschen tragen­den Wirklichkeit zugänglich ist. Sonst würde „Wahrheit“ in einem „Sinn“ aufgehen, der Gegenstand und Aufgabe unablässiger Deutung bleibt, die für die Erkenntnis dessen, was unverhofft geschieht, keine Zeit mehr hat.

Vorgetragen auf der Herausgebertagung der „Evangelischen Theologie“ vom 14 März 1977 in Bad Homburg.

Quelle: Evangelische Theologie 40 (1980), S. 93-126.


[1] L. E. Raths/M. Harmin/S. B. Simon, Values and Teaching: Working with Values in the Classroom, Columbus (Ohio) 1966, übersetzt von M. Simons: Werte und Ziele. Methoden zur Sinnfindung im Unterricht, München 1976.

[2] G. Frege definiert: „Die regelmäßige Verknüpfung zwischen dem Zeichen, dessen Sinn und dessen Bedeutung ist derart, daß dem Zeichen ein bestimmter Sinn und diesem wieder eine bestimmte Bedeutung entspricht, während zu einer Bedeutung (einem Gegenstände) nicht nur ein Zeichen zugehört. Derselbe Sinn hat in ver­schiedenen Sprachen, ja auch in denselben verschiedene Ausdrücke.“ (Über Sinn und Bedeutung [1892], in: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Stu­dien [hg. von G. Patzig], Göttingen 19754, 40-65, hier: 42).

[3] Deutsches Wörterbuch von J. Grimm und W. Grimm X, Leipzig 1905, 1103-1152. Vgl. vor allem 1117 und 1129. Das breite Spektrum der Verwendung des Wortes „Sinn“ im Sprachgebrauch der Gegenwart weist R. Lauth, Die Frage nach dem Sinn des Daseins, München 1953, 28f.32.34, auf. Lauth geht in seiner eigenen Auffassung von der Wertphilosophie (s.u. Anm. 49) aus.

[4] Lauth zählt (34) die „konstituierende Hinordnung“ neben „Bedeutung“, „Zweck“ und „Wert“ zu den philosophisch grundlegenden Funktionen des Sinnbegriffs.

[5] Ich beziehe mich hier auf die Auslegung des Textes von K. Galling, Das Rätsel der Zeit im Urteil Kohelets (Koh 3,1-15), in: ZThK 58, 1961, 1-15.

[6] Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a. 1097a. Davon ist die Frage nach dem Sinn (Logos) sprachlicher Äußerungen zu unterscheiden. Inwiefern eine solche „Sinnanalyse“ bei Aristoteles vorliegt, zeigt W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachli­chen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, vgl. bes. 161.194.

[7] Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a.

[8] G. D. Kaufman, Systematic Theology. A Historicist Perspective, New York 1968, 260f: “It has not always been clearly understood, however, that this imperceptibility of purposiveness to external observation, and thus to scientific description, is precisely in accord with – even required by – the concept of purpose itself; in no wise does it constitute evidence against the conception of the universe as ultimately the expression of purposive activity. For purpose is the inner connection that binds together a succession of temporal moments so they will eventually realize a pre­viously intended goal. Until the objective is reached, however, and the end becomes visible, there is no way to discern the purpose by mere external observation: it is known only to the purposer as the subjective principle with which he is ordering his activity. Only the wood-chopper himself knows whether he is clearing away trees in order to obtain firewood, to provide himself with boards to remodel his house, or to improve the view of the distant hills from his living room window; the act of cutting wood – that is, which can be externally observed – does not in itself reveal the purpose of the agent.”

[9] P. L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer sozio­logischen Theorie (deutsche Ausgabe von: The Sacred Canopy. Elements of a So­ciological Theory of Religion, New York 1967), Frankfurt/M. 1973, 22f. – Der amerikanische Text (22f) lautet: “The most important function of society is nomization. The anthropological presupposition for this is a human craving for meaning that appears to have the force of instinct. Men are congenitally compelled to impose a meaningful Order upon reality.” – Berger wechselt im übrigen zwischen “meaning” und “sense” und spricht z.B. von “to make sense”: „Sinngebung“.

[10] Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt/M. 1971, 25-100. – Vgl. dazu E. Herms, Das Problem von „Sinn als Grundbe­griff von Soziologie“ bei Niklas Luhmann, in: ZEE 18, 1974, 341-359.
In einer brieflichen Antwort auf meinen Vorschlag, „sinnhaft“ und „sinnvoll“ zu unterscheiden, schreibt N. Luhmann: „Ich kann einerseits die Gegenüberstellung von ‚sinnhaft‘ und ‚sinnvoll‘ akzeptieren, sofern damit ausgedrückt ist, daß das ‚Sinnhafte‘ ein sehr viel generelleres Phänomen ist, das mit menschlichem Erleben und Handeln zwangsläufig gegeben ist. Mich stört aber die in der Gegenüberstel­lung zum Ausdruck kommende Erwartung, daß das ‚Sinnvolle‘ in gleicher Weise begrifflich einheitlich gefaßt werden könnte wie das ‚Sinnhafte‘. Die Herstellung eines ‚sinnvollen‘ Lebenszusammenhanges ist für den Soziologen vermutlich eine sehr viel voraussetzungsreichere Angelegenheit, sehr viel stärker auch von histo­risch und kulturell divergierenden strukturellen Prämissen abhängig als für den Theologen. Deshalb kommen bei mir an dieser Stelle gesellschaftsstrukturelle Va­riablen, vor allem Überlegungen über die Form gesellschaftlicher Systemdifferen­zierung ins Spiel, von denen dann im einzelnen abhängt, was in bestimmten Gesell­schaftssystemen als evident oder als plausibel oder als gesollt erfahren werden kann.“
Dieser soziologischen Sichtweise könnte ich mich anschließen, wenn sie sich darauf beschränken würde, die unleugbare Tatsache zu beschreiben, daß Sinnvolles (wie Sinnhaftes) verschieden erfahren wird, und dementsprechend den empirischen Be­dingungen für diese Verschiedenheit nachginge. Wollte sie indessen „Sinn“ aus die­sen Bedingungen heraus erklären und sich mit dieser Erklärung gesellschaftlich durchsetzen, dann würde „Sinn“ letzten Endes nur noch als historisch und kultu­rell wechselnde Plausibilität begegnen können – ein Problem, das den Ideologiekri­tiker als Manipulation und den Philosophen von der Grundeinsicht her beschäftigt, daß die „Funktion von Sinn“ selber nicht mehr funktional abgeleitet werden kann, sondern auf die Unbedingtheit von Sinn verweist.
Doch dies scheint mir noch gar nicht der theologische Kontroverspunkt zu sein. Das Reden von Gott in der Bibel und in der Geschichte der Kirche sah und sieht sich immer wieder zwei Fronten gegenüber: zum einen der Vielgötterei, d.h. der Hypostasierung der Verschiedenheit dessen, was als sinnvoll (also tragfähig) erlebt und gestaltet wird, zum anderen der Auflösung „bestimmter“, d.h. innerhalb des Sinnvollen anzugebender und unterscheidungskräftiger Gotteserfahrung. Solche Auflösung will vermeiden, daß die Wirklichkeit aufgespalten wird: etwa in einen sakralen und einen profanen Bereich, oder in Zonen des Sinnvollen und Sinnlosen, oder in „Gott“ und „das Widergöttliche“ als Teile der Wirklichkeit oder als Herr­scher über diese Teile. Alle diese Formen einer dualistischen Wirklichkeitsan­schauung könnten in einen Sinnbegriff hinein aufgehoben werden, der dann eine letzte und höchste Einheit der Wirklichkeit symbolisiert. Aber ein solcher Sinn dürfte kein „Ausdruck für Gott“ sein – nicht nur deshalb, weil das Reden von Gott dann in einer Abstraktion aufgehen würde, die nur das Spiegelbild einer Utopie der Gesamtgesellschaft wäre, sondern vor allem deswegen, weil das christliche Re­den von Gott (im Unterschied zu manchen anderen Religionen) den Satz, daß „Gott alles in allem ist“, allein als Hoffnungsaussage auszusprechen erlaubt (1Kor 15,28). Erst daraufhin kann von Gott und seinem Handeln, wie es in die Geschichte ein­greift, gesprochen werden.

[11] N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt/M. 1977, bes. 126-134. 182-224. Vgl. auch Luhmanns briefliche Erläuterung: „Deshalb (seil, um gesellschaftsstruk­turelle Variablen beobachten zu können) ein so offener funktionaler Begriff wie ‚Kontingenzbewältigung‘, der den Übergang vom ‚Sinnhaften‘ zum ‚Sinnvollen‘ als selektiven Prozeß bezeichnet.“In diesem Zusammenhang erklärt Luhmann den Gottesbegriff als „Kontingenzfor­mel“, der den religiösen Übergang in dem Prozeß der Auswahl des Sinnhaften für das, was als sinnvoll gilt, bezeichnen soll. Die theologische Gegenthese ergibt sich – im Anschluß an das in Anm. 10 Gesagte – aus dem Reden vom Handeln Gottes. Sie beruft sich nicht auf die Unbedingtheit einer Sinngebung, die allen uns wahr­nehmbaren Sinn übersteigt und die der Urgrund alles Sinnvollen ist. Wäre es so, dann könnte man zwischen Soziologie und Theologie eine schiedlich-friedliche Ar­beitsteilung absprechen, wie Luhmann sie (brieflich) im Anschluß an W. Pannen­berg erwägt: die Soziologie „argumentiere an dieser Stelle lediglich sinnimmanent, d.h. aus der Selbstreferenz von Sinn heraus; die Theologie argumentiere dagegen transzendent, aus dem Faktum der Bestimmung durch eine allen Sinn transzendie­rende Freiheit der Sinngebung“. Aber „Freiheit“ ist m.E. theologisch gar nicht mit Hilfe einer solchen Grenzziehung auszusagen, und vor allem ist Freiheit nicht der­art für die theologische Argumentation gegenüber anderen Beweisgängen zu ge­winnen. Das christliche Reden von Gott begibt sich solcher Freiheit, indem es vom Handeln Gottes spricht, wie es durch Gottes Offenbarung in Jesus Christus und durch seine Gegenwart im Heiligen Geist bestimmt ist und sich dadurch von ande­ren Sinn-Manifestationen unterscheidet. Daß dieses Handeln die „Selbstreferenz von Sinn“ (als gesellschaftlich oder kultisch gewonnene Sinngebung) immer wieder durchbricht, belegen die Bibel und die Kirchengeschichte auf Schritt und Tritt. Aber solche Sinn-Transzendenz ist doch etwas völlig anderes als eine allen Sinn transzendierende Freiheit der Sinngebung! Sie steht oder, besser gesagt, schwebt nicht über allem Sinn, sondern zerbricht das, was Menschen als sinnvoll aufgebaut und in dem sie sich gegenüber Gott verschanzt haben. Weil Theologen für diese Transzendenz aufmerksam sein müssen, können sie – wenngleich aus anderen Gründen – der soziologischen Auffassung zustimmen, daß das Sinnvolle nicht ein­heitlich zu erfassen ist und daß seine Erfahrung sich geschichtlich verändert.

[12] Vgl. T. Rendtorff, Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer so­zialtheoretischen Kontroverse (Luhmann/Habermas), München 1975.

[13] Vgl. Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Theorie der Gesell­schaft, 49f.

[14] Die Unterscheidung von „Orientierungsbedürftigkeit“ und „Rechtfertigungsbe­dürfnis“ entnehme ich H. G. Ulrich, Anthropologie und Ethik bei Friedrich Nietz­sche. Interpretationen zu Grundproblemen theologischer Ethik, München 1975, 83ff.

[15] Vgl. F. Nietzsche, aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Ders., Werke (hg. von K. Schlechta) III, Darmstadt 1963, 793f und 881f.

[16] Ders., Die fröhliche Wissenschaft II, Aph. 83, in: Werke II, 91 f. – Wie sehr das Wort „Sinn“ daraufhin zur Metapher werden kann, sehen wir bei R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1,1930), Hamburg 1970,16: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.“

[17] Vgl. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral II, Aph. 7. und III, Aph. 28, in: Wer­ke II, 809f und 899f.

[18] Vgl. etwa: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Werke III, 548.

[19] AaO. 729.

[20] Die fröhliche Wissenschaft V, Aph. 357, in: Werke II, 228.

[21] Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Werke III, 550.

[22] H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her­meneutik, Tübingen 19652, 419ff.

[23] M. Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), wieder abgedruckt in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19734 (hg. von J. Winckelmann), 427-474. – Ders., Soziologische Grundbegriffe (1921), in: Ges. Aufsätze, 541-581, bes. 542: „Soziologie … soll heißen: eine Wis­senschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ab­lauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen sub­jektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem und den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhal­ten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“
Ein Übergang zur „Sinnfrage“ kündigt sich in Webers Aufsatz „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ (1903-1906), in: Ges. Aufsätze 1-145, hier: 12f, Anm. 1 an, wo Weber schreibt, „daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Äußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist“.

[24] Siehe dazu W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Stuttgart 19694, 382f.

[25] Moderne Geschichtsphilosophie (1904), wieder abgedruckt in: E. Troeltsch, Ge­sammelte Schriften n. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübin­gen 1913, 673-728, hier: 727.

[26] Vgl. aaO. 679.

[27] Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1909), in: Ges. Schriften n, 452-499, hier: 496.

[28] Als Beispiel sei K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949), Mün- chen/Zürich 1952’ genannt. Zur Kritik an den „theologischen Voraussetzungen“ dieser Geschichtsphilosophie s. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 19532.                                                                                          .

[29] Mehr oder weniger ausdrücklich bestimmt diese Reflexion die „Kritische Theo­rie“ der „Frankfurter Schule“ (aufschlußreich ist dafür die Auseinandersetzung J. Habermas mit N. Luhmann in: Theorie der Gesellschaft) und E. Blochs utopisches Denken.

[30] Th. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1920.

[31] M. Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie (1953), in: Werke I. Schriften zur Philosophie, München/Heidel- beig 1962, 503-603, hier: 529. Vgl. ebd.: „Freilich, wer auf das Erfahren der Erfah­rung ausgeht, verfehlt sie mit Notwendigkeit, weil er die Spontaneität des Geheim­nisses verletzt. Nur der erlangt den Sinn, der dem ganzen Walten der Wirklichkeit ohne Rückhalt und Vorbehalt standhält und ihm lebensmäßig, das heißt in der vol­len Bereitschaft, den erlangten Sinn mit dem Leben zu bewähren, antwortet.“ „Der Sinn wird gefunden, indem man sich mit dem Einsatz der eigenen Person daran be­teiligt, daß er sich kundtut.“

[32] M. Buber, Ich und Du (1923), in: Werke I, 77-160, hier: 131.

[33] AaO. 153.

[34] AaO. 82.

[35] AaO. 157.

[36] M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 19496, 1 u.ö. – Zu Heidegger s. P. Hofmann, Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft? Gedanken zur Neugründung der Philosophie im Hinblick auf Heideggers „Sein und Zeit“, in: Kant-Stu­dien Erg. H. 64, Berlin 1929. – Die neueren Auseinandersetzungen zum Verhältnis von Metaphysik und Sinnphilosophie beleuchten die Diskussionsbeiträge in: Sinn und Sein. Ein philosophisches Symposion (hg. von R. Wisser), Tübingen 1960.

[37] Vgl. aaO. 7.148ff.

[38] AaO. 151.

[39] Vgl. aaO. 151f.

[40] Vgl. M. Heidegger, Nietzsche I, Pfullingen 1961, 652-658.

[41] H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 19652, 361-465. – Zur Rolle des Sinnbegriffes in der neueren Hermeneutik s. auch E. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962. – Ders., Allge­meine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967.

[42] C. G. Jung, Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge (1932), Teilab­druck in: Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seel­sorge in der Neuzeit (hg. und eingeführt von F. Wintzer), München 1978,103-110, hier: 106.

[43] F. Wintzer weist darauf hin, daß in der älteren Seelsorgeliteratur anstelle des Begriffes „Sinn“ der Begriff „Trost“ gebraucht wird. So beispielsweise bei C. I. Nitzsch, Praktische Theologie HI, 1; Bonn 1857, 171. Siehe dazu F. Wintzer, Sinn und Erfahrung. Probleme und Wege der Krankenseelsorge, in: Theologie und Wirklichkeit. Festschrift für Wolfgang Trillhaas zum 70. Geburtstag (hg. von F. Wintzer/W. Schütte), Göttingen 1974, 209-225, hier: 213, Anm. 8. In diesem Beitrag legt Wintzer das heutige Verständnis des Sinnbegriffs in der Seelsorge dar.

[44] P. Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969. – Vgl. zur Sachlage auch U. Böschemeyer, Die Sinnfrage in Psychotherapie und Theologie. Die Existenzanalyse und Logotherapie Viktor E. Frankls aus theologi­scher Sicht, Berlin 1977.

[45] Ihr folgt die Psychologie, vgl. E. Straus, Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 19562.

[46] H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Aesthesiologie des Geistes (1922), Bonn 1965.

[47] A. N. Leont’ev, Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit (übers, von Ch. Brückner/Th. Kussmann, hg. von Th. Kussmann), Stuttgart 1977, bes. 55-61: „Der persönli­che Sinn“. „Psychologisch, d.h. im System des Bewußtseins des Subjekts, nicht aber als dessen Gegenstand oder Produkt, existieren die Bedeutungen überhaupt nur in der Form, daß sie bestimmte Sinne realisieren, ebenso wie die Handlungen und Operationen des Subjekts nur existieren, indem sie diese oder jene von einem Mo­tiv, einem Bedürfnis angeregte Tätigkeit realisieren. Die andere Seite besteht im folgenden: Der persönliche Sinn ist stets der Sinn von etwas; ein reiner, ‚gegen­standsloser‘ Sinn ist ebensolcher Unsinn wie ein gegenstandsloses Wesen.“ (59) „Sinn“ ist in dieser und verwandten Auffassungen die Rahmeninterpretation von Situationen und besteht in der Gleichgestalt der eigenen kognitiven Wahrnehmung mit den Erscheinungsformen der Umwelt. Ich und Umwelt werden als Einheit er­lebt.

[48] Die Sozialpsychologie verwendet „Sinn“ als formale Kategorie, die auch nicht als Subjekt definiert ist. Das Subjekt gilt vielmehr als ein Sinn-verwendendes Sy­stem. Wird Sinn beschrieben, dann als eine Strategie selektiven Handelns, die nicht an Gegebenheiten nachgewiesen werden kann. „Sinnlosigkeit“ bedeutet dement­sprechend die Diffusion, die keine Entscheidungen mehr ermöglicht.

[49] Eine Sonderstellung nimmt hier die Wertphilosophie ein, für die der Sinnbegriff (freilich mW. ohne hinreichende terminologische Klärung) eine maßgebende Rolle spielt. Ich nenne einige Belege: H. Münsterberg, Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung, Leipzig 1908. 19212, V: Die Frage nach „Sinn und Bedeu­tung“ führt zur „Welt der Werte“ und dient der Suche nach einer Weltanschauung und Lebensauffassung. -J. K. Holzamer, Der Begriff des Sinnes, entwickelt im Anschluß an das „irreale Sinngebilde“ bei Heinrich Rickert. Phil. Diss. München 1929, Sonderdruck aus dem Philosophischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 43, H. 3 u. 4 (o. J.), geht der Ableitung des Sinnverstehens aus Kants Auffassung der trans­zendentalen Apperzeption als (nicht psychologisch zu erklärende) Sinndeutung nach und bindet die Sinndeutung an eine Gegebenheit, die „als eine die wirkliche Welt irgendwie vorwegnehmende und abbildende Struktur und Intentionalität (Sinngebung) der Seele aufgefaßt werden muß“ (58). Das Sinnverstehen ist „un­sinnliches Verstehen“.
Siehe außerdem: H. Gomperz, Über Sinn und Sinngebilde, Verstehen und Erklä­ren, Tübingen 1929. – N. Hartmann, Sinngebung und Sinnerfüllung, in: Blätter für deutsche Philosophie 8, 1934, 1-38. – Ders., Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin/Leipzig 1935. – P. Hofmann, Sinn und Geschichte, München 1937. – H. Rickert, Unmittelbarkeit und Sinndeutung. Aufsätze zur Ausgestaltung des Systems der Philosophie, Tübingen 1939. – F. J. von Rintelen, Sinn und Sinnverständnis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 2, 1947, 69-83. – Einen guten Überblick gibt H. Rehfeld, Sinn und Wert. Das Problem des Bedingungsverhältnisses von Sinnverständnis und Wertbewußtsein (unter besonderer Berücksichtigung von Münsterberg, Scheler und Hartmann) und seine Lösung als Versuch einer meta­physischen Grundlegung der Wertlehre. Phil. Diss. (FU) Berlin 1954.
In dieser Diskussion treffen Erkenntnistheorie, Ontologie, Phänomenologie (beson­ders bei M. Scheler, der psychologisch den „inneren Sinn“ und aktphänomenolo­gisch Sinnzusammenhänge und Sinneinheiten als Bedeutungserfüllungen und Ver­haltensabsichten untersucht) und Kulturphilosophie zusammen. Für letztere mag eine Äußerung E. Sprangers stehen: „Ein echtes Menschenleben ist ein beständiges Suchen nach dem höchsten Wert oder dem letzten Sinn, unter dem das Leben gese­hen werden soll.“ (Lebenserfahrungen, Tübingen/Stuttgart 1945, 30f) Überzeugun­gen wie diese haben die Pädagogik der Nachkriegszeit stark beeinflußt; s. A. Roder, Die Sinnfrage als pädagogisches Problem. Versuch einer kulturpädagogischen Be­sinnung. Phil. Diss. Tübingen 1955. Dagegen ist die Sinnfrage heute, zumal in der Religionspädagogik, mehr unter den Einfluß der Sozialpsychologie geraten, wenn man von einigen meist undeutlichen religionsphilosophischen Erinnerungen ein­mal absieht (vgl. auch Anm. 53).

[50] F. D. E. Schleiermacher, Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Göttingen 1913 (hg. von R. Otto), 28 (2. Rede: Über das Wesen der Religion). Charakteristisch ist auch diese Formulierung aus Schleiermachers „Monologen“ (1800): „Aber wer wagt es zu behaupten, daß auch das Bewußtsein der großen heiligen Gedanken, die aus sich selbst der Geist erzeugt, abhänge vom Körper, und der Sinn für die wahre Welt von der äußeren Glieder Gebrauch?“, in: Ders., Kleine Schriften und Predigten I (hg. von H. Gerdes und E. Hirsch), Berlin 1970, 19-75, hier: 69.

[51] Vgl. R. Otto, Naturwissenschaft und Theologie. Thesen für Liegnitz den 27. Mai 1904, abgedruckt in: H. W. Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Ru­dolf Ottos, Berlin 1969, 121f, hier: 122 (These n, 5). Zum Begriff der „Ahndung“ vgl. H.-W. Schütte, aaO. 39.

[52] Siehe H. Braeunlich, Das Verhältnis von Religion und Theologie bei Ernst Troeltsch und Rudolf Otto. Untersuchungen zur Funktion der Religion als Begrün­dung der Theologie, Theol. Diss. Bonn 1979.

[53] P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel (1924), in: Gesammelte Werke (hg. von R. Albrecht) VIII, Stuttgart 1970, 85-100, hier: 89.
Tillich leitet den Wesensbegriff der Religion aus seiner Auffassung von den Sinn­elementen ab, die die Sinnwirklichkeit (d.h. die Wirklichkeit, so wie sie im mensch­lichen Bewußtsein gegenwärtig ist) in Sinnformen (Einzelsinn und Sinnzusammen­hang) und in den diesen Formen zugrundeliegenden sowie ihnen als Forderung ge­genüberstehenden Sinngehalt (Sinnhaftigkeit der einzelnen Sinnzusammenhänge) aufgliedert (s. Religionsphilosophie [1925], in: Gesammelte Werke I, Stuttgart 1959, 295-364, hier: 318f). Maßgebend ist dabei die Frage nach dem „letzten Sinn“; vgl. J. Track, Der theologische Ansatz Paul Tillichs. Eine wissenschaftstheoretische Untersuchung seiner „Systematischen Theologie“, Göttingen 1975, 366ff, zusam­menfassend 375.
Tillichs Sinnbegriff geht auf seine Metaphysik des Erkennens und seine metalogi­sche Methode zurück: Es gilt einen Sinngrund zu erkennen, der Geschichte und Er­fahrungswelt umfängt und als absolut gedacht werden kann. Diese Erkenntnis ist zugleich Rechtfertigung des fragenden Menschen, seine Rechtfertigung durch Got­tes paradoxe Gegenwart in aller Wirklichkeit. Das Paradox dieser Gegenwart bringt jedoch wiederum die Sinnfrage hervor – Orientierungsbedürftigkeit und Rechtfertigungsbedürfnis erscheinen nahtlos verbunden.
Tillichs Rede vom letzten Sinn bzw. vom Sinngrund hat vor allem in der neueren Religionspädagogik Widerhall gefunden; vgl. u.a. H. Halbfas, Fundamentalkate­chetik. Sprache und Erfahrung im Religionsunterricht, Düsseldorf 19692, 29. Wie aber schon (Anm. 49) angedeutet, ist die Sinnfrage dort allmählich zur Suche nach persönlicher Identität und gemeinschaftlich verbindlichen Sinndeutungen oder Wertsetzungen bzw. zum Bemühen um zwischenmenschliche Beziehungen umge­formt worden; vgl. H. Halbfas, Aufklärung und Widerstand, Stuttgart/Düsseldorf 1971, 18.106. – K. E. Nipkow, Grundfragen der Religionspädagogik I, Gütersloh 1975, 140.

[54] Dieses Thema wird vor allem von J. Splett in zahlreichen Abhandlungen vari­iert: Sakrament der Wirklichkeit. Vorüberlegungen zu einem weltlichen Begriff des Heiligen, Würzburg 1968, 56. – Gotteserfahrung im Denken. Zur philosophischen Rechtfertigung des Redens von Gott, Freiburg/München 1973, bes. 46-60. – Konturen der Freiheit. Zum christlichen Sprechen vom Menschen, Frankfurt/M. 1974, bes. 120-124. „Sinn“ ist hier gleichbedeutend mit dem als „Ganzheit“ ver­standenen „Heil“.
Das Motiv der Ganzheit klingt auch in anderen Versuchen zur Begründung der Theologie aus dem Sinn-Verstehen an – gemeinsam ist ihnen jedoch nur dieses Mo­tiv, das religiösen Aussagen aus einer Entwicklung der Sinnphilosophie zuge­schrieben wird, die selber dringend der Aufklärung bedarf. Hinzu kommt eine Vieldeutigkeit des Sinnbegriffs, die spätestens im Sprachvergleich zutage tritt. Siehe etwa B. Casper, Die Bedeutung der Lehre vom Verstehen für die Theologie, in: B. Casper/K. Hemmerle/P. Hünermann, Theologie als Wissenschaft. Methodi­sche Zugänge. Quaestiones Disputatae 45, Freiburg/Basel/Wien 1970, 9-53, bes. 35ff. – B. J. F. Lonergan, Method in theology, London 1972,57ff. – A. Nygren, Meaning and Method. Prolegomena to a scientific philosophy of religion and a scientific theology, London 1972, 227ff.
Als älteres Beispiel einer thematisch verwandten religionsphilosophischen Grund­legung sei J. Hessen, Der Sinn des Lebens, Rottenburg 19362, genannt.

[55] Auch historische Fehlurteile bleiben dann nicht aus, wie etwa die Bemerkung R. Guardinis zeigt, im griechischen Kosmosgedanken spreche sich der „Glaube an eine letztlich sinnvolle Welt“ aus (Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientie­rung, Würzburg 1950, 17). Dem griechischen Denken ist der Sinnbegriff in dieser Bedeutung fremd gewesen. Als an der Wende zum 5. Jahrhundert p. Chr. Zweifel an der Tragfähigkeit des Kosmos auftauchten – dieses Erschrecken seiner Zeitge­nossen spiegelt Augustins „De civitate Dei“ wider – und so etwas wie die Frage nach dem Sinn des Weltgeschehens aufkam, ging es mit der Antike zu Ende. Und es ist für uns heute entscheidend zu sehen, daß die Antwort des christlichen Glau­bens auf diese Krise darin bestand, die Frage nach der Wahrheit aufzuwerfen und sich nicht auf die Sinnfrage einzulassen (auch dies wäre an Augustin zu zeigen!).

[56] R. Schneider, Winter in Wien, in: Ders., Gesammelte Werke (hg. von E. M. Land­au), Frankfurt/M. 1978, 175-417, hier: 255 und 254.

[57] J. W. von Goethe, Faust I, 3, V. 1224-1237.

[58] I. Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), in: Den., Werke. Akademie-Ausgabe V, Berlin 1968, 293f (§ 40). –  Vgl. auch F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtziger­jahre, in: Werke in, 907.

[59] E. Ryan, The role of the „sensus communis“ in the psychology of St. Thomas Aquinas, Carthagena (Ohio) 1951. – Kant hat in der „Kritik der Urteilskraft“ den „sensus communis logicus“ als „gemeinen Menschenverstand“ bezeichnet und von ihm den „sensus communis aestheticus“ abgehoben, die „ästhetische Urteilskraft“, die „eher als die intellectuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes“ zu füh­ren verdiene (aaO. 295 und Anm.).

[60] L. Koep, Art. Consensus, in: Reallexikon für Antike und Christentum III, Stutt­gart 1957, 294-303. – K. Oehler, Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der Patristik. Eine Studie zur Geschichte des Begriffs der allgemeinen Mei­nung (1961), wieder abgedruckt in: Ders., Antike Philosophie und Byzantisches Mittelalter, München 1969, 234-271. – R. Schien, Untersuchungen über das argu­mentum „e consensu omnium“, Hildesheim 1973.

[61] Dieser Frage hat sich jetzt wieder W. Pannenberg auf religionsphilosophischem Wege zugewandt: Er unterscheidet ein referentielles, intentionales und kontextua­les Verständnis von „Sinn“ und sucht sie in einer Theorie der Integration von Wahrnehmungsweisen zu verbinden (Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. 1973, bes. 206ff).

[62] Zur altkirchlichen Begriffsbildung vgl. jetzt außer den in Anm. 60 genannten Untersuchungen H. J. Sieben, Die Konzilsidee der Alten Kirche, Paderborn/München/Wien/Zürich 1979, bes. 306-343. – Für die anthropologisch-soteriologische Anschauung wurde Augustins Auslegung von Römer 7,22 wegweisend, an der Luther sein Verständnis des Glaubens als Einverständnis mit Gottes Handeln kritisch ent­faltete. Siehe dazu R. Hermann, Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich“, Darmstadt 19602, 139-233.

[63] Zum Folgenden s. W. Raddatz/G. Sauter/H. G. Ulrich, Art. Verstehen, in: Prak­tisch-Theologisches Handbuch (hg. von G. Otto), Hamburg 19752, 602-633, bes. 609.

[64] Vgl. G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Lu­thers Hermeneutik (1942), Darmstadt 1969, 134.

[65] Vgl. Ebeling, aaO. 372. – Raddatz/Sauter/Ulrich, aaO. 609f.

[66] H. Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 19767. – Ders., Ich frage nach dem Sinn des Lebens, München 1974.

[67] Das sagt der Begriff „assensus“ als Bezeichnung für den Glauben aus, dessen Auslegung bei Melanchthon im Zusammenhang unseres Themas erneut untersucht werden müßte.

[68] Aus Strophe 2 des Liedes „Zeuch ein zu deinen Toren“ von P. Gerhardt (1653). Die Verse sind eine Paraphrase von Römer 12,1f.

[69] Siehe dazu meine Analyse einer Rationalisierung des als Ganzheit aufgefaßten biblischen Textsinns, die für die Probleme der Auslegungsgeschichte und der Ge­schichtstheologie aufschlußreich ist: Die Zahl als Schlüssel zur Welt. Johann Al­brecht Bengels „prophetische Zeitrechnung“ im Zusammenhang seiner Theologie, in: EvTh 26, 1966, 1-36 (dort weitere Lit.).

[70] G. E. Lessing, Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: Sämtliche Schriften XIII (hg. von K. Lachmann), Leipzig 18973, 1-8, hier: 5.

[71] F. Chr. Oetinger, Inquisitio in sensum communem et rationem (1753), eingeleitet von H.-G. Gadamer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964.

[72] Vgl. wiederum F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Werke III, 918: „Unsere ‚neue Welt‘: wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unserer Wertgefühle sind – also ‚Sinn‘ in die Geschichte legen können.“

[73] H.-J. Kraus, Reich Gottes: Reich der Freiheit. Grundriß Systematischer Theolo­gie, Neukirchen-Vluyn 1975, 305.

[74] Kraus, aaO. 417. – Vom „Sinn der Geschichte“ spricht in vergleichbarer Weise E. Schillebeeckx, Glaubensinterpretation. Beiträge zu einer hermeneutischen und kritischen Theologie, Mainz 1971, 170.

[75] Chr. Barth, Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des Alten Testamentes, Zollikon 1947, 26.48-51.152.164. – G. von Rad, Theo­logie des Alten Testaments I. Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Is­raels, München 1957, 385f.

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