Karl Barth, Verwunderung. Eine Weihnachtspredigt (1962): „Jetzt und jetzt erst ist Gott für uns Gott geworden, da er, in­dem Christus zu uns kam, die unsinnige Frei­heit uns nahm, uns selbst meistern und helfen zu wollen. Es könnte sein, daß wir unserer Götterfabrikation und unserer eigenen Gottähnlichkeit aus allerhand Gründen so müde gewor­den wären, dass wir nach eben der Offenbarung, von der die Hirten erzählt haben, greifen müssten wie ein Ertrinkender nach der Hand, die ihm im letzten Augenblick zu seiner Rettung gereicht wird. Auch das wäre dann wirkliche Verwunderung.“

Verwunderung. Eine Weihnachtspredigt

Von Karl Barth

Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten“ (Lukas 2, 18).

Über das, was die Hirten von Bethlehem den Leuten zu sagen hatten, konnten und mußten sich wirklich nicht nur einige, sondern alle wundern, die es hörten. Sie hatten ihnen zwei Dinge zu sagen, und in dem Verhältnis dieser zwei Dinge zueinander lag das für alle Hörer Verwunderliche. Einmal das sehr Natürliche und Alltägliche, daß sie ein neugeborenes Kind gesehen hatten. Das war nun gewiß für die allermeisten, denen sie es erzählten, gar nichts Verwunderliches. Sodann das ziemlich Übernatürliche und Sonderbare, daß ihnen ein Engel erschienen war und zu ihnen geredet hatte. Darüber werden sich schon damals die allermeisten, aber noch nicht gerade alle, verwundert haben: denn daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt, das haben schon damals einige gewußt. Warum soll eigentlich nicht auch einmal ein Engel erscheinen und etwas sagen können? Das aber war ausnahmslos allen verwunderlich und ist es bis auf diesen Tag, daß der Engel den Hirten von jenem neugeborenen Kind gesagt hatte: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr!“ Dieses Verhältnis zwischen den beiden Nachrichten war allen, die sie hörten, über die Maßen verwunderlich.

Stellen wir vor allem fest: Das allein, was der Inhalt der allen so verwunderlichen Rede der Hirten war, ist nach der Henie der christlichen Kirche identisch mit dem, was das Wort Offen­barung meint. Es würde sich wohl auch zeigen lassen, daß etwas anderes als das tatsächlich nimmermehr verdient, Offenbarung zu heißen. Aber wie dem auch sei: die Rede der Hirten meinte Gottes Offenbarung. Und das ist Gottes Offenbarung nach dieser Rede: der Herr — will sagen: der Schöpfer Himmels und der Erde, dem der Mensch sich selbst schuldig ist und immer schuldigbleibt — dieser Herr wurde Mensch wie wir, in unserem Raum und in unserer Zeit, auf unserer Erde und inmitten unserer Ge­schichte, der sogenannten Weltgeschichte. Der Herr Gott ist also nicht nur ewig und unsicht­bar und geistig — das alles ist er freilich auch —, sondern auch zeitlich und sichtbar und eine liebliche Person, die redet und handelt wie unsereiner. Es ist nicht unserer Phantasie und Willkür überlassen, ihn irgendwo im „Unendlichen“ zu suchen und uns einen von den un­endlich vielen Gedanken über ihn zu machen, die man sich über das „Unendliche“ machen kann. Sondern er ist (ohne darum aufzuhören unend­lich zu sein) zu uns gekommen in die Endlich­keit, „er ist ein Kindlein worden arm, daß er unser sich erbarm“, und was wir von ihm zu denken haben, das ist uns damit auf das bestimmteste vorgeschrieben. Wir haben hier, wir haben in direkter Beziehung zu unserer wirk­lichen Existenz, einen Herrn. Man muß aber auch das andere sagen: die Welt des Endlichen ist nicht der unberührte, unangefochtene Bereich unserer eigenen Klugheit und Herrschaft. Es gibt keine „in sich ruhende Endlichkeit“. Es geht nicht an, in angenehmer Arbeitsteilung Gott den Himmel und uns die Erde, ihm die unsichtbare und uns die sichtbare Welt zuzu­weisen. Sondern in diesem unserem eigenen Be­reich sind wir gar sehr von ihm angerührt und ergriffen. „Das Reich Gottes ist nahe herbeige­kommen.“ Wir haben hier, wir haben in direk­ter Beziehung zu unserer wirklichen Existenz einen Herrn. Das ist und das bedeutet Gottes Offenbarung. Das meint die Rede der Hirten von dem neugeborenen Kind, das Christus der Herr ist. Darüber haben sich alle gewundert. Wenn wir uns wirklich alle darüber wundern und alle wirklich darüber wundern würden — das wäre echte Weihnachtsfeier. Es gibt eine Verwunderung über die Offenbarung Gottes, über den Gegenstand des Weihnachtsfestes, die ist keine wirkliche Verwunderung. Die kann dann auch unmöglich, wie es sein sollte, die Verwunderung aller sein. Ihre Unwirklichkeit muß dann auch eine echte Weihnachtsfeier un­möglich machen. Ich meine damit dies, daß man der Weihnachtsbotschaft gewiß auch jenes läs­sige Staunen entge­genbringen kann, angemessen einem Geschichtsereignis, dessen Größe und Be­deutung man nicht leugnen kann, über des­sen Tragweite man sich einiges hat sagen lassen, dem man unter Umständen sogar einen wun­derbaren, übernatürlichen Charakter zuzubilli­gen nicht abgeneigt ist — nach dessen Betrach­tung man sich aber doch auch wieder anderen Betrachtungen zuwenden kann, weil man schließlich nicht an ihm beteiligt ist, oder nur so beteiligt ist, wie man schließlich noch an vielen Ereignissen näher oder ferner beteiligt ist. In dieser unbekümmerten Weise würden sich viele über die Nachricht von der Engelserscheinung und einige wenige wohl auch über die Nachricht von dem neugeborenen Kinde gewundert haben — wenn diese Nachrichten der Inhalt der Rede der Hirten gewesen wäre, Der Inhalt ihrer Rede war aber, wie wir sahen, ein anderer. Solange unsere Verwunderung über die Weihnachtsbot­schaft diese unbekümmerte Verwunderung sein kann, ist wohl die wirkliche Rede der Hirten noch nicht bis zu uns gedrungen. Würde sie zu uns dringen, wie sie lautete, als die Kunde von Gottes Offenbarung, dann würden wir uns wohl anders als so unbekümmert, dann würden wir uns wohl auch sofort alle darüber verwundern.

Die wirkliche Verwunderung, die uns dann erfassen würde, könnte darin bestehen, daß wir uns gegen das, was uns da gesagt wird, aufs gründlichste auflehnen würden. Es ist ja eine empörende Angelegenheit, daß es uns nicht mehr überlassen sein soll, wie und wo es uns gefällt, ins Unendliche hinauszugreifen und aus irgendeinem der unendlich vielen Bilder, die wir uns da machen können, unseren Gott zu machen. In dem innersten Grund unserer Freiheit sind wir bedroht, wenn es Gott wirklich gefallen hat, endlich und also ein ganz bestimmter, persön­lich redender und handelnder Gott zu sein. Und es ist eine zweite empörende Angelegenheit, daß auch uns gerade das Feld des Endlichen nicht unser Herrschaftsbereich sein, daß unserem Totalitätsanspruch auch und gerade da eine Grenze gesteckt sein soll. In dem entscheidenden Ge­brauch unserer Freiheit sind wir bedroht, wenn es Gott wirklich gefallen hat, endlich zu sein und uns also auch und gerade im Endlichen, konkret, man möchte fast sagen: politisch ent­gegenzutreten. Die wirkliche Verwunderung über Gottes Offenbarung und also die echte Weihnachtsfeier könnte sehr wohl darin beste­hen, daß wir uns klarmachen: Gottes Offen­barung ist wirklich (in jenem doppelten Sinn) eine empörende Angelegenheit. Man muß nein dazu sagen! Man muß sie leugnen! Wir wollen nichts mehr davon hören! Liegt es nicht wirk­lich allen, uns allen, sehr nahe, uns so zu entscheiden? So bedenklich diese Entscheidung wäre, das ist jedenfalls zu sagen: sie wäre wenigstens wirkliche Verwunderung, und sie wäre insofern dem Gegenstand der Weihnachts­feier angemessener als jenes lässige Staunen, das noch gar nicht bemerkt hat, um was es geht. Die wirkliche Verwunderung, die uns erfassen könnte, wenn die Rede der Hirten, wie sie lau­tete, zu uns dringen würde, könnte freilich auch darin bestehen, daß wir ganz dankbar würden für das, was uns da gesagt wird. Es könnten uns ja auch die Schuppen von den Augen fallen vor der Tatsache: wir sind endgültig befreit von dem „Gott“ unserer Spekulationen und Träume, von den Projektionen ins Unendliche, die wir immer wieder machten und „Gott“ hießen, ohne daß sie Gott waren. Jetzt und jetzt erst ist Gott für uns Gott geworden, da er uns, indem er Mensch, und zwar dieser bestimmte Mensch Jesus wurde, die unsinnige Freiheit nahm, ihn zu dichten nach unserem eigenen Bilde. Und es könnte uns als eine wahre Erlösung einleuchten die andere Tatsache: es ist nichts mit der Selbst­herrlichkeit und Eigengesetzlichkeit unserer menschlichen Existenz, mit der Gottlosigkeit des Diesseits, dem ein unsichtbarer Gott „im Him­mel“ machtlos gegenübersitzt. Jetzt und jetzt erst ist Gott für uns Gott geworden, da er, in­dem Christus zu uns kam, die unsinnige Frei­heit uns nahm, uns selbst meistern und helfen zu wollen. Es könnte sein, daß wir unserer Götterfabrikation und unserer eigenen Gottähnlichkeit aus allerhand Gründen so müde gewor­den wären, daß wir nach eben der Offenbarung, von der die Hirten erzählt haben, greifen müßten wie ein Ertrinkender nach der Hand, die ihm im letzten Augenblick zu seiner Rettung gereicht wird. Auch das wäre dann wirkliche Verwunderung. Und es wäre die wirkliche Ver­wunde­rung, die dem Gegenstand des Weih­nachtsfestes nicht nur angemessen wäre wie jene andere, sondern die ihm entspräche. Denn der Heiland ist uns nicht dazu geboren, damit er uns ärgere, sondern damit uns und allem Volk große Freude widerfahre. Liegt es nicht vielleicht uns allen doch noch näher, uns in die­sem Sinn wirklich zu verwundern?

Wer könnte die Entscheidung vorwegnehmen, um die es hier geht? Und wer könnte die Her­zen erforschen und sagen, daß sie hier so und dort so fällt? Es darf und muß aber darauf hingewiesen werden: wenn das, was die Hirten gesagt haben, zu uns durchdringen wird, dann werden wir alle Anlaß haben, uns wirklich zu verwundern.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Nr. 307/308/309, 24. Dezember 1962, SZ an Weihnachten. Feuilleton-Beilage.

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