Dietrich Bonhoeffer, Predigt zu Lukas 1,46-55 (London 1933): „Maria, die harte, fromme, in ihrem Alten Testament lebende und auf ihren Erlöser hoffende niedrige Arbeiterfrau – die Mutter Gottes. Christus, der arme Arbeitersohn im Eastend von London, Christus in der Krippe. Gott schämt sich der Niedrigkeit des Menschen nicht, er geht mitten hinein, erwählt einen Menschen zu seinem Werkzeug und tut seine Wunder dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Gott ist nahe der Niedrigkeit, er liebt das Verlorene, das Unbeachtete, Unansehnliche, das Ausgestoßene, das Schwache und Zerbrochene, wo die Menschen sagen: verloren, da sagt er: gefunden, wo die Menschen sagen „gerichtet“, da sagt er „gerettet“, wo die Menschen sagen: „Nein!“, da sagt er: „Ja!“ Wo die Menschen ihren Blick gleichgültig oder hochmütig wegwenden, da ist sein Blick von einer Glut der Liebe wie nirgends sonst.“

Predigt zu Lukas 1,46-55 (1933)

Von Dietrich Bonhoeffer

Und Maria sprach: Meine Seele erhebet den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilands; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder; denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und des Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet immer für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übet Gewalt mit seinem Arm und zerstreuet, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllet er mit Gütern und läßt die Reichen leer. Er denket der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat unsern Vätern, Abraham und seinem Samen ewiglich.
(Lukas 1,46–55 Luther 1912).

Dieses Lied der Maria ist das älteste Adventslied. Es ist zugleich das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen, revolutionärste Adventslied, das je gesungen worden ist. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie manchmal auf Bildern dargestellt sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht. Nichts von den süßen, wehmütigen oder gar spielerischen Tönen mancher unserer Weihnachtslieder, sondern ein hartes, starkes, unerbittliches Lied von stürzenden Thronen und gedemütigten Herren dieser Welt, von Gottes Gewalt und von der Menschen Ohnmacht. Es sind die Töne der prophetischen Frauen aus dem Alten Testament, Debora, Judith, Mirjam, die hier im Munde der Maria lebendig werden. Maria, die vom Geist ergriffen und gefaßt, Maria, die gehorsam und demütig an sich geschehen läßt, was der Geist ihr gebietet, die den Geist wehen läßt, wo er will, sie spricht aus diesem Geist heraus vom Kommen Gottes in die Welt, vom Advent Jesu Christi. Sie weiß ja besser als irgendein anderer, was es heißt, auf Christus warten. Sie wartet ja anders auf ihn als irgendein anderer Mensch. Sie erwartet ihn als seine Mutter. Er ist ihr näher als irgendeinem anderen, sie weiß um das Geheimnis seines Kommens, um den Geist, der hier im Spiele ist, um den allmächtigen Gott, der sein Wunder tut. Sie erfährt es selbst am eigenen Leib, daß Gott wunderbare Wege mit den Menschen geht, daß er sich nicht nach der Meinung und Ansicht der Menschen richtet, daß er nicht den Weg geht, den die Menschen ihm vorschreiben wollen, sondern daß sein Weg über alles Begreifen, über alles Beweisen frei und eigenwillig ist.

Wo der Verstand sich entrüstet, wo unsere Natur sich auflehnt, wo unsere Frömmigkeit sich ängstlich fernhält, dort, gerade dort liebt es Gott zu sein. Dort verwirrt er den Verstand der Verständigen, dort ärgert er unsere Natur, unsere Frömmigkeit – dort will er sein und keiner kann’s ihm verwehren – und nur die Demütigen glauben ihm und freuen sich, daß Gott so frei und so herrlich ist, daß er Wunder tut, wo der Mensch verzagt, daß er herrlich macht, was gering und niedrig ist. Und das ist ja das Wunder aller Wunder, daß Gott das Niedrige liebt. „Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.“ Gott in der Niedrigkeit – das ist das revolutionäre, das leidenschaftliche Adventswort. Zunächst Maria selbst – die Zimmermannsfrau, sagen wir: die arme Arbeiterfrau, unbekannt, bei den Menschen unangesehen – nun aber gerade in ihrer Unansehnlichkeit, in ihrer Niedrigkeit bei den Menschen von Gott angesehen und ausersehen, Mutter des Weltenretters zu sein; nicht um irgendwelcher menschlicher Vorzüge willen, auch nicht um ihrer gewiß großen Frömmigkeit willen, auch nicht um ihrer Demut willen, nicht um irgendwelcher Tugenden willen, sondern ausschließlich und allein darum, weil Gottes gnädiger Wille das Niedrige, das Unansehnliche, das Geringe liebt, erwählt und groß macht. Maria, die harte, fromme, in ihrem Alten Testament lebende und auf ihren Erlöser hoffende niedrige Arbeiterfrau – die Mutter Gottes. Christus, der arme Arbeitersohn im Eastend von London, Christus in der Krippe. Gott schämt sich der Niedrigkeit des Menschen nicht, er geht mitten hinein, erwählt einen Menschen zu seinem Werkzeug und tut seine Wunder dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Gott ist nahe der Niedrigkeit, er liebt das Verlorene, das Unbeachtete, Unansehnliche, das Ausgestoßene, das Schwache und Zerbrochene, wo die Menschen sagen: verloren, da sagt er: gefunden, wo die Menschen sagen „gerichtet“, da sagt er „gerettet“, wo die Menschen sagen: Nein!, da sagt er: Ja! Wo die Menschen ihren Blick gleichgültig oder hochmütig wegwenden, da ist sein Blick von einer Glut der Liebe wie nirgends sonst. Wo die Menschen sagen: verächtlich, da ruft Gott: selig. Wo wir an einen Punkt in unserem Leben geraten sind, daß wir uns nur noch vor uns selbst und vor Gott schämen, wo wir meinen, Gott selbst müsse sich jetzt unserer schämen, wo wir uns Gott so fern fühlen, wie irgend je im Leben, da gerade ist Gott uns so nah wie nie zuvor, da will er in unser Leben einbrechen, da läßt er uns sein Herannahen fühlbar spüren, damit wir das Wunder seiner Liebe, seiner Nähe, seiner Gnade begreifen sollen.

„Siehe, nun werden mich selig preisen alle Kindeskinder!“ jubelt Maria. Was heißt es, Maria, die niedrige Magd, selig preisen? Es kann nichts anderes heißen, als das Wunder Gottes, das an ihr geschah, staunend anbeten, an ihr ersehen, daß Gott das Niedrige ansieht und erhöht, daß Gottes Kommen in diese Welt nicht die Höhen, sondern die Tiefen aufsucht, daß wir Gottes Herrlichkeit und Allmacht darin sehen, daß er das Geringe groß macht. Maria selig preisen heißt nicht, ihr Altäre bauen, sondern mit ihr den Gott anbeten, der das Niedrige ansieht und erwählt, der „große Dinge tut und des Name heilig ist“. Maria selig preisen heißt, mit ihr wissen, daß Gottes „Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten“, die seinen Wegen staunend nachsehen und nachdenken, die seinen Geist wehen lassen, wo er will, die ihm gehorchen und mit Maria demütig sprechen: Mir geschehe, wie du gesagt hast.

Wenn Gott die Maria zum Werkzeug erwählt, wenn Gott selbst in der Krippe von Bethlehem auf diese Welt kommen will, so ist das nicht eine idyllische Familienangelegenheit, sondern es ist der Beginn einer völligen Umkehrung, Neuordnung aller Dinge dieser Erde. Wenn wir an diesem Advents- und Weihnachtsgeschehen teilnehmen wollen, so können wir nicht einfach zuschauerisch wie bei einem Theater daneben stehen und uns an all den freundlichen Bildern freuen, sondern dann werden wir selbst in diese Handlung, die da geschieht, in diese Umkehr aller Dinge mit hineingerissen, da müssen wir mitspielen auf dieser Bühne, da ist der Zuschauer immer schon eine handelnde Person in dem Stück, da können wir uns nicht entziehen. Was spielen wir denn da mit? Fromme Hirten, die ihre Knie beugen? Könige, die ihre Gaben bringen? Was wird denn da gespielt, wo Maria die Mutter Gottes wird, wo Gott in der Niedrigkeit der Krippe in die Welt kommt? Weltgericht und Welterlösung – das ist es, was hier geschieht; und das Christuskind in der Krippe selbst ist es, das Weltgericht und Welterlösung hält, es stößt die Großen und Gewaltigen zu-|rück, es stürzt die Throne der Machthaber, es demütigt die Hoffärtigen, sein Arm übt Gewalt über alle Hohen und Starken, und es erhebt, was niedrig ist und macht es groß und herrlich in seiner Barmherzigkeit. Und darum können wir an seine Krippe nicht treten, wie an die Wiege eines anderen Kindes, sondern wer an seine Krippe gehen will, mit dem geht etwas vor, der kann nur gerichtet oder erlöst wieder von ihr fortgehen, der muß hier entweder zusammenbrechen oder er weiß die Barmherzigkeit Gottes sich zugewandt.

Was heißt das? Ist das nicht alles Redensart, pastorale Übertreibung einer schönen frommen Legende? Was heißt es, daß solche Dinge vom Christuskind gesagt werden? Wer es als Redensart nehmen will, der tue es und feiere Advent und Weihnachten weiterhin so heidnisch unbeteiligt wie bisher. Uns ist es keine Redensart. Denn das ist es ja, daß es Gott selbst ist, der Herr und Schöpfer aller Dinge, der hier so gering wird, der hier in den Winkel, in die Verborgenheit, in die Unansehnlichkeit der Welt eingeht, der in der Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit des Kindes uns begegnen und unter uns sein will – und das nicht aus Tändelei, aus Spielerei, weil wir das so rührend finden, sondern um uns zu zeigen, wo er sei und wer er sei, und um von diesem Ort aus alles menschliche Großseinwollen zu richten, und zu entwerten, zu entthronen.

Der Thron Gottes in der Welt ist nicht auf den menschlichen Thronen, sondern in den menschlichen Abgründen und Tiefen, in der Krippe. Um seinen Thron herum stehen nicht schmeichelnde Vasallen, sondern dunkle, unbekannte, fragwürdige Gestalten, die sich an diesem Wunder nicht satt sehen können und ganz von der Barmherzigkeit Gottes leben wollen.

Es gibt für einen Starken, für einen Großen dieser Welt nur zwei Orte, an denen ihn sein Mut verläßt, vor denen er sich in tiefster Seele fürchtet, denen er scheu ausweicht. Das ist die Krippe und das Kreuz Jesu Christi. In die Nähe der Krippe wagt sich kein Gewaltiger, hat sich der König Herodes auch nicht gewagt. Denn eben hier wanken die Throne, fallen die Gewaltigen, stürzen die Hohen, weil Gott mit den Niedrigen ist, hier werden die Reichen zunichte, weil Gott mit den Armen und Hungernden ist, weil er die Hungernden satt macht, aber die Satten und Reichen gehen leer aus. Vor der Maria, der Magd, vor der Krippe Christi, vor Gott in der Niedrigkeit, kommt der Starke zu Fall, hat er kein Recht, keine Hoffnung, ist er gerichtet.

Und wenn er auch heute noch meint, es geschehe ihm nichts, so wird es morgen oder übermorgen geschehen, Gott stößt die Tyrannen vom Stuhl, Gott erhebt die Niedrigen. Dazu ist Jesus Christus als Kind in der Krippe, als Sohn der Maria zur Welt gekommen.

Wir wollen in acht Tagen Weihnachten feiern und nun einmal wirklich als Fest des Christus in unserer Welt. Da müssen wir vorher noch etwas bereinigen, was in unserem Leben eine große Rolle spielt; nämlich wir müssen uns klar werden, wie wir angesichts der Krippe künftighin über hoch und niedrig im menschlichen Leben denken wollen. Wir sind zwar alle keine Gewaltigen, auch wenn wir’s vielleicht gern wären und wir uns das ungern sagen lassen. Große Gewaltige gibt es immer nur wenige. Aber um so mehr kleine Gewaltige gibt es, solche Leute, die, wo sie es können, ihre kleine Gewalt spielen lassen und die nur einem Gedanken leben: immer höher hinauf! Gottes Gedanke heißt anders, er heißt: immer tiefer hinab, in die Niedrigkeit, in die Unscheinbarkeit, in die Selbstvergessenheit, in die Unansehnlichkeit, in das Nichtgeltenwollen, nicht Hochsein wollen – und auf diesem Weg begegnen wir Gott selbst. Jeder von uns lebt mit solchen zusammen, die man hoch und mit solchen, die man niedrig nennt. Jeder von uns hat noch einen, der niedriger ist als er. Ob dieses Weihnachten uns dazu helfen wird, noch einmal an diesem Punkt radikal umzulernen, umzudenken, und zu wissen, daß unser Weg, sofern er ein Weg zu Gott sein soll, uns nicht auf die Höhen, sondern ganz wirklich in die Tiefen zu den Geringen führt, und daß jeder Lebensweg, der nur ein Höhenweg sein soll, ein Ende mit Schrecken nehmen muß?

Gott läßt sich nicht spotten. Er läßt es nicht hingehen, daß wir Jahr um Jahr Weihnachten feiern und nicht Ernst machen. Er hält sein Wort gewiß und er wird Weihnachten, wenn er in seiner Herrlichkeit und Macht in die Krippe eingeht, die Gewaltigen von ihrem Stuhl stoßen, wenn sie nicht endlich, endlich Umkehr halten.

Es ist eine wichtige Sache für eine christliche Gemeinde, daß sie sich in diesem Punkt versteht und daß sie aus solcher Erkenntnis die Konsequenzen für ihr Zusammenleben zieht. Es ist hier auch Grund, in dieser Richtung in unserer Gemeinde manches zu bedenken.

Wer von uns wird Weihnachten recht feiern? Wer alle Gewalt, alle Ehre, alles Ansehen, alle Eitelkeit, allen Hochmut, alle Eigenwilligkeit endlich niederlegt an der Krippe, wer sich hält zu den Niedrigen und Gott allein hoch sein läßt, wer im Kind in der Krippe die Herrlichkeit Gottes gerade in der Niedrigkeit schaut, wer mit Maria spricht: Der Herr [hat] meine Niedrigkeit angesehen. Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes. Amen.

Gehalten am Sonntag, 3. Advent, 17. Dezember 1933 in London.

Quelle: Quelle: Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 13: London 1933-1935, hrsg. v. Hans Goedeking, Martin Heimbucher und Hans-Walter Schleicher, München: Chr. Kaiser Verlag 1994, S. 338-343.

Hier der Text als pdf.

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