Hans von Soden, „Was ist Wahrheit?“ Vom geschichtlichen Begriff der Wahrheit (1927): „Wenn im Alten Testament immer wieder von Gott ausgesagt wird, dass er Wahrheit tue, wirke, bringe, so ist unter der Wahrheit Gottes zunächst nicht verstanden, dass er wirklich, tatsächlich Gott ist, also das ist, wofür er gehalten, und nicht irrig dafür gehalten wird, sondern dass er erfüllt, was man von ihm als Gott, weil er Gott ist, erwartet, dass er sich als mächtig, gütig, gerecht erweist, dass er die Zukunft bestimmt.“

„Was ist Wahrheit?“ Vom geschichtlichen Begriff der Wahrheit

Von Hans Freiherr von Soden

In einem Buch, das vor einigen Jahren in aller Munde war und heute schon wieder fast verges­sen scheint — allzu sehr auf Sensa­tion gearbeitet, sieht es sich dadurch gestraft, daß es nur als Sen­sation aufgenommen wurde und mit seinem eigentlichen Gehalt nicht durchdrang —, in Oswald Spenglers „Untergang des Abend­landes“, begegnet eine sehr eindrucksvolle Verwen­dung eines der allereindrücklichsten Bilder in der Literatur der ganzen Welt, der Szene: Jesus und Pilatus im Johannes-Evangelium. Der moderne Apokalyptiker glaubt sie also deuten und gleichsam weiterdichten zu dürfen: „Als Jesus vor Pilatus geführt wurde, da traten sich die Welt der Tatsachen und die der Wahrheiten unvermittelt und unversöhn­lich gegenüber, in so erschreckender Deutlichkeit und Wucht der Symbolik wie in keiner zweiten Szene der gesam­ten Weltgeschichte. Der Zwiespalt, der allem frei beweglichen Leben von Anfang an zu Grun­de liegt, schon damit, daß es ist, daß es Dasein und Wachsein ist, hat hier die höchste über­haupt denk­bare Form menschlicher Tragik angenommen. In der berühmten Frage des römi­schen Prokurators: Was ist Wahrheit? — das einzige Wort im neuen Testament, das Rasse hat — liegt der ganze Sinn der Geschichte, die Alleingeltung der Tat, der Rang des Staates, des Krieges, des Blutes, die ganze Allmacht des Er­folges und der Stolz auf ein großes Geschick. Darauf hat nicht der Mund, aber das schweigende Gefühl Jesu mit der anderen, über alles Religiöse entscheidenden Frage geantwortet: Was ist Wirk­lichkeit? Für Pilatus war sie alles, für ihn selbst nichts. Anders kann echte Religiosität der Geschichte und ihren Mächten nie­mals gegenüberstehen, anders darf sie das tätige Leben nie einschätzen, und wenn sie es dennoch tut, so hat sie aufgehört, Religion zu sein, und ist selbst dem Geist der Geschichte verfallen. — Mein Reich ist nicht von dieser Welt — das ist das letzte Wort, von dem sich nichts abdeuten läßt, und an dem jeder ermessen muß, wohin Geburt und Natur ihn gewiesen haben“ (II 262 f.). Der Verfasser fügt diesen nicht ohne große Kunst gestalteten Sätzen die Anmerkung hinzu: „Die Betrachtungsweise dieses Buches ist historisch. Sie erkennt also die entgegengesetzte als Tatsache an. Dagegen muß die religiöse Betrachtung mit Notwendigkeit sich selbst als wahr, die andere als falsch erkennen. Dieser Zwie­spalt läßt sich nicht überwinden.“

An dieser Stelle tritt, wie mir scheint, die zeitsymptomatische Bedeutung des Spenglerschen Buches in schärfstes Licht. Hier spricht der moderne abendländische Mensch sich mit der großen Ehrlichkeit aus, die auch sonst das Werk Spenglers auszeichnet und nur vom Rausch seines Pathos bisweilen überschattet wird, und be­kennt seinen religiösen Bankerott. Die Wirklichkeit, wie er sie sieht, die Wirklichkeit von Rasse und Blut, von Staat und Krieg, von Tat und Erfolg hat ihm die Wahrheit, die Wahrheit der Reli­gion, genommen; mit einer re­spektvollen Verbeugung vor ihrer „Tatsächlichkeit“ entzieht er sich ihrem Anspruch, und weist sie aus dem Kreis des tätigen Lebens. Denn wenn er „die religiöse Be­trachtungsweise als Tatsache anerkennt“, so kann nur gemeint sein: als psychologische Tatsache; eben daher nimmt sich der moderne Geist, der die Religion mit dem fragwürdigen Respekt einer über­sehenden Überlegenheit behandelt, wohl auch das Recht ihr vorzu­schreiben, was sie kann und darf und was nicht, — er, der sie doch letztlich garnicht ernst nimmt. „Der geborene Politiker verachtet die weltfremde Betrachtungsweise des Ideologen und Ethikers mitten in seiner Tat­sachen weit“ (S. 265). „Jede moralische Hand­lung ist im tiefsten Grunde ein Stück Askese und Abtötung des Da­seins, und eben damit steht sie außerhalb des Lebens und der geschichlichen Welt“ (S. 424).

Auch die Wissenschaft, die nächst und neben der Religion den Begriff der Wahrheit hochhält, fällt unter das gleiche Gericht. „Die Frage des Pilatus stellt auch das Verhältnis von Wirt­schaft und Wissenschaft fest“ (S. 592). „Logik wie Ethik sind Systeme abso­luter und ewiger Wahrheiten vor dem Geist und beide sind eben damit Unwahrheiten vor der Geschichte … Im Reich der Tat­sachen ist der Glaube an ewige Wahrheiten ein kleines und ab­surdes Schauspiel in einzelnen Menschenköpfen … Tiefe und ehrliche Denker sind immer zu dem Schlus­se gelangt, daß alles Er­kennen von seiner eigenen Form im Voraus bestimmt ist und nie erreichen kann, was man mit dem Worte meint, mit Ausnahme der Technik, in welcher die Begriffe Mittel und nicht Selbstzweck sind“ (S. 173).

Hier ist die letzte Folgerung der modernen Subjektivierung und Relativierung des Wahrheits­begriffes gezogen und mit rück­haltloser Offenheit gesagt, was Millionen im Leben betätigen, ohne es zu gestehen oder auch nur zu bedenken, in kleinlicher Gemein­heit oder großzügiger Brutalität. Meine Worte sind nicht im Sinn einer Anklage gemeint, wie sie von Katheder und Kanzel leicht hallen mag. Hinter diesem Wahrheitsverzieht des modernen Men­schen steht für ihn selbst eine lange und schmerzliche Geschichte. Seine Resignation auf die sogenannte Wirklichkeit der Tatsachen ist nicht so stolz, wie sie sich gebärdet, und macht einigermaßen aus der Not eine Tugend. Wir kennen alle diese Geschichte, aber reden nicht gerne von ihr, beides, weil sie unsere Geschichte ist. Zweimal fanden wir uns schwer enttäuscht, als wir Wahrheit suchten: von der Kirche und der Wissenschaft; Glaube und Vernunft versagten, Offenbarung und Aufklärung, Propheten und Philosophen haben getrogen, Pietisten und Idealisten geirrt, Christen und Hellenen sind gescheitert. Wohin sollen wir nun gehen?

Diese Geschichte ist unsere Geschichte, auch insofern sie die Geschichte der Universität ist, auch gerade der unsrigen. Konfessionalismus und Rationalismus haben hier eine Burg der Zuflucht und der Herrschaft gefunden; die Gemälde in unserer Marburger Aula, die von der heiligen Elisabeth über Luther und Zwingli bis zu Christian Wolff führen, erzählen davon, und zu unserem Jubi­läum haben uns unsere Kollegen Hermelink und Kaehler eine bilderrei­che und nachdenkliche Darstellung dieser Entwicklung ge­geben. Seit es Universitäten gibt, haben sie um die Freiheit und die Einheit der Wissenschaft errungen. Um dies Doppelte; denn eben dies ist der Sinn ihrer korporativen Selbständigkeit einerseits und ihrer Verbindung so vieler und so verschiedener Disziplinen in ihrer korporativen Geschlossenheit anderseits. Der Geist, der diesen Kampf führte, war stark genug, nicht nur gegen alle äußeren Widerstände und Gegnerschaften, gegen die Gewalten von Staat und Kirche mit ihren Partikularismen durchzuhalten, son­dern auch Schwäche und Verrat im eigenen Lager, die je und dann ihn heimsuchten, zu überwinden. Und man darf wohl sagen, die Freiheit ist errungen und unver­lierbar; was sie heute beeinträch­tigen mag, nubiculaetransibunt. Aber die Einheit? War sie in Zeiten geringerer Freiheit unter kirchlichen Bindungen oder aufgeklärter Despotie nicht stärker? Gibt es heute ein System der Wissenschaften, wie es je in ihrer Weise die Griechen, die Scho­lastiker des Mittelalters und etwa auch wieder die Humanisten des 18. und selbst des 19. Jahrhunderts besaßen? Problemgeschichte hat die Systematik abgelöst, und ob die Metho­de aller Wissen­schaften eine ist, die eine, die es überhaupt nur geben kann, wenn der Begriff der Wissenschaft als solcher einen Inhalt haben soll, ist heute eine ernsthaft umstrittene Frage geworden. Alle Wissen­schaften haben an Weite und Verwicklung unendlich zugenommen, aber ihr innerer Zusammenhang ist immer loser geworden. So groß der Wissenskreis sein mag, den der Einzelne vom Zentrum seiner Fachfragen aus umspannt, so klein ist dieser Kreis im Ganzen, und in mehreren Fakultäten kann man heute nur Ehrenhalber Doktor werden. Die alte Grundwissenschaft der Philosophie hat ihren enzyklopädischen Charakter verloren und ist nicht mehr wie bei den Griechen der Stamm, an dem alle anderen Disziplinen Zweige sind. Die andere Wahrheitswissenschaft kat exochen, die Theo­logie, ist nicht nur ihrer erblichen Herrschaft längst entthront, son­dern rechnet an manchen neuen Universitäten nicht einmal mehr zu den integrierenden Organen der universitas literarum. Eben aber die verlorene oder nicht erreichte Einheit der Wissenschaft bedeutet, daß der Wahrheitsanspruch, der den Kampf um die Frei­heit beseelte, unerfüllt bleibt. Denn wenn Wahrheit auf der einen Seite nur in Freiheit bestehen, weil nur in sich selbst gegründet sein kann, so kann sie auf der anderen Seite nur eine sein; nur in diesem Doppelten, in Freiheit und Einheit, wäre Wahrheit.

Sollen wir darauf verzichten, weil wir es eben müssen? Lehrt die Geschichte wirklich, daß zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, Religion und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gewählt werden muß? Es mag nicht wertlos sein daran zu erinnern, daß der Be­griff der Wahr­heit sehr alt, der der Wirklichkeit sehr jung ist. War beides im Wesen geschieden, auch als es im Wort noch nicht geschie­den war? Das müßte ja der Fall sein, wenn der Gegensatz in der Tat ein letzter, unüberwindlicher Zwiespalt wäre. Der Primat der Wirklichkeit im Leben wäre dann eben die wirkliche Wahrheit, und die Religion wie die Wissenschaft wären psycholo­gisch begreif­liche, psychologisch vielleicht auch zuweilen förderliche Flucht in die Illusion, in die Unwahrheit. Aber freilich, es könnte auch um­gekehrt sein, und der Primat der Wirk­lichkeit könnte den geozen­trischen Irrtum im astronomischen Weltbild im ethisch-histori­schen, im metaphysischen zurückführen. Eine Besinnung über diese letzte Frage des Da­seins auch gerade der Universitäten könnte auf dem Wege fortschreiten, die Wirklichkeitsbe­deutung religiöser und wis­senschaftlicher Wahrheitsüberzeugung geschichtlich zu untersu­chen. Aber dieser Weg wäre für eine kurze Stunde zu weit, und so mag der andere beschritten werden, den Sinn des Wahrheitsbegriffes selbst einer geschichtlichen Erörterung zu unterzie­hen. Das Wort ist nicht so eindeutig, wie es scheint, und die Unklarheit seines Be­griffes ist die Wurzel vieler gerade in ihrer Halbwahrheit den Wahrheitssinn verwirrenden und zersetzenden Urteile, wie wir sie von Spengler hörten. Nur auf eine, wie ich glaube, geschichtlich nicht un­wichtige, von meinem Fachgebiet her deutlich werdende Verwicklung der Sache möchte ich hinweisen; sie kommt auch in den zahlreichen und umfassenden Behandlungen des Wahr­heits­begriffes in der neueren philosophischen Literatur nicht ganz zu ihrem Recht.

Wir können dabei an die evangelische Szene wiederan­knüpfen, von der wir ausgegangen sind. Sie ist kein echtes Symbol für die Erkenntnis, die Spengler in ihr angedeutet sieht. Es liegt ihrem Schöpfer ganz fern, den Wahrheitsmenschen und den Wirk­lichkeitsmenschen, den Gläubigen und den Politiker, einander ge­genüber zu stellen. Wer das Evangelium kennt, weiß, daß es keine Charaktere schafft in den Gestalten, die es sich um Jesus bewegen läßt; sie alle reflektieren nur die Erscheinung des menschgewor­denen Gottes. So ist auch die Frage des Pilatus nicht der Ausdruck allgemeiner Skepsis, als welcher sie in der Regel genommen wird, sondern durchaus die dialogische Entgegnung auf das vorher­gehende Wort Jesu: „Ich bin dazu geboren und in die Welt ge­kommen, daß ich für die Wahrheit zeuge; jeder, der aus der Wahr­heit ist, hört meine Stimme.“ Was heißt hier Wahrheit, was ist mit Wahrheit gemeint? fragt Pilatus, der nach der Darstellung des Evangelisten die politische Unverdächtigkeit Jesu feststellen möchte. Er bekommt freilich keine Antwort; denn seine Frage be­weist ja, daß er nicht aus der Wahrheit ist, — er hat die Stimme Jesu nicht gehört. Man darf also das Schwei­gen Jesu nicht mit der Gegenfrage interpretieren: Was ist Wirklichkeit? Wahrheit hat hier vielmehr einen ganz konkreten, einen Inhalt bezeichnenden Sinn: die Erkenntnis Jesu, die Erkenntnis dessen, was er ist. Und das wird Wahrheit genannt nicht in dem formalen uns geläufigen Sinn, in dem diese wie jede sachlich zutreffende Erkenntnis Wahr­heit ist — wobei ja immer noch festzustellen bliebe, was denn nun die Wahrheit über Jesus ist —, sondern in dem prägnanten, er­füllten Sinn, daß Jesus selbst die Wahrheit ist, wie ihn dasselbe Evange­lium es anderweit aussprechen läßt: „Ich. bin die Wahrheit.“ An einen Gegensatz von Wahr­heit und Wirklichkeit ist hier nicht gedacht und kann ja nicht gedacht werden, weil eben der Aus­spruch, Jesus sei die Wahrheit, nichts anderes als gerade eine Tat­sache, eine Wirklichkeit behauptet. Viel eher aber kann man sagen: in Jesus und Pilatus treten einander zwei verschie­dene Wahrheitsbegriffe, zwei Begriffe von Wahrheit und Wirklichkeit gegenüber, der der Juden und der der Griechen, der des orientali­schen und der des hellenischen Geistes. Unsere eigene Geschichte steht unter dem Einfluß dieses doppelten Wahrheitsbegriffes, des biblisch-religiösen und des griechisch-philosophischen, ihrem Ge­gensatz und ihrer Verbindung. Diese im Christentum zur kom­plexen, spannungsreichen Einheit gewordene Doppelheit des Orients und des Hellenentums bestimmt uns geistesgeschichtlich ge­sehen ja überhaupt auf allen Lebensgebieten. Die Antike und die Bibel haben uns geschichtlich gebildet und werden somit auch wohl die entscheidenden Faktoren jeder höheren Bildung durch Schule und Hochschule bleiben müssen. Sie können es aber nur bleiben, wenn sie in ihren Sprachen verstanden, und diese Sprachen von uns gelernt werden.

Das neue Testament ist selbst das Symbol dieser Verknüpfung. Es ist ein griechisches Werk, original griechisch, nicht übersetzt, und hat Griechen zu Christen gemacht; aber es ist von hellenistischen Juden geschrieben, von Menschen, die in orientalischer Tradition wurzelten und für die das alte Testament die unbezweifelte Offen­barung aller Wahrheit der Erkenntnis und des Tuns war. Das alte Testament aber lasen diese Männer nicht in seiner hebräischen Originalsprache, sondern in griechischer Übersetzung, und das neue Testament ist, historisch gesehen, nichts anderes als die griechische Fortsetzung des ins Griechische übersetzten alten. Der Einfluß der deutschen Bibelübersetzung auf die deutsche Sprache und Literatur ist all­bekannt und oft nachgewiesen. Auch auf den weniger be­achteten der lateinischen Bibel auf die romanischen Sprachen sind neuerdings Untersuchungen gerichtet worden. Für diese be­deut­samen Vorgänge grundlegend ist es gewesen und von schlechthin weltgeschichtlicher Bedeutung ist es geworden, daß die Sprache Platons und Aristoteles’ durch die griechische Bibel die orientalischen Begriffsbildungen zu einem Ferment unseres Denkens gemacht hat. Die Spaltung, die im Judentum durch das Christentum ein­getreten ist, und in jenem eine antihellenische Reaktion bewirkte, hat uns das hebräische alte Testament erhalten. Die Ver­gleichung des hebräischen mit dem griechischen alten Testament gewährt ent­scheidende Einsichten in die innere Geschichte wichtigster Grund­begriffe unserer Sprache; denn die Ersetzung eines bestimmten hebräischen durch ein bestimmtes griechisches Wort modifiziert den ursprünglichen Sinn der Wörter in jeder der beiden Sprachen und macht das griechische Wort zum Träger von Bedeutungen, die ihm von Haus aus nicht eigen sind. So gewinnt auch das griechische Wort für Wahrheit, alḗtheia, im griechischen alten Testament und in der gesamten urchristlichen Literatur einen spezifischen Sinn, den man aus seiner griechischen Vorgeschichte nicht erkennen kann. Denn wenn wir mit den Griechen unter Wahrheit, um vorläufig so zu formulieren, einen tatsächlichen Sachverhalt und seine zutref­fende Erkenntnis bezw. Aussage verstehen, so bedeutet das hebrä­ische Wort, das in der griechischen Bibel vorherrschend mit alḗtheia übersetzt wird, zunächst etwas ganz anderes.

Es handelt sich um das uns allen aus der Gebetssitte vertraute Wort Amen. Die ursprüngliche, konkrete Bedeutung des hebrä­ischen Wortstamms ist uns im Gebrauch des Verbums noch mehr­fach deutlich. Es bezeichnet je nach der Verbalform das Stützen, Tragen oder Gestützt, Getragen werden, das aktive oder mediale Festhalten, Festsein, das Feststellen und Feststehen. Es bezeichnet z. B. einmal die Türpfosten, mehrfach in einem prägnanten Sinn die Amme oder den Wärter eines Kindes, das getragen wird, davon übertragen den Erzieher oder Vor­mund. Im Medium und Passivum gewinnt es dementsprechend die Bedeutung von Festigkeit und Dauerhaftigkeit, bezeichnet z. B. dauernde Nachkommenschaft, aber auch anhaltende Krankheit, beständig fließendes Wasser. Auch von Personen, die in ihrer politischen Stellung feststehen und nicht wanken, wird es wie unser deutsches Wort „feststehen“ ge­braucht. Von da aus entwickelt sich die Bedeutung der Verläßlichkeit z. B. eines Dieners, Boten, Zeugen, Ehegatten und der Unverbrüchlichkeit eines Wortes, Vertrages, Gesetzes, und so kommt es zur Bedeu­tung einerseits der Treue von Personen und anderseits der Wahr­heit von Aussagen, sofern man sich eben auf die betreffenden Personen oder die bezüglichen Aussagen verlassen, sich darauf stützen, sich daran halten kann. Eben dieses Sichverlassen, das Vertrauen, das Glauben ist dann der Sinn der dem hebräischen Verbum eigenen Kausativform: fest sein las­sen = als fest ansehen und be­handeln. Das berühmte Wort des Propheten Jesaias an den zwischen Krieg und Unterwerfung schwankenden König Ahas, das Luther im Anschluß an die Vulgata prächtig übersetzt: „Glaubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht“, ist im Hebräischen ein Wortspiel mit ver­schiedenen Formen unseres Stammes und wäre etwa nachzuahmen: „Wenn ihr euch nicht an mich haltet, so könnt ihr euch nicht hal­ten“ (Jes. 7, 9).

Auch das aus dieser Wurzel gebildete Hauptwort ’emunah zeigt seine konkrete Bedeutung noch in einer der uns allen durch ihre Plastik aus der Kindheit unvergeßlich eingeprägten Szenen der alttestamentlichen Geschichte. Der Wunderheld Moses stützt den Kampf seines Volkes gegen die Amalekiter durch sein Gebet; solange er die Arme betend aufhebt, siegen die Israeliten, wenn er sie ermüdend sinken läßt, die Feinde. Da stützen ihn, von beiden Seiten unterfassend, die Gefährten Aron und Hur, sodaß seine Arme erhoben bleiben, bis der sinken­de Tag die Schlacht beendet und den Sieg der Israeliten entscheidet. Hier heißt es im Hebrä­ischen, daß seine so gestützten Arme ’emunah wurden, also bestän­dig wurden, durchhielten, ausharrten. Und Bestand, Dauer ist die Bedeutung des Wortes ’emunah, bezw. der häufigeren anderen Form ’emeth auch in der ständigen Verbindung: schalom ve emeth: Friede, Ruhe, Sicherheit und Bestand, Unerschüttertheit, Dauer einer Stadt, einer Regierung, einer Zeit, eines Besitzes usw. Wie­derum bezeichnet dann auch das Hauptwort die Festigkeit, Un­erschütterlichkeit eines Gesägten, wobei es sich sowohl um die Be­stätigung eines behaupteten Tatbestandes oder Sachverhaltes durch Nachprüfung, auch eines prophetisch vorausgesagten Geschehens durch Erfahrung, wie um die Erfüllung einer zugesagten Leistung, einer über­nommenen Verpflichtung handeln kann, also wiederum in einem Begriff verbunden ist, was wir als Wahrheit und Treue Unterscheiden. Das rührt daher, weil das alte Testament eine abstrakte Wahrheit nicht kennt, die einen bloßen Sachverhalt als solchen und das Wissen um ihn bezeichnete, sondern von Wahrheit ‚ nur redet, wo das Verhalten einer Person zur anderen mit seinen Wirkungen in Frage steht. Dieses Verhalten kann immer dazu führen, daß der andere getäuscht wird und zu Falle kommt, daß er nicht bestehen kann, weil eine Aussage oder Zusage, auf die er sich gestützt hat, sieh nicht als ernsthaft, als tragfähig erweist, oder aber dazu, daß er gewiß wird, daß er Stand hält, weil eine Aussage oder Zusage, auf die er sich stützt, die Probe besteht und sich in der Erfahrung als tragfähig bewährt.

Für den hebräischen Wahrheitsbegriff ist es daher vor allem charakteristisch, daß die Wahr­heit nicht nur wie bei uns gewußt, gesagt, gehört und gegebenen Falles verkannt, verhüllt, verleugnet werden kann, sondern daß sie getan wird, daß sie geschieht. Und zwar handelt es sich dabei nicht um die Folgerung, die das Tun aus einem erkannten Sachverhalt zöge, son­dern um völlig freies Han­deln von Personen an Personen. An den Stellen, an denen vom Tun der Wahrheit die Rede ist, ist stets gemeint die Erfüllung, die Gewährung und Bewährung dessen, was einer vom anderen erbittet oder erwartet, dessen er sich vom anderen versieht, also der Erweis der Treue, die Erfüllung des Vertrauens. „Erweise mir Gunst und Wahrheit (um ‚emunah gegen unseren Sprachgebrauch, der etwa Treue fordern würde, hier so zu übersetzen), begrabe mich nicht in Ägypten“; so beschwört der sterbende Jakob seinen Sohn Joseph. Mit den Werkleuten am Tempelbau wird über das ihnen zur Ma­terialbeschaffung übergebene Geld nicht abgerechnet; sie arbeiten „in Wahrheit“, d. h. sie verwenden das Geld dazu, wozu es gegeben war. So heißt auch einmal ein fruchtbarer Weinstock ein wahrer Weinstock; der Gegensatz wäre nicht etwa ein Weinstock, der bo­tanisch keiner ist, sondern einer, der die Frucht des Weines nicht bringt, die Pflicht des Weinstockes nicht erfüllt, ein individuell ver­sagender Weinstock. Wahrheit ist somit dasjenige Verhalten, welches eine jeweils bestimmte Erwartung, einen bestimmten An­spruch erfüllt, ein gesetztes Vertrauen rechtfertigt. Wenn daher im alten Testament immer wieder von Gott ausgesagt wird, daß er Wahrheit tue, wirke, bringe, oder daß er ein Gott der Wahrheit sei, wenn auf seine Wahrheit immer wieder Berufung erfolgt — „er­höre mein Gebet in deiner Wahrheit“ —, so ist unter der Wahrheit Gottes zunächst nicht verstanden, daß er wirklich, tatsächlich Gott ist, also das ist, wofür er gehalten, und nicht irrig dafür gehalten wird, sondern daß er erfüllt, was man von ihm als Gott, weil er Gott ist, erwartet, daß er sich als mächtig, gütig, gerecht erweist, daß er die Zukunft bestimmt. Dadurch erweist er sich freilich in der Tat als der wirkliche Gott, aber primär ist nicht daran ge­dacht, daß er sein Dasein beweist, sondern daß er sein Wesen betätigt. Und so bezeichnet mit Fug dasselbe hebräische Wort das rechte Verhalten des Men­schen gegen Gott, eben das seiner Erwartung und Forderung, seinem wahren, d. h. unver­brüchlichen Gesetz entsprechende. So gewinnt das Wort ’emunah den Sinn von Recht und Gerechtigkeit und nimmt ein ethisch Normhaftes in sich auf, wie es denn oft mit Gericht und Gerechtigkeit zusammengestellt und vom gerechten Richten häufig gebraucht wird. Aber es bleibt bewußt, daß das mit ’emunah bezeichnete Verhalten oder Ge­schehen nicht ein im Sinne kausaler oder logischer Notwendigkeit determiniertes ist; es bleibt ein freies Verhalten, ein kontingentes Geschehen, und deshalb wird Wahrheit im alten Testament nicht weniger oft als mit Gerechtigkeit mit Güte, Gunst, Gnade, Erbar­men zusammengestellt, weil es sich ja nicht um einen erzwingbaren Anspruch, sondern um freie Gabe dabei handelt.

Das Eigentliche des hebräischen Wahrheitsbegriffes ist somit einerseits seine zeitliche Gerich­tetheit, sein spezifisch geschichtlicher Charakter. Es handelt sich immer um etwas, das sich ereignet hat oder ereignen wird, nicht um etwas, das von Natur ist, so ist und so sein muß. Wirklichkeit und Wahrheit wären hier insoweit schlechterdings nicht zu unterscheiden, son­dern Wahrheit ist die als Geschichte gesehene Wirklichkeit. Wahrheit ist nicht etwas, was irgendwie unter oder hinter den Dingen liegt und durch Ein­dringen in ihre Tiefe, ihr Inneres gefunden würde; sondern Wahr­heit ist das, was sich in der Zukunft herausstellen wird. Der Gegensatz zur Wahrheit wäre sozusagen nicht eigentlich die Täu­schung, sondern wesentlich die Enttäuschung (wie wir das Wort zu brauchen pflegen). Was Dauer, Bestand, Zukunft hat, ist wahr, somit insbesondere das Ewige als das Unvergängliche, Bleibende, Endgültige, End­zeitliche. Das Gesetz des Geschehens wäre Wahr­heit für den Hebräer nicht im Sinne einer in allem Geschehen immer wieder bestätigten Regelmäßigkeit, Naturgesetzlichkeit, sondern im Sinne der erfüllten Bestimmtheit seines einmaligen Ab­laufs, seiner gottgesetzten Rechtmäßig­keit. Amen heißt, wie uns der Katechismus richtig belehrt, nicht: wahrlich, so ist es, sondern: wahrlich, es soll also geschehen, und wo die griechische Bibel Amen nicht mit alḗthõs übersetzt, sagt sie: génoito. Zum anderen ist hervorzuheben, daß Wahrheitsfragen für den Hebräer nicht eigent­lich Fragen über das So- und Anderssein von Dingen sind, sondern Fragen über das Sein oder Nichtsein des daran interessierten Men­schen selbst. Er erfaßt im Wahrheitsgedanken nicht ein Struktur- oder Funktionsverhältnis, sondern ein Schicksal, eine Lebensfüh­rung. Damit ist gegeben, daß Wahrheit grundwesentlich für die Bibel nicht ein Gedachtes, sondern ein Gewolltes, nicht ein Er­kanntes, sondern ein Erreichtes ist, auch wo ihr jeweiliger Inhalt in einer Erkenntnis besteht oder darauf beruht. Wenn dem aber so ist, so modifiziert sich für den Hebräer die Frage nach der Gewißheit der Wahrheit. Über sie entscheidet nicht irgend ein induk­tiver oder deduktiver Beweisgang, sondern nur der Fortgang des Geschehens. Ungewiß ist daher die Wahrheit immer nur, sofern die Entscheidung zur Zeit noch aussteht; sofern sie aber unfehlbar eintritt, ist sie gewiß. Ungewiß ist sie auch insbesondere, sofern ihr Eintreten nicht in menschlicher Macht steht, aber eben als eine vom Menschen unabhängige, göttliche Entscheidung ist sie von schicksalhafter Gewißheit. Ganz unmöglich ist daher auf diesem Boden des hebräischen Wahrheitsbegriffes der Gedanke einer rela­tiven Wahrheit, die nur unter irgendwelchen umständlichen oder persönlichen Bedingungen gelten und für den einen anders sein oder erscheinen könnte als für den anderen. Das im Sinn der Er­wartung, nicht des Dafürhaltens, des Vertrauens, nicht der Mei­nung, auf Autorität, nicht auf Wahrscheinlichkeit Geglaubte tritt entweder ein oder nicht: aber es kann nicht für den einen eintreten und für den anderen nicht, und die Tatsache, nicht die Anerken­nung entscheidet.

Wo ist die Berührungsstelle des so umschriebenen hebräischen Wahrheitsbegriffes mit dem griechischen, dessen Wortzeichen die griechische Bibel zu seiner Übersetzung verwendet, und der durch die Griechen auch der uns beherrschende geworden ist? ’Alḗtheia, eine der charakteristischen Privativbildungen, die zum Reichtum der indogermanischen Sprachen gehören, während sie den semiti­schen fehlen, ist in seiner Etymologie ja deutlich: das was nicht lḗthei,was nicht verborgen, unbekannt, unerkannt, sondern offen­sichtlich, erschlossen, bekannt und erkannt ist. alḗtheia bezeichnet den tatsächlichen, wirklichen Sachverhalt als einen gewußten, er­schlossenen, entdeckten und erscheint deshalb stets mit Verben der Wahrneh­mung — sehen, hören, erfahren, finden, suchen — und der Mitteilung — sagen, künden, schreiben, zeigen, bezeugen -— nie­mals aber mit tun, da der mit alḗtheia bezeichnete Sachverhalt immer schon vorhanden sein muß, ehe er erkannt wird; nur seine Erkenntnis, nicht aber sein Bestand kann zukünftig sein. Der grundlegende Fortschritt der Griechen ist der Bruch mit dem un­befangenen Realismus orientalischer Tradition und die Erkennt­nis, daß alles Seiende zunächst im Spiegelbild des Bewußtseins ist, damit also der Fortschritt zur erkenntniskritischen Fragestellung als der Grundfrage. Gegensatz zu alḗtheia ist also der nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmende Schein (dóxa) oder Irrtum (pseṹdos) oder die Vorstellung (phantasía) oder die Nachahmung (mímesis) oder die Dichtung (mýthos). Wahr ist, um Aristoteles’ be­rühmte Definition zu wiederholen, ein Urteil, welches vom Seien­den aussagt, daß es ist, und vom Nichtseienden, daß es nicht ist. Irgend ein Interesse des Fragenden kommt dabei grundsätzlich nicht in Betracht. Da nun das Nichtseiende nicht ist, somit eine Unwahrheit niemals an sich, in den Dingen, sondern immer nur in unserem Urteil sein kann, so ergibt sich, daß auch Wahrheit dia­lektisch in unserem Begreifen der Dinge ist und nicht in den Din­gen selbst. Indessen eben diese ausschließende Bindung des Be­griffes der Wahrheit an die Qualität eines Urteils ist nicht ursprüng­lich und verschließt den eigentlichen Sinn des griechischen Wahr­heitsbegriffes, der das Sein freilich als ein erkanntes und aus­gesagtes, aber doch eben als ein erkanntes und ausgesagtes Sein und somit gerade das Sein an sich, das Sein als solches bezeichnet. Aristoteles setzt prãgma, das griechische Wort für Tatsache, gele­gentlich geradezu gleich mit alḗtheia. Eben dies charakterisiert das griechische Denken, daß ihm das richtig Gedachte wirklich ist, also das vernünftige Denken der Maßstab des Seins, das entscheidende Mittel der Seinserkenntnis wird. Die Begriffe Wahrheit und Wirk­lichkeit sind also auch hier nicht geschieden, ebenso wie sich im Be­griff der dóxa der gleichsam objektive Schein und die subjektive Meinung verbinden. Zunächst bezeichnet alḗtheia stets den Sach­verhalt, der gerade in Rede steht, und es gibt somit unendlich viele Wahrheiten. Die Adjektiva alēthḗs und alēthinós bezeichnen in unsicherer Scheidung von einander die Wirklichkeit und Echtheit dessen, zu dem sie gesetzt werden; sie bezeichnen es als wirklich vorhanden, bezw. wirklich der Norm des Begriffes entsprechend, und bezeichnen demgemäß natürlich auch ihrerseits die Qualität einer wahren Aussage oder eines wahrhaftigen Menschen. Plato wagt das Oxymoron „der wahre Irrtum“ und versteht unter ihm die eigene Täuschung, den Irrtum der wirklichen Unwissenheit, im Unterschied zu der weit weniger schlimmen Verhüllung oder Ver­leugnung des Gewußten im andere absichtlich täuschenden Wort, das ja keinen Mangel an Erkenntnis bedeutet und unserer Schwach­heit im Lebenskampf bisweilen unentbehrlich ist. So wird in der griechischen Philosophie das Wort alḗtheia prägnant zur Bezeichnung des Seienden im absoluten Sinn, des Wesens, der Natur der Dinge. Der die Geschichte der griechischen Philosophie erfüllende Streit, ob das Sein, das Wesen der Welt erkannt werden kann oder nicht, und wie es erkannt werden kann, der Streit um Wert und Unwert der Dinge und der Vernunft in dieser Beziehung, der Streit um den dialektischen oder mystischen Charakter der Vernunft, der Streit um die Wahrheitskriterien und der Streit um die Bestim­mungen des Seins selbst, sein Verhältnis zum Raum, zur Zeit, zum Stoff, zur Bewegung, seine Formen und Stufen, — der ganze un­endliche und unerschöpfliche Reichtum feinster Beobachtung und schärfsten Nachdenkens, der sich in dieser Geschichte ausbreitet, in der wohl nicht ein den Menschen möglicher Gedanke ungedacht geblieben ist, darf uns hier nicht beschäftigen, weil in all diesem Streit der Grundbegriff der Wahrheit als eben des Seins und der Seinserkenntnis feststeht.

Wenn die Wahrheit immer wieder unter den hauptsächlichen Tugenden aufgezählt wird, so ist damit nicht nur die bloße Ehr­lichkeit, die subjektive Wahrhaftigkeit gemeint, die nicht wider besseres Wissen redet. Der Grieche hat viel feiner und strenger als wir gemeinhin empfunden, daß unsere Verantwortung auch die objektive Wahrheit umfaßt. In der Vereinigung absoluter Wissens- i Wahrheit und absoluter Wahrhaftigkeit in Wort und Tat erfüllt sich ihm das Ideal des Seins, und eben diese Vereinigung er­scheint Platon als Wesen des allwissenden und in seiner All­macht keiner Lüge bedürftigen Gottseins. Demgemäß ist es von höchster Bedeutung, daß eben deshalb, weil die Wahrheit für den Griechen das erkannte Sein ist, auch gerade sein eigenes, sie für ihn keineswegs nur theoretisches, sondern unmittelbares und höchstes praktisches Interesse hat, sofern eben diese Er­kenntnis für den Erkennenden Sein, Leben bedeutet, und jede richtig erkannte Wahrheit den Wert der aretḗ, der Kraft, der Tu­gend, der Tüchtigkeit, jedes Wissen den Wert des Könnens hat. Auch der Grieche kann die Wahrheit tun (der Ausdruck freilich be­gegnet nicht in genuin griechischer Sprache), sofern er der Wahr­heit = der Natur gemäß lebt, sofern die Wahrheit fördert und der Irrtum schadet, wie unendlich oft gesagt wird. Auch für den Grie­chen ist also von hier aus die Frage nach der Wahrheit die Frage nach dem, was besteht und Bestand verbürgt, was vor dem Ver­gehen bewahrt bleibt und bewahrt. Eben darauf beruht ja der griechische Glaube an die Lehrbarkeit der Tugend und die grie­chische Überzeugung, daß alles Irren, alles Sündigen letztlich wider Willen, weil wider besseres Wissen und eigentliches Interesse des Menschen geschieht, also den Charakter des Irrtums und der Schwäche hat.

Das Entscheidende des griechischen Wahrheitsbegriffes ist demnach, daß die Wahrheit Er­kenntnis, Wissen (epistḗmē) ist, präg­nant aber Wissen vom Sein, seinem Was und seinem Wie. Dabei verharrt jedoch das Wissen nicht in einer ewigen Entfernung von seinem Gegen­stand, sondern ist mit ihm lebendig verbunden, sodaß man sagen kann: für den Griechen ist Wissen, Wahrheit im Sinn des Gewußten das Sein in seinem Vollzüge, also wiederum durch­aus Wirklichkeit. Die Erkenntnis aller Dinge weggedacht, wäre auch die Unsterblichkeit, wie Plutarch einmal sagt, nur Zeit, nicht Leben. Diese Grundstellung ist allen noch so verschiede­nen Be­stimmungen der Wissensmöglichkeit gemeinsam und sehr charak­teristisch verschieden von dem hebräischen Wahrheitsgedanken, der keine gesetzmäßige, seinshafte Verbindung von Wahrheit und Denken kennt, sondern für den die Wahrheit dem Denken stets irrational, kon­tingent gegenübertritt und Sache der Offenbarung, nicht der Erkenntnis, der Gnade, nicht der Natur ist. Dennoch ver­steht sich wohl, wie beide Wörter, ’emunah und alḗtheia, einander ersetzen konnten. Sie treffen von den gekennzeichneten verschie­denen Grundbedeutungen aus nicht nur in einzelnen wichtigen und häufigen Anwendungen zusammen, sofern beide einen tatsächlich bestehenden Sachverhalt, beide die zutreffende Erkenntnis und die aufrichtige Aussage davon, beide also die Richtigkeit und Wahr­haftigkeit bezeichnen, sondern auch darin, daß beide eine wirkliche, Leben bedingende Norm des Verhaltens und einen wirkli­chen, Leben bedeutenden Wert bezeichnen, daß in beiden das gesicherte und vollendete Sein gemeint ist, wenn auch dieses Sein selbst und der Zugang zu ihm, wie angedeutet, charakteri­stisch verschieden ge­faßt werden. In beiden Sprachen gewinnt deshalb, wie wir sahen, das Wort auch eine prägnant religiöse Bedeutung, bezeichnet spe­zifisch göttliches Sein und Vermögen wie göttliche Gabe und For­derung, aber wiederum in charakteristisch verschie­dener, etwa als theistisch und pantheistisch zu unterscheidender Fassung. Für den Griechen ist der Begriff des Seins der Maßstab für den Gedanken Gottes, für den Hebräer das Sein die von Gott geschaffene Wirk­lichkeit; für jenen ist Gott der Inbegriff der Natur, für diesen der Urheber der Geschichte. Ein Seitenblick auf die Darstellung des Göttlichen in griechischer und orientalischer Kunst wäre lehrreich. Jene sucht ideale Natürlichkeit in reinsten Typen, diese bildet das unnatürlich Übernatürliche, das Dämonische. Wir dürfen das Orientalische gegenüber dem Griechischen, die Bibel gegenüber Platon ja nicht als das Primitive gegenüber dem Entwickelten, das Naive gegenüber dem Kritischen ansehen. Das trifft formell zwar durchaus zu; aber diese das Wesentliche garnicht berührenden Un­terschiede dürfen uns die grundsätzlich, nicht formell oder graduell verschiedene Weise des Weltverstehens und Welt­verhaltens beim orientalischen und beim griechischen Menschen nicht verkennen lassen; sie kommt in der verschiedenen Bestimmung des Wahrheits­begriffes bei beiden deutlich zum Ausdruck und ließe sich mit prägnanter Kürze vielleicht so formulieren, daß für den Griechen Wahrheit grundlegend Sache des Verstehens, für die Bibel Sache des Bestehens ist.

Die Geschichte nun hat dies Verschiedene, dem in seiner mannigfaltigen Ausprägung weiter nachzugehen reizvoll wäre, verbunden, und die Verbindung zu bedenken ist nicht minder wichtig als die Verschiedenheit zu erkennen. In der Verbindung bewahrt jeder der beiden Wahrheitsbegriffe seine ihm eigentüm­liche Bestimmtheit, aber es kommt zu höchst bedeut­samen Austauschungen und Kombinationen ihrer Wesenszüge, ihrer Funk­tionen. In jenem in seinen Stadien und Zeiten immer noch nicht in erwünschtem Maß aufgehellten großen geistes- und religions­geschichtlichen Prozeß, in dem Hellas und der Orient einander schon in vorchristlicher Zeit durchdringen, dem sogenannten Syn­kretismus, bildet sich ein Gedanken­system, das man ebensogut als Wissenschaft wie als Religion ansprechen kann, und dessen lei­tende Idee das Leben durch Erkenntnis ist. So formuliert klingt das zunächst ja völlig griechisch. Aber bei näherem Zusehen steckt in diesen griechisch anmutenden Formen ein anderer Gehalt. Denn das Leben, das hier gemeint ist, ist Leben im Sinn eines gegen alle Vergänglichkeit gesicherten Bestehens, und die Erkenntnis, die hier gemeint ist, ist nicht eine Entdeckung, sondern eine Offenbarung und hat nicht allgemeinen, sondern höchst konkreten Inhalt, näm­lich eben das Wesen des neuen, des kommenden, des zukünftigen Lebens und die Bedingungen oder Mittel, seiner teilhaftig zu wer­den. Das Leben, um das es sich hier handelt, ist im Unterschied von dem griechischen Begriff ganz gelöst von der gegebenen Natur und ist nicht ihre Vollendung, sondern ihre Aufhebung. Ebenso ist die Erkenntnis, die hier gemeint ist, ganz gelöst von den Sinnen wie von der Vernunft und hat nicht den Charakter der Auto­nomie, sondern den der Autorität. Demgemäß ist auch der Wahrheits­begriff, der in diesem System eine grundlegende Stelle hat, nicht charakterisiert durch eine Beziehung zur allgemei­nen Wirklichkeit als ihre logisch-ethische Durchdringung, Regelung, Befestigung, Vollen­dung, sondern durch den Gegensatz zu ihr. Die Wahrheit ist Licht und nicht Dunkel, Geist und nicht Körper, Reinheit und nicht Mischung, und was sonst an gleichartigen antithetischen Be­stimmungen begegnet. Sie ist weiter nicht allgemein, sondern wird nur Erwählten, Erleuch­teten, Begnadeten geschenkt und wird nur durch solche vermittelt; sie ist Erlösung, ist Sakra­ment. Hier haben wir also den Dualismus zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, Zeit und Ewigkeit, Natur und Übernatur, wobei aber eben doch die Wirklichkeit, die Zeit, die Natur irgendwie von ihrer eigenen Ungesichertheit, Unbeständigkeit, Unvollkommenheit, Unwahrheit weiß und sich insofern eben nicht für die eigentliche, letzte, ganze Wirklichkeit hält, bezw. nur in ihrem auch in der Gegensätzlichkeit irgendwie gegebenen Anteil an der Wahrheit ihre Wirklichkeit sieht und sucht. Zugleich wird anderseits die Wahrheit als eine andere, höhere, neue Natur, aber nicht eigentlich als Geschichte gesehen. Entweder kann das so gedacht werden, daß die Wahrheit wie ein in Hüllen gebundener, gefesselter Keim, wie ein unter Asche glimmender Funke gefaßt wird, der sich entfalten, Fesseln sprengen und Widerstände verzehren wird, oder so, daß die Wahr­heit in der gegebenen Wirklichkeit überhaupt nur als Erkenntnis, als eschatologische Erkenntnis ist. Ganz scharf ist beides nicht ge­schieden, ebenso wie sphärisch-räumliche Vorstellungen von einem Oben und Unten, auch etwa einer Mitte, und periodisch-zeitliche von einem Jetzt und Einst, das als künftiges, endzeitliches Einst meist die Wiederkehr des urzeitlichen, vormaligen ist, neben ein­ander her und in einander übergehen. Auf diese Verschieden­heiten in der Ausführung des dualistischen Wahrheitssystems, für dessen Gestaltung und Verbreitung die Forschung der letzten Jahrzehnte immer neue Zeugnisse gewönnen hat, kann ich jetzt nicht eingehen und darf nicht versuchen zu umreißen, was sich etwa über seine Vorgeschichte vermuten ließe und über die Haupt­streitfrage zu sagen wäre: die nach dem inneren Anteil griechischen Geistes daran, der hier gleichsam pervertiert erscheint.

Es handelt sich jetzt nicht um den Ursprung und die Vor­geschichte, sondern um die Nach­geschichte und die Wirkung, näm­lich um die eigentümliche Umwandlung der dualistischen Wahr­heitsmystik im Christentum, seiner Kirche und seinem Dogma. Das Christentum ist — wenn wir es vor und abgesehen von seiner Verstaatlichung durch Konstantin betrachten und wenn wir weiter absehen von den Personen, die mit dem Einsatz ihres Lebens sein Leben gezeugt und gestaltet haben, — geschichtlich bestimmt durch drei Hauptfaktoren: erstens das alte Testament, zweitens die eben skizzierte vorderorientalische, hellenistische Gnosis, drit­tens die stoisch-neuplatonische Philosophie. Gnosis und Philosophie wirk­ten zunächst durch Judentum vermittelt, um dann das Christen­tum vom Judentum zu lösen. Es ist strittig, in welcher Zeit, auf welchen Wegen, in welcher Stärke und Bedeutung der zweit­genannte Faktor, die Gnosis, gewirkt hat; strittig ist insbesondere, wie weit in der urchristlichen Litera­tur die Sprache, wie weit der Gedanke gnostisch ist. Geschichtlich sicher ist, daß in einer großen, die werdende katholische Kirche im zweiten Jahrhundert durch­ziehenden Krisis unter dem Stichwort Gnosis eine radikale Aus­prägung dieser Art und ein radikal dualistisches Verständnis des Urchristentums und seiner Schriften ausgeschieden worden sind. Der Kampf ging dabei ganz wesentlich um das alte Testament, das für die gnostischen Christen nicht „aus der Wahrheit“ war und keine Zukunft hatte, sondern zur vergehenden Welt gehörte; der Kampf geht damit um den Schöpfungscharakter der Geschichte. Mit der urchristlichen Tradi­tion, für welche das alte Testament die grundlegende Gottesoffenbarung ist, die als die Prophetie auf Jesus, als die auf ihn hin sich bewegende Geschichte auch den Glauben an diesen entscheidend trägt, verbindet sich in diesem Kampf die spätgriechische Philosophie, für die der supranatura­listische Dualismus der Gnosis unannehmbar ist, weil er das Nicht­seiende und Undenkbare für wahr hält, die Wirklichkeit entwirklicht, alle Werte entwertet, die Natur und die Moral entgottet. Als eine Synthese von biblischer Offenbarung — neben das festgehal­tene alte Testament tritt das neue — und idealistischer Philo­sophie, als eine Synthese von Judentum und Griechentum, hat sich das katholische, das weltgeschichtliche Christentum konstituiert.

Nicht als ob das gnostisch-dualistische Element rest- und wirkungs­los ausgeschieden worden wäre. Mein Lehrer, Adolf v. Harnack, der nach dem großen Tübinger Ferdinand Christian Baur den Prozeß des Entstehens des katholischen Christentums aus den vorgenannten Fakto­ren in einer Weise aufgezeigt hat, die für alle mit diesen Dingen Befaßten Grundlage und Rahmen der Weiter­arbeit bestimmt, hat ihn als Verkirchlichung der Gnosis beschrie­ben, und das erweisen immer ausgedehntere und methodisch ver­schärfte Untersuchungen als zutref­fend. Aber diese Verkirchlichung bedeutet eben eine Reduktion auf das mit dem alten Testa­ment und der Philosophie, d. h. mit einem einheitlichen, geschicht­lichen Wirklich­keitsbegriff Vereinbare, wiewohl dabei auch das, alte Testament mit Hilfe einer allegorischen Exegese gnostizistisch gedeutet und die Philosophie mit Hilfe einer mystischen Dialektik gnostizistisch überbaut wird. Des ungeachtet ist es von auschlaggebender Bedeutung, daß für das Christen­tum, wie es die Religion des Abendlandes wurde, zwei große Kriterien der Wahr­heit, nur diese beiden und sie fest verbunden, in Kraft bleiben: die Bibel und die Vernunft, die Offen­barung und die Natur. Entschei­dend bestimmend dafür war nicht etwa irgend eine Scheu, im Glauben über die Schranken der Sichtbarkeit und Denkbarkeit hinauszugreifen, und ein Wunsch, die Religion auf die Krücken der Philosophie und des Möglichen zu stützen, sondern vielmehr das Gebot, mit der Herrschaft des geglaubten Gottes Ernst zu machen, von seiner Allmacht nichts Seiendes auszunehmen, und den Glauben Leben und Arbeit, nicht Transzen­dentalphilosophie, ihn Geschichte und nicht Mystik werden zu lassen.

Es ist bekannt, wie die beiden im geschichtlichen Christentum zusammengespannten Ele­mente immer wieder auseinander und gegeneinander strebten. Seine ganze Geschichte ist erfüllt von einem großen geistigen Kampf, in dem jedes von beiden entweder das Andere ausschließen und sich seiner Kritik entziehen will — in reiner vernunftfreier, gläubiger Theo­logie oder reiner, glaubens­freier, vernünftiger Philosophie — oder jedes das Andere ganz in sich hineinnehmen möchte als vernünftige Theologie oder gläubige Phi­losophie. Diesen Kampf in seinen Hauptepochen hier vorzuführen, muß ich mir versagen. Stets hat die christli­che Kirche, von ihm in den eigenen Grundfesten erschüttert, an der Synthese festgehalten, und die Unterschiede der großen christlichen Konfessionen beruhen nicht darauf, daß sie wech­selnd auf Bibel oder Vernunft das entscheidende Gewicht legen, sondern durchaus darauf, wie sie beides in seiner Polarität bestimmen. Es gilt eben beides scharf geschie­den zu halten und weder zu vermischen noch zu verwechseln, und doch beides streng verbunden zu halten und nicht von einander reißen zu lassen. Alle Reformationen in der Geschichte des Christentums wenden sich stets gegen beide Gefahren, und die ge­fährlichsten Krisen entstehen immer dann, wenn die eine Gefahr scharf gesehen und darüber die andere übersehen wird, sodaß die bek­annte Flucht aus der Charybdis in die Scylla fallen läßt.

Das spezifisch charakteristische Erzeugnis dieser immer neu erstrebten kritischen Synthese von Offenbarung und Vernunft ist bekanntlich das Dogma, d. h. die Aufstellung von Sätzen, die Recht und Wahrheit zugleich sein wollen. Das Wort Dogma bezeichnet, abgesehen von seinem christlichen Gebrauch, entweder Rechts- oder Lehrsätze; für das kirchliche Dogma aber ist charakteristisch, daß es als Lehrsatz grundsätzlich absolutes Recht und als Rechtsatz grundsätzlich; absolute Wahrheit in Anspruch nimmt. Es setzt die Autorität des Gesetzes der Vernunft entgegen, aber nur weil es der höchsten Vernunft zu genügen behauptet. Es verlangt die Unter­werfung des Gehorsams, aber nur weil es den freiesten Glauben zu überzeugen gewiß ist. Das vielberufene „credo quia absur­dum“ ist nie mehr als eine Abweisung mensch­lich beschränkter, vulgär geschichtsloser Vernunftkritik gewesen, hat aber niemals den Un­sinn zur Wahrheit erheben wollen. Das Dogma will viel­mehr mit einem höchst charakteristi­schen theologischen Ausdruck Heilswahrheit aussagen. Es will aussagen, worauf faktisch, ge­schichtlich, wirklich unser Heil, unser Bestand beruht. Es will uns unseres Heils versichern, indem es dieses als in einer abgesehen von unserer eigenen Setzung existierenden Wahrheit mitgesetzt auf­weist. Es ist ohne weiteres deutlich, daß eben damit unser Heil an dieser Wahrheit, daran daß sie wirklich Wahrheit ist, hängt. Para­dox ist es aber zunächst, daß das Dogma den Glauben an es selbst — sei es auch nur als fides implicita — zur Heilsbedingung macht. Denn wenn diese Wahrheit Wirklichkeit ist, so scheint ihr der Un­glaube nichts ab­brechen zu können, und wenn sie es nicht sein sollte, so würde sie der Glaube nicht aufzurich­ten vermögen. Diese Forderung des Dogmas versteht sich nur, wenn entweder — auf grie­chische Weise — angenommen wird, daß nur die Erkenntnis der Wahrheit als der Natur der Dinge an ihrem Sein teilhaft mache, oder — auf hebräische Weise —, daß die Wahrheit als die Macht der Zukunft, als die geschehende Geschichte, ihre sich voll­ziehende, bestimmt gerichtete Bewegung den Menschen vor die Entscheidung für oder wider sie stelle und damit vor die Wahl zwischen Gehorsam und Gericht, Leben und Tod. Wieder zeigt die Dogmenge­schichte in sehr interessanter Weise beide Gedanken, den griechischen und den hebräischen, verbunden. Und sie zeigt in ihren Krisen das Verhängnis der Verwechselung, vor dem man sich nicht flüchten darf in das der Zerreißung.

Die Verbindung von Recht und Wahrheit ist nicht nur phäno­menologisch das Kriterium des Dogmas, sofern sie sein historisches Charakteristikum ist; sondern sie ist eben damit Kriteri­um auch in dem Sinne, daß das konkrete Dogma immer wieder selbst an seinem eigenen An­spruch, Einheit von Wahrheit und Recht zu sein, gemessen wird. Der Kritik des Dogmas an seiner eigenen For­derung muß es sich unterwerfen, mögen sich seine geistlichen Wächter auch sperren. Mit Recht aber weist es Kritik an einem fremden, seiner Wahrheitsidee unan­gemessenen Maßstab natur­rechtlicher Vernunft oder legalistischer Tradition zurück. Aller Kampf für und gegen das Dogma in der Geschichte geht in den letzten und entscheidenden Motiven — von allerlei sekundären und unreinen, die sich einmischen, dürfen wir absehen — davon aus, daß die Wahrheit Recht und das Recht Wahrheit sein solle, — in der Erkenntnis, daß nichts Geringeres als das Leben selbst von der Wahrheit abhängt. Deshalb ist der schärf­ste Kampf gegen ein Dogma ohne Wahrheit und Recht wie gegen ein Wahrheit und Recht beugendes Mißverstehen und Mißbrauchen des Dogmas nicht von den Lebensmächten geführt worden, die unter dem heteronomischen Druck des Dogmas litten — Wissenschaft und Kunst, Staat und Wirtschaft, Blut und Geschlecht —, sondern von der Re­ligion selbst, von dem Gewissen des Glaubens, der nicht von der Wahrheit frei, aber nur von der Wahrheit gebunden sein will. Und es besteht für die Menschheit keine ernstere Gefahr als eben diese, daß sie den Kampf gegen ein Dogma, das nicht Wahrheit und Recht ist, radikalisiert zu einem Kampf gegen die Bindung an die Wahrheit überhaupt, gegen das Recht der Wahrheit und unter dem schönen Schein der Toleranz der Skepsis, unter dem des Libe­ralismus der Verantwortungs­losigkeit Raum gibt. In einem solchen Kampf verhüllt — wenn ich ein militärisches Bild brauchen darf — der taktische Erfolg die strategische Niederlage; hier wird die Welt um den Preis des Lebens gewonnen und somit verloren. Und auf dasselbe kommt jeder der immer erneuten Versuche hinaus, durch schiedlich-friedliche Abgrenzung der Lebens- und Glau­bens­gebiete in je einer eigenen Autonomiesphäre der Wahrheitsfrage auszuweichen. Die Wahrheit ist eine in Wirtschaft und Wissen­schaft, in Staat und Kirche; sie ist eine für Leib und Seele, für Juden und Griechen, Christen und Menschen; denn sie ist das Le­ben. Sie ist aber in dieser ihrer Einheit immer die Verbindung von Natur und Geschichte, von Tatsache und Tat, Feststellung und Ent­scheidung, Wissen und Gewissen. Je dies beides darf nicht ver­wechselt, aber auch nicht vereinzelt werden. Es gibt eine abstrakte Wahrheit so wenig wie eine abstrakte Gesundheit, eine abstrakte Gerechtigkeit, abstraktes Leben, abstrakte Geschich­te, und alle Normen bedingen, aber bewirken nicht. Eine richtige Entschei­dung setzt die kritische Kenntnis von Tatbeständen und Sachver­halten voraus, aber ergibt sich nicht aus ihr, sondern muß im Glau­ben vollzogen werden. Die Zeiten sind wohl vorüber, in denen es für einen wissenschaftlichen Menschen nicht wohl anständig war, sich zur Verantwortung eines Glaubens zu bekennen; es kommen hoffentlich nicht Zeiten, in denen die schwärmerische Verachtung von Vernunft und Wissenschaft für das Zeichen von Wahrheit gilt. Die Wahrheit streift haarscharf an das, was man heute Pragmatis­mus nennt — daran zu streifen muß man den Mut haben —, und ist doch haarscharf davon geschieden — die Grenze einzuhalten muß man das Gewissen haben; denn die Wahrheit ist Tun, sie ist Geschichte, aber sie ist nicht der feile Anwalt, sondern der unbe­stechliche Richter unseres Tuns, sie ist das Gericht der Ge­schichte und Geschichte des Gerichts. „Wir vermögen nichts gegen die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit.“

Wonach sollen wir uns aber richten im Tun und im Denken, das unser Tun vor- und nach­bedenken soll, wenn unser Denken ehrlich und unser Tun entschlossen ist? Wie wird Wahr­heit Recht und wann ist Recht Wahrheit? Nietzsche sagt einmal: Wahrheit heiße es, wenn herdenweise gelogen werde. Die höchst berechtigte ernste Warnung, die wir hier hören, darf uns nicht verschließen gegen eine Wahrheit, die durch die hier angedeutete Gefahr ihrer Ver­kehrung nicht aufgehoben wird, sondern vor ihr zu be­hüten ist. Wahrheit, wirkliche Wahrheit ist in der Tat in der Ge­meinschaft. Augustin, ein Mensch, der mehr als viele um den Ge­danken der Wahrheit gerungen hat, um die der Natur und die der Geschichte, die der Vernunft und die der Bibel, sagt einmal in seinen Bekenntnissen: „Herr, furchtbar sind deine Gerichte. Denn deine Wahrheit gehört weder mir noch diesem oder jenem, sondern uns allen, die du zur Gemeinschaft in ihr öffentlich berufst. Und du warnst uns, daß wir sie nicht für uns behalten wollen, damit sie uns nicht genommen werde. Denn wer das, was du allen zum Segen gibst, für sich allein beansprucht und für sein erklärt, was allen gehört, der kommt von der Gemein­schaft zur Selbstbezogen­heit, d. h. von der Wahrheit zur Unwahrheit. Denn wer die Un­wahrheit sagt, redet aus Eigenem“ (Joh. 8, 44). Hier ist, wenn ich recht sehe, ein gemein sto­isch-römischer Gedanke, die Lehre von den sententiae communes, biblisch gewendet und belebt. Nicht die allgemeine Meinung oder Zustimmung, die allgemeine Überein­stimmung im Urteil entscheidet über Wahrheit — es kann in der Tat herdenweise gelogen werden, und Wahrheit wird Einzelnen gegeben; wohl aber ist Wahrheit durch die Gemeinschaft bestimmt, insofern sie ihr gehört, für sie gewußt und gesagt wird, ihr dien­lich und förderlich ist, in ihr wirksam und fruchtbar wird, als sie den einzelnen eingliedert in das Ganze und nicht ausglie­dert, als sie Liebe ist und von der Liebe gefunden und getan wird.

Unser Vaterland hallt wider vom Streit der Parteien, der doch nicht nur ein Streit um Fetzen politischer Macht, sondern — wie gebrochen und getrübt auch immer — ein Streit um die politische Wahrheit ist. Das allein macht diesen Streit ernst und deckt seiner Sünden Menge; denn auch Deutschland kann nur leben in der Wahrheit. Deshalb soll man auch Partei neh­men, um nicht bei sich selbst zu beharren, sondern Gemeinschaft zu bilden. Aber die Wahr­heit ist nicht bei der einen oder anderen Partei, weil sie bei keiner Partei als solcher sein kann. Das Heil Deutschlands, des Landes des Lebens unserer Väter und unserer Kinder, für das wir der Welt geschichtlich verantwortlich sind, sein Bestand, seine Zu­kunft, seine Leistung, richtet über die Wahrheit unserer politischen Überzeugung und Entscheidung.

Wenige Gedanken sind in der Neuzeit so verbreitet und so fest gewurzelt wie der, daß reli­giöse Überzeugung Sache des Einzelnen und seiner persönlichen Freiheit, daß sie Privatsache sei; denn nur so könne Religion Wahrheit haben. Gewiß, Religion soll und kann nur als per­sönliche Überzeugung und Entscheidung und somit in der Tat nur in Freiheit Wahrheit sein. Aber sie kann in Wirklich­keit es zugleich nur sein, wenn sie Gemeinschaft stiftet, wenn sie sammelt und erbaut; wo das verleugnet oder verfehlt wird, ist sie nicht Wahrheit, sei sie noch so fanatisch oder noch so kritisch. Es muß auch hier nicht die Überzeugung aller gleich sein, aber sie muß sich in ihren individuellen Ausprägungen auf die Gemeinschaft richten und zu ihr wirken. Der Stand der Kirche richtet letztlich über die Wahrheit unserer Religion.

Und so gilt es auch von der Wissenschaft. Schärfste Einzel­forschung, reine Tatsachenfeststel­lung, strenges Fachstudium bah­nen uns in ihr den Weg zur Wahrheit, die keiner spekulativen Konstruktion sich erschließt und aller Phantastik vermeintlicher Genialität spottet. Aber es gibt in Wirklichkeit keinen Sach­verhalt, der für sich allein stünde, sondern jeder steht in einem ge­schichtlichen, gerichteten Zusammenhang, und ob unsere Wissen­schaft diesen trifft und herausstellt, das erst entscheidet über ihre Wahrheit. Die intentionale Haltung unserer Fakultäten, die kirch­lich-konfessionelle der Theologie, die national-soziale der Jurispru­denz, die hygienisch-therapeutische der Medizin, die pädagogisch-kulturelle des Geistes und die ökonomisch-technische der Naturwis­senschaften bedeuten an sich keine Trübung ihres wis­senschaftlichen Charakters, sondern bedingen ihn — recht gesehen und gedacht — durch­aus; denn nur für das Leben und nicht abgesehen von ihm,’ nur als verbindliche und verantwort­liche gibt es überhaupt Wahr­heit. Deshalb ist die geschichtliche Verbindung von Wissenschaft und Berufsbildung für die Universität lebensnotwendig.

Nach einer geschichtlich begründeten und fraglos ungemein förderlichen Periode der Speziali­sierung der Wissenschaft in höchst gesteigerter Arbeitsteilung und ihrer Methodisierung in exaktester Analyse zeigt sich zunächst in den großen Fachgebieten zunehmend ein Gefühl für die Gefahr, die es bedeuten würde, in dieser Rich­tung ins Extrem zu gehen. Die Universität droht aus einem Orga­nismus zu einer Organisation zu werden, die ohne eigenständiges Leben in innerer Gemeinschaft der Spielball fremder Mächte wer­den würde. Diese wie jede Gefahr des Lebens bannt freilich nicht die bange wägende Furcht, sondern nur der besonnen wagende Mut. Er führe uns über die Schwelle eines neuen akademischen Jahres, so Gott will — eines neuen Jahrhunderts unserer alma mater Philippina mit der Losung, mit der sie vor ihm beste­hen soll: Veritati!

Rede bei Antritt des Rektorats der Universität Marburg

Marburger Akademische Reden Nr. 46, Marburg: N. G. Elwert’sche Verlagsbuchhandlung (G. Braun), 1927.

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