Von Karl Barth
I.
1. Die theologische Wissenschaft bezieht sich in ähnlicher Weise auf den christlichen Auftrag der Kirche, wie die juristische Wissenschaft sich auf Recht und Gerechtigkeit bezieht. Ihre nächste Absicht ist die Vorbereitung auf den Beruf des «Dieners am Worte Gottes», d. h. auf die verantwortliche Arbeit des berufenen kirchlichen Predigers, Lehrers und Seelsorgers. Sie ist tätig für die Allgemeinheit der Kirche und für die menschliche Gesellschaft, indem sie über die kirchliche Aufgabe im Blick auf den Ursprung, die Geschichte, das Wesen und die praktischen Ziele der Kirche immer neu Rechenschaft zu geben versucht.
2. Der Gegenstand der theologischen Forschung und des theologischen Unterrichts ist demnach das das Leben begründende, erhaltende und regierende Wort Gottes. Die Theologie fragt (in den beiden Fächern der biblischen Theologie) nach der rechten Auslegung der von der Kirche als grundlegend erkannten Schriften des Alten und Neuen Testamentes. Sie fragt (als historische Theologie) nach der rechten Deutung der dem Wort Gottes teils widersprechenden, teils entsprechenden Geistesbewegungen und Lebenserscheinungen, vor allem im Bereich des christlichen Zeitalters und der vom Christentum erreichten Menschheit (Kirchen- und Dogmengeschichte), aber auch im weiteren Raum der nicht-christlichen Zeiten und Völker (Allgemeine Religionsgeschichte). Sie fragt (als systematische Theologie) nach der rechten Auffassung und Lehre des Wortes Gottes in der Gegenwart. Sie fragt (als praktische Theologie) nach der rechten Form seiner heutigen Verkündigung. Indem sie diese Fragen stellt, berührt sie sich auch mit der Geschichte der Philosophie und mit der allgemeinen Kulturgeschichte. Ihre Interessen und Methoden treffen also mit denen anderer Wissenschaften formal weithin zusammen. Ihr besonderer Gegenstand macht es aber notwendig, daß sie unter eigenen Problemstellungen zu forschen, eigene Untersuchungs- und Unterrichtsgrundsätze zu beachten hat, und wenn sie wie andere Wissenschaften einen Beitrag liefert zur Ergründung des Wesens und des Sinnes der Wirklichkeit und damit auch zum Erfassen des menschlichen Geisteslebens in seiner Fülle und Eigenart, so darf sie doch nicht darauf verzichten, aller Wirklichkeit und so auch dem ganzen menschlichen Geistesleben gegenüber das Problem der göttlichen Offenbarung im Auge zu behalten und geltend zu machen.
3. Das Studium der Theologie setzt bei dem, der sich ihm widmen will, einen der großen Aufgabe dieser Wissenschaft angemessenen beweglichen Intellekt, ausgeprägte allgemeine Bildungsinteressen und eine besondere Offenheit für humanistische, d. h. für philologische, historische und philosophische Studien voraus. Es fordert aber vor allem, daß er zum christlichen Auftrag der Kirche ein bejahendes Verhältnis habe oder zu gewinnen bereit sei. Es erfordert also, daß er fähig sei, sich auf das Problem der göttlichen Offenbarung als auf das Schlüsselproblem der theologischen Wissenschaft lernend, forschend und denkend einzulassen. Wer sich zu einer grundsätzlichen Anerkennung der Aufgabe der christlichen Kirche und der von ihr verkündeten Offenbarung nicht entschließen könnte, der sollte den Beruf, zu dem das theologische Studium hinführt, nicht ergreifen wollen. Er würde sich schon im Studium selber nicht zurechtfinden können. Die Frage, ob jemand in der Lage ist, einer mit Aufmerksamkeit, Geduld und Treue durchzuführenden biblischen Auslegung (Exegese) Sinn und Geschmack abzugewinnen, dürfte ein ziemlich sicherer Prüfstein für die hier nötige grundsätzliche Entscheidung sein.
4. Im Blick auf die durch das theologische Studium vorzubereitende Berufsarbeit ist folgendes hinzuzufügen: Schon der Anfänger hat zu bedenken, daß das theologische Studium eine Lebensaufgabe ist, daß es demnach im Lauf der akademischen Lernjahre wohl begonnen, aber nicht etwa abgeschlossen werden kann, sondern im Beruf als dessen ständig zu erneuernde Grundlegung seine Fortsetzung und Vertiefung finden muß. Wer sich nicht dazu verstehen wollte, auch als Pfarrer Student der Theologie zu bleiben, dem wäre zu raten, es besser gar nicht erst zu werden.
Was den Beruf des Pfarrers betrifft, so ist zu bedenken: Er ist weder ein einträglicher, noch ein bequemer, noch ein glanzvoller Beruf. Ohne die Bereitschaft, ein Leben lang in Geduld energisch zu bleiben, ohne eine ehrliche Aufgeschlossenheit für den Nächsten jeden Standes und jeder Charakterart, ohne eine ebenso ehrliche Dienstwilligkeit, ohne eine weitgehende Freiheit von egozentrischen und besonders auch von ideologischen Voreingenommenheiten und ohne die Entschlossenheit zur Hingabe an eine Sache, deren Ehre und Lohn nur selten und nur spärlich sichtbar werden können, ist das Amt eines Pfarrers weder freudig noch nützlich durchzuführen. Das theologische Studium bietet wohl die Möglichkeit, sich zu dem allem erziehen zu lassen. Ernstliche Unfähigkeit oder Unwilligkeit in dieser Richtung dürfte jedoch ein Grund sein, lieber ein anderes Studium als gerade dieses zu ergreifen.
5. Nachdem diese Warnungen ausgesprochen sind, darf gesagt werden: Das theologische Studium ist wegen der unerschöpflichen Tiefe seines Gegenstandes und wegen der Weite seiner Aspekte ein besonders schönes Studium. Und es hat der Beruf, auf den es vorbereitet, bei aller Unscheinbarkeit und Schwierigkeit kraft seiner eigentümlichen Notwendigkeit eine innere Würde, die den, der ihn mit Ernst ergreift, immer wieder ruhig und freudig machen wird.
Quelle: Universität Basel (Hrsg.), Richtlinien zur Wahl des akademischen Studiums (1962), S. 7-9.