Macht, Mächte im Neuen Testament
Von Heinz-Dietrich Wendland
Mit der Mehrzahl „Mächte“ bezeichnen wir heute zusammenfassend eine Reihe von Wesenheiten, die in dem Weltbild des NT, besonders aber demjenigen des Paulus eine sehr bedeutende Rolle spielen, zugleich aber unserem Verständnis Schwierigkeiten bereiten, da wir diese Vorstellung und die von Paulus gebrauchten Begriffe und Ausdrücke als mythologisch empfinden. In der Bibelübersetzung Luthers begegnet uns für die entsprechenden griechischen Begriffe des Paulus eine ganze Reihe von Ausdrücken, die verschiedene Arten solcher Mächte bezeichnen, z.B. Engel, Fürstentümer, Gewalten (Röm.8,38f); Herrschaft, Obrigkeit und Gewalt (1.Kor. 15,24); die Obersten dieser Welt (1.Kor. 2,8); Throne, Herrschaften, Fürstentümer, Obrigkeiten (Kol. 1,16); Fürstentümer, Obrigkeit, Gewaltige (Kol. 2,10.15); Fürstentümer, Gewalt, Macht, Herrschaft (Eph. 1,21); Fürstentümer und Herrschaften in dem Himmel (Eph. 3,10); Fürsten und Gewaltige, die Herren der Welt (Eph. 6,12); Engel, Gewaltige und Kräfte (1.Petr. 3,22).
Allen diesen Bezeichnungen haftet ein ganz eigentümlicher Charakter an: sie meinen nämlich keineswegs politische Größen innerhalb der menschlichen Welt und Geschichte, sondern übermenschliche und überweltliche Mächte, die sozusagen eine dämonische Transzendenz besitzen, kraft deren sie in der Lage sind, den Menschen und die Welt zu bezwingen, zu beherrschen, zu Sklaven zu machen. Man sieht dies besonders daran, daß sie als „in dem Himmel“ befindlich und von dort aus die Welt regierend bezeichnet werden (Eph. 3,10); damit ist die unterste der himmlischen Sphären gemeint, die das spätantike Weltbild kennt, oder doch eine der unteren. Wenn Luther Eph. 6,12 übersetzt hat: „mit den bösen Geistern unter dem Himmel“, so muß es zwar auch hier genau übersetzt heißen „in der Himmelswelt“ (so Menge), aber Luther hat doch richtig empfunden, daß es die Eigentümlichkeit dieses „Ortes“ oder Herrschaftssitzes der Mächte sei, daß sie von dorther den Menschen von Gott abzusperren und in ihren Gewahrsam, unter ihrer Gewalt zu halten vermögen.
Daß es sich um dämonische Mächte handelt von widergöttlichem Wesen und Handeln, wird gleichfalls Eph. 6,12 in ihrer Kennzeichnung als „böse Geister“ deutlich, gegen die die Christen allein so das Feld behaupten können, daß sie die Waffenrüstung Gottes anlegen. Ob Paulus eine Rangordnung dieser „Mächte“ gekannt hat, ob und wie er ihren Wirkungsgrad oder ihre Wirkungsweisen unterschieden hat, das vermögen wir nicht zu sagen. Aber etwas viel Wichtigeres tritt klar zutage: daß sie nämlich alle miteinander das Reich des Satans bilden, daß sie also letztlich eine Einheit sind, wie es auch Eph. 6,11 u. 16 deutlich hervortritt, und daß Paulus auch die Sünde als eine solche Macht, Gewalt und Sklavenbeherrscherin darstellt, die gleichsam von „außen“ her den Menschen überfällt und bindet, so daß er sich mit eigenen Kräften aus dieser Sklaverei nicht mehr zu befreien vermag (Röm. 6,6ff.12ff; 7,7ff; 8,2): Sünde ist also eine Macht, die eine bestimmte Verfassung, einen Gesamtzustand des menschlichen Daseins von ganz „objektivem“ Charakter heraufführt, der darum auch wiederum von außen her, durch Christus, zerstört und zerbrochen werden muß. Ferner ist wichtig, daß nach Paulus der Tod zu diesen gottwidrigen Gewalten gehört, die Christus vernichten muß und wird (1. Kor. 15,26, vgl. Offb. 20,14; 21,4; dieser Glaube ist also nicht auf Paulus beschränkt; siehe auch die Totenerweckungen Jesu!). Es ist der schärfste denkbare Gegensatz zu jener optimistisch-idealistischen Anschauung vom Tode als dem freundlichen Geleiter der Seelen oder der zwar dunklen, aber doch passierbaren Durchgangspforte ins Jenseits.
Die ungeheure, zerstörende, objektive Gewalt des Dämonischen ist in den Aussagen von diesen „Mächten“ und „Herrschaften“ so tief erkannt, ebenso die Gefangenschaft des Menschen, den sie von Gott, vom Heil, vom ewigen Leben absperren, indem sie sich zwischen Gott und die Menschheit geworfen haben, daß damit überhaupt erst die Größe des Erlösungswerkes und des Sieges Christi in seinen kosmischen Dimensionen gesehen werden kann. Damit ist nicht nur die weltdurchdringende Realität des Dämonischen begriffen, sondern auch eine ganz entscheidende Erkenntnis der Sendung Christi gewonnen, weswegen auch die Rede von den „Mächten“ unaufgebbar ist. Allein von Christus her kann ihr wahrer Charakter entdeckt werden: so werden sie als „kosmische“ Mächte erkannt, d. h. als solche, die zur Welt gehören, zur gottwidrigen Welt der Sünde und des Todes, zu dem jetzigen vergehenden bösen Aion (Weltzeit), und doch zugleich eben diese Welt beherrschen, umspannen, durchdringen von ihren Grenzen her (H. Schlier) und zu dem machen, was sie jetzt ist (vgl. Lk. 4,5ff: dem Satan ist jetzt die Herrschaft über die Königreiche der Erde gegeben; er ist der „Fürst dieser Welt“, Joh. 12,31; 14,30; 16,11).
Was sind die Funktionen dieser Mächte? Sie verkehren die ganze Schöpfung Gottes, so daß diese nun der Nichtigkeit und Vergänglichkeit unterworfen ist (Röm. 8,20ff). Sie stammen aus der Lüge und verbreiten Lüge, nichts ist ihnen verhaßter als die Wahrheit Gottes, seines Wortes und dessen, der von Gott her die Wahrheit ist (vgl. Joh. 8,44); sie verbreiten Tod statt des Lebens (vgl. Röm. 7,11), ja sie haben Christus, den Herrn der Herrlichkeit, gekreuzigt (1.Kor. 2,8). Für den Menschen sind sie die Mächte der Versuchung und Anfechtung; mit Hilfe seines eigenen Begehrens bringen sie ihn zu Fall (Röm. 7,8); sie bauen aus und mit den von ihnen eroberten Menschen das Reich des Antichrists, der die Christus entgegenstehende geschichtliche Offenbarung des Satans ist (Offb. 13). Die Bilder von den zwei Tieren, dem Antichrist und seinem Propheten, stellen die dämonischen Mächte in geschichtlich-leibhafter Konkretisierung dar, kraft deren sie nun die Erdbewohner zu verführen und eine totale Macht auszuüben vermögen. Was aus der menschlichen Welt auf diese Weise wird, zeigt das große Gleichnis von Babel (Offb. 17-18): ein Reich des Frevels wider Gott und der Selbstvergötterung, darum auch die Sammelstätte allen Lasters und Unheils.
Immer aber wird die objektive Macht und Mächtigkeit des Dämonischen subjektiv: Tat, Entscheidung, Sünde, Bosheit des einzelnen Menschen, indem er sich wegwirft, sich preisgibt an diese ihn umlauernde, über ihn herfallende Macht. Paulus und das Joh.-Ev. können dasselbe auch mit dem Bilde von der Finsternis sagen, die von diesen Mächten ausgeht und die sie selber sind: sie sind die „Weltbeherrscher dieser Finsternis“ (Eph. 6,12), nämlich der Finsternis dieser Weltzeit, welche freilich eine vergehende Finsternis ist (1. Joh. 2,8). Christus aber ist der, der uns errettet hat aus der Herrschaft oder Gewalt der Finsternis (Kol. 1,13). Wenn Paulus aber zugleich von sündigen Taten der Menschen als von „Werken der Finsternis“ reden kann (Röm. 13,12; vgl. Eph. 5,11), so zeigt sich auch hier das völlige Ungenügen unserer Vorstellungen von objektiv und subjektiv; die Finsternis ist eine beide Begriffe aufsprengende Realität im Sünder und über dem Sünder, eine ihn umfassende dämonische „Macht“. Das faktische Erliegen des Menschen unter dieser Macht ist ebenso scharf gesehen wie der Schuld- und Verantwortungscharakter seines Tuns.
Das Verhältnis Christi zu den dämonischen Mächten, das wir schon hier und da berühren mußten, ist ein dreifaches:
1. Christus ist als das Bild Gottes, als der ewige Sohn, der Erstgeborene vor aller anderen Kreatur und damit Haupt und Herr aller Gewalten und Herrschaften, alles, auch des übermenschlichen Seins. Durch ihn, den einzigen wahren Mittler der Schöpfung, sind sie alle geschaffen; sofern sie Sein und Wesen haben, haben sie es nun in ihm (Kol. 1,15ff). Da in Kolossä die Gefahr besteht, daß die Gemeinde einer jüdisch-hellenistischen Mischreligion verfällt, welche die „Urelemente der Welt“ anbetet (Kol. 2,8.20, von Luther hier nicht ganz treffend mit „Satzungen“ wiedergegeben), so arbeitet Paulus im Kolosserbrief die kosmisch-überkosmische, das All in allen seinen Dimensionen umfassende Herrschaft Christi heraus.
2. Trotz ihres Geschaffenseins aber sind die Mächte „gefallen“, d. h. durch widergöttlichen Willen verkehrt. Darum ist Christus jetzt in seinem Tode und seiner Auferstehung (damit zugleich: seiner Erhöhung zum göttlichen Herrn zur Rechten des Vaters) als der Erlöser von ihrer verführenden und zerstörenden Macht offenbar geworden: er hat sie ihrer Gewalt entkleidet und über sie triumphiert (Kol. 2,10.15; Eph. 1,20ff). Die Kirche verkündet jetzt das Geheimnis seines Heilswerkes auch diesen „himmlischen“ Mächten und Gewalten (Eph. 3,10). Dementsprechend wird in den Evangelien schon das ganze geschichtliche Werk Jesu als Kampf mit den dämonischen Mächten und als Sieg über sie, die sich als Krankheit und Tod, als Ungehorsam und Unglaube manifestieren, dargestellt. Jesus ist der Dämonenbezwinger, der mit dem Geiste Gottes dieser Gewalten Herr wird und in das „Haus des Starken“ einbricht (Mt. 12,28 ff Par.).
3. Doch die endgültige Aufhebung der Mächte, zuletzt und zuhöchst des Todes, ist erst das Werk des wiederkommenden Herrn (1.Kor. 15,24ff), da die gegenwärtige Weltzeit noch fortdauert und dem Satan in dieser Welt noch eine kurze Frist bestimmt ist, obwohl er schon gestürzt und gerichtet ist (Offb. 12,7-12; Joh. 16,11). Das Ende ist die universale Gottesherrschaft, neben welcher es keine widerstreitenden Mächte mehr gibt (1.Kor. 15,28; vgl. Offb. 20,14). Dieses Ende führt im Namen und mit der Macht Gottes Christus als endzeitlicher Sieger herauf, der der „König der Könige und der Herr der Herren“ ist (Offb. 17,14; 14,16). In prophetischen Hymnen besingt der Seher die große Entscheidungsstunde, in der die „Machtfrage“ gelöst wird (K. Heim): Gott hat nun in und durch Christus unwiderstehlich und unwiderruflich seine Herrschaft angetreten und verwirklicht (Offb. 12,10; 14,6; vgl. 11,17).
Zwischen diesen Siegen ihres Herrn lebt und streitet die Gemeinde Christi wider die Mächte (Eph. 6,10ff) in der Freiheit von diesen Mächten, von der Sünde, dem Tode (vgl. z.B. Röm. 8,2; 2.Kor. 3,17; Joh. 8,34ff), dem Satan und seinen dämonischen Dienern, ermächtigt und gerüstet zu diesem Kampfe durch die Macht ihres Herrn, durch die göttlich-geistlichen Waffen der Wahrheit und Gerechtigkeit, des Wortes und des Geistes, des Glaubens. Mit diesen kann sie widerstehen, standhalten, so gewiß nicht sie den Endsieg herbeiführen kann und bis ans Ende der Welt im Kampf bleiben muß. Aber es ist ein Kampf unter dem Zeichen der Hoffnung. Sie kann durch keine Mächte dieser Welt von der Liebe Gottes in Christus getrennt werden (Röm. 8,37 ff; vgl. die „Überwindersprüche“ am Ende der Sendschreiben in Offb. 1-3). Nicht einmal die Pforten des Totenreiches werden die Gemeinde verschlingen, vielmehr wird sie am Gericht über die Welt teilhaben (Mt. 16,18; 1.Kor. 6,2f). Weil die Gemeinde Christi die Gemeinde des Auferstandenen und des endzeitlichen Siegers ist und ihm angehört, gilt ihr die Verheißung: „Alles ist euer“, der ganze Kosmos mit all’ seinen Gewalten (1.Kor. 3,22f). In der Gewißheit der Liebe Gottes erwartet sie den Tag der Vollendung der Macht Gottes.
Auch von der Macht Gottes und Christi redet die Sprache der Bibel: erstens von der Allmacht des Schöpfers und Regierers der Welt wie Ps. 65,7 oder Jes. 51,4. Aber diese Macht ist zweitens zugleich immer die Macht des heil-schaffenden Gottes, der in geschichtlichen Taten und Zeichen sein Volk rettet, führt, bewahrt und gerade an Israel seine Macht beweist unter den Völkern (vgl. Ps. 77,15 und Jes. 51,10f). Darum kann auch von der „Macht“ Christi, Sünden zu vergeben oder Dämonen auszutreiben, gesprochen werden (Mt. 4,6; 10,1). Der Ausdruck bezeichnet zugleich die Vollmacht oder Befugnis und die Kraft, diese Vollmacht zu realisieren. „In dem Herrn und der Macht seiner Stärke“ können und dürfen die Seinigen stark werden (Eph. 6,10). Das ist aber nicht die Stärke der kosmischen Mächte und der Menschenreiche, sondern die „Macht“ der göttlichen Liebe und des heiligen Geistes, eine gewaltlose und machtlose Macht, eine nicht-weltliche und gegen-weltliche Macht, die man glauben muß, um sie zu erfahren. Nur durch das Sein in Christus wird sie erschlossen; erst mit der Parusie des Herrn wird seine Macht so sichtbar, leibhaft, offenbar und weltmächtig, daß sie alle anderen: die dämonischen und die menschlichen, dämonisierten Gewalten niederwirft. Es ist die Königsmacht und -herrschaft der Gnade, von der Röm. 5,20f spricht, die Macht Christi, die den Apostel „mächtig“ macht, so daß er frei ist im Haben und im Nicht-Haben und „alles vermag“ (Phil. 4,12). Erst in der Vollendung des Reiches Gottes fallen gleichsam die jetzt hinter dem Weltlauf verborgene Allmacht des Schöpfers und die Liebesmacht des Erlösers, die durch Christus für uns Geschichte wird, in eines zusammen, jene Liebesmacht, die sich gerade in der Machtlosigkeit, nämlich am Kreuze Christi, offenbart.
Ein Zeichen für diesen Charakter der heil-schaffenden Macht Gottes in Christus ist es, daß die Begriffe „Kraft“ (griech. dynamis) und heiliger Geist im NT ganz nahe beieinander stehen und miteinander verbunden werden können (vgl. z.B. Lk. 4,14; 24,49; Apg. 1,8; 1.Kor. 2,4 uö.). Es ist die „Kraft“ Christi, die sich gerade in den Kraftlosen und Schwachen als mächtig erweist, in denen, die keinerlei Kraft und Macht dieser Welt und aus ihren Gewalten her besitzen (2.Kor. 12,9).
Lit.: Heinrich Schlier, Mächte und Gewalten im NT, Theolog. Blätter, 1930, Nr. 11, Sp. 289 ff.
Quelle: Biblisch-theologisches Handwörterbuch zur Lutherbibel und zu neueren Übersetzungen, hrsg. v. Edo Osterloh und Hans Engelland, 2. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, 378-381.