Der schweizer Soziologe Peter Gross (1941-2023), bekannt durch sein Buch „Die Multioptionsgesellschaft“ (Suhrkamp, 1994), war dem christlichen Glauben bzw. der katholischen Kirche innig verbunden. Angesichts des Todes seiner Frau Ursula hat er seine verwundete Liebe sprachlich freigelegt:
Von Peter Gross
»Ich muss sterben«, hast Du mir sechzig Tage vor Deinem Tod ins Ohr geflüstert. Leise hat sich der Tod genähert. Nun ist er da. Was für ein Stoß ins Herz, wenn Du gehst, gehen musst und die Welt zubeißt und Du schweren Angriffen auf Deinen Körper ausgesetzt bist. Wer schlägt und plagt dich so, Liebste, wer hat Deinen Körper zu einer einzigen Wunde gemacht? Wir haben das Köfferchen gepackt, und Du hast es mitgenommen, wie seit Jahren auch in die Ferien. War das jeweils eine Freude, wenn die weiße Kosmetiktasche zum Mitnehmen bereitstand! Reich sie mir!, hast Du mir fröhlich befohlen. Aber jetzt geht sie mit Dir weg an einen Ort, an dem Du nie warst und von dem sie dann ohne Dich zurückkommt. Und Du hast für diese letzte Reise all jene Habseligkeiten verpackt, die Du noch unbedingt zu brauchen meintest: Schminksachen, um die Zeichen, die über die langen, schlaflosen Nächte sich in Deinem Gesicht eingekerbt haben, zu verdecken, Lippenstifte, Körpermilch.
Ich sitze da, Liebste, und schreibe tausend Seiten über Dich und kann nicht aufhören, die immer gleichen Klagen mit den immer gleichen Worten zu wiederholen: Komm zurück. Wende. Komm wieder, Liebste, bleib, ich werde Dich halten und Dich mir nicht nehmen lassen. Nun kenne ich den Tod. Ich habe ihn, wie er zu Dir kam, genau beobachtet. Er wurde mir mit den Worten »Ich muss sterben« angekündigt. Mein Herz stand still. Wir haben uns im Angesicht des Todes angesehen, wie wir uns nie angesehen haben. Und bei aller Verzweiflung waren wir bemüht, Deinen Gang aufs Schafott – so kamen mir die letzten Wochen und Tage und Stunden vor – in gegenseitiger Liebe und Zuneigung zu beschreiten. Das Gehen von Dir war dennoch todtraurig. Daran konnten alle Vorsätze nichts ändern. Unsere Liebe war monatelang eine todgeweihte Liebe. Du, Ursula, hast Dich wie eingerollt und warst im Begriffe zu verschwinden. Komm’ ich denn erst, wenn ich auch tot bin, zu Dir? Erst wenn ich abgesenkt werde ins Doppelgrab?
Sterben müssen wir alle. Alle sind todgeweiht. Aber der Tod wird nicht alles haben – wie mächtig er auch immer ist. Er wird mir niemals entreißen, was war. Nie wird er Dich mir ganz wegnehmen, so sehr er an Dir zerrt. Das Abwesende wird sogar in einer sonderbaren Weise dringlicher und stärker, als das Anwesende es je war. Während Du gingst, erhob sich majestätisch wie ein sich auffaltendes Gebirge das Abwesende, das nur mehr Erinnerte. Lichte, im Abendsonnenschein verzauberte Berge, sich erhebend aus tiefen Tälern. Kulissen des Glücks und Gefühle der Verlorenheit. Der Tod hinterlässt ein schmerzliches Geschenk, die Sehnsucht nach dem, was nicht mehr ist, und nach dem, was noch hätte kommen können. Wie Du nicht mehr da bist, bist Du gleichzeitig mit großer Heftigkeit anwesend. Die Absenz verdrängt die Präsenz. Das Abwesende ist übermächtig. Du bist nicht mehr anwesend und gleichzeitig stärker und schmerzlicher gegenwärtig als je. Die leeren roten Schuhe. Der Bademantel im Bad, der Dich nie mehr kleiden kann. Du gingst aus dieser Welt und kamst mit einer seltsamen Wucht zurück und in mich hinein. Nun bist Du da, wo immer ich bin. Ich will Dich behalten, indem ich Dich und Dein gleichzeitiges Gehen und Kommen aufschreibe. Liebste, ich habe Dich verloren, und weil ich Dich verloren habe, sehne ich mich so sehr nach Dir. Du!
Quelle: Peter Gross, Ich muss sterben. Im Leid die Liebe neu erfahren, Freiburg: Herder, 2015, S. 9-12.