Karl Barth über das ewige Leben: „Das «ewige» Leben ist kein anderes, zweites hinter unsrem jetzigen Leben, sondern eben dieses, aber in seiner uns jetzt und hier verborgenen Kehrseite, so wie Gott es sieht: in seinem Verhältnis zu dem, was er in Jesus Christus für die ganze Welt und so auch für uns getan hat. Wir warten und hoffen also — auch im Blick auf unsern Tod — darauf, mit Ihm (dem von den Toten auferstandenen Jesus Christus) offenbar zu werden in der Herrlichkeit des Gerichtes, aber auch der Gnade Gottes.“

Brief an Werner Rüegg, Hombrechtikon (Kanton Zürich), 1961

Von Karl Barth

Basel, 6. Juli 1961

Sehr geehrter Herr Rüegg!

Sie haben ganz recht: meine Antwort auf jene Frage war nicht befriedigend, auch nach meinem eigenen Urteil nicht. Das kam davon, daß ich mich zu sehr an den Wortlaut der Frage hielt, welcher eben nicht, wie Sie schreiben, lautete: «Darf ein Christ an ein ewiges Leben glauben?», sondern im Blick auf die Parapsychologie wissen wollte, ob es einen jenseitigen Zustand gebe, der einen Verkehr mit den Toten erlaube. Darauf konnte ich ehrlicher Weise nur antworten, daß ich davon nichts wisse und daß die Fragestellerin besser täte, zu bedenken, daß sie es im Jenseits wie im Diesseits mit Gott zu tun haben werde.

Selbstverständlich ist über das ewige Leben mehr als das zu sagen. Ausführlich kann ich in diesem Brief nicht werden, will Ihnen aber wenigstens andeuten, wie ich — nach Anleitung der Offenbarung Johannes, aber auch der übrigen heiligen Schrift — darüber denke:

Das «ewige» Leben ist kein anderes, zweites hinter unsrem jetzigen Leben, sondern eben dieses, aber in seiner uns jetzt und hier verborgenen Kehrseite, so wie Gott es sieht: in seinem Verhältnis zu dem, was er in Jesus Christus für die ganze Welt und so auch für uns getan hat. Wir warten und hoffen also — auch im Blick auf unsern Tod — darauf, mit Ihm (dem von den Toten auferstandenen Jesus Christus) offenbar zu werden in der Herrlichkeit des Gerichtes, aber auch der Gnade Gottes. Das wird das Neue sein: daß die Decke, die jetzt über der ganzen Welt und so auch über unserm Leben liegt (Tränen, Tod, Leid, Geschrei, Schmerz) weggenommen sein, Gottes (in Jesus Christus schon vollzogener) Ratschluß uns vor Augen stehen, der Gegenstand unsrer tiefsten Beschämung, aber auch unsres freudigen Dankes und Lobes sein wird. Ich sage es gerne in den Versen des alten guten Gellert:

Dann werd ich das im Licht erkennen,
Was ich auf Erden dunkel sah,
Das wunderbar und herrlich nennen,
Was unerforschlich hier geschah.
Dann schaut mein Geist mit Lob und Dank
Die Schickung im Zusammenhang![1]

Das also «meint der Herr Profässer», und das hätte er letzten Sonntag der guten Frau mit ihrem Wunsch nach Geistererscheinungen und den übrigen Hörern kurz erzählen sollen.

Mit freundlichem Gruß

Ihr Karl Barth

Quelle: Karl Barth, Briefe 1961-1968, hrsg. von Jürgen Fangmeier, Hinrich Stoevesandt, Zürich: TVZ, 21979, S. 9f.


[1] Vgl. Strophe 4 des Liedes «Nach einer Prüfung kurzer Tage erwartet uns die Ewigkeit», Gesangbuch für die Ev.-Ref. Kirche der deutschen Schweiz (1891), Nr. 348.

Hier der Text als pdf.

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