Die Stadt. Ein Brief aus Rothenburg ob der Tauber
Von Friedrich Gogarten
Sie kennen die Engelsburg, die Höhe über dem südlichen Tauberufer. Und Sie wissen darum, daß ich nicht übertreibe, wenn ich sage, daß das eine der schönsten Stellen ist, die es auf der Erde geben mag. Hart über dem steilen silbrig grünen Tauberhang steigt die „hochgebaute“ Stadt auf, mit ihren Giebeln und roten Dächern, bis in das lange, hohe und schlanke Mittelschiff der gotischen St. Jakobikirche, das die beiden Türme mit einer unendlich zarten Bescheidenheit leise überragen. Wie Zwillinge sind diese beiden Türme, einander zum Verwechseln ähnlich, aber so verschieden, daß sie den Beschauer in eine ganz heimliche Spannung bringen (nun weiß ich auch, warum ihre beiden Domtürme so langweilig sind. Wer zwei Türme baut, darf eben nicht so arm sein, daß er nur Gedanken für einen Turm aufbringt), und man kann nun nicht anders und schaut nach links über die Dächer und Türme bis zu dem festen steilen Klingentorturm und dann wieder nach rechts hinüber bis zum Kappenzipfel und den mächtigen Dach- und Turmgruppen des Spitaltores. Bis dann alle diese Bewegung wieder hineinspringt in den feinen Rhythmus der beiden St. Jakobstürme. Und dann tastet das Auge die hundert schönen Formen der Giebel und Dächer und Türme ab, und die Hand möchte liebend über sie hingleiten. In jeder Einzelheit spürt man die ganze Stadt. Sie ist so sehr Ein Werk, so sehr Die Stadt, daß man manchmal denkt, es müßte ein einziger großer Künstler sie gebaut haben. Er hätte sie dann mit einer raffinierten Weisheit, die schließlich doch ganz einfach ist, in die Landschaft hineingebaut und den grellen Gegensatz zwischen dem gewaltsam eingeschnittenen tiefen Taubertal und den weichen, vorsichtigen Linien der Hügel und der ferneren östlichen Höhen in dem Rhythmus dieses Stadtbildes gedämpft, aber immer noch in starker Bewegung weiterklingen lassen.
Aber diese Stadt ist wie alle ganz großen Werke nicht die Schöpfung eines einzelnen. An ihr bauten Geschlechter. Aber Geschlechter, in denen ein Wille war, der sie zusammenschloß und die die Zuchtlosigkeit und Vereinzelung noch nicht kannten, die man heute Individualismus nennt.
Das ist das Wunder, das man in dieser Stadt erlebt, daß man nicht lauter Einzelnes sieht, auch nicht die Werke lauter Einzelner, nicht einzelne Kunstwerke und Denkmäler. Hier schufen nicht einzelne Künstler, hier schuf noch die Kunst selbst. Sie schuf nicht dies und das, nicht nur hie und da einmal an den Häuserecken und in den Nischen, sondern sie schuf den Rhythmus, der durch die Linien der Straßen, durch die Häuser und ihre gegliederten Flächen und Massen geht, der die Steine und die Balken und die Räume bewegt und der feierlich um die Plätze schreitet.
Das gibt ja unserem Leben das Abgehackte, das im tiefsten Unfruchtbare, daß die beiden das Leben am stärksten formenden Mächte, Kunst und Religion, nur Teile unseres Daseins, und ziemlich abgelegene Teile, zugewiesen bekommen haben, um in ihnen ihre „Tätigkeit zu entfalten“. Daß es diese beiden Mächte als formende, das will sagen beglückende, nur dann gibt, wenn sie vom Zentrum her das Leben durchströmen, wenn das ganze Leben für sie da ist, damit sie es formen, das wissen wir heute nicht. Aber wir beginnen es leise zu ahnen. Und hier in dieser Stadt wird es einem zur Gewißheit.
Darum lieben wir sie. Nicht nur dies und das in ihr. Nicht nur das Spital, diesen sicheren und dabei ganz leichten Bau mit den feinen Teilungen der Stockwerke. Nicht nur die hundert schönen Ausblicke und Dachüberschneidungen, deren man immer neue findet, wenn man vom Wehrgang aus in die Stadt hineinsieht, nicht den übermäßig schlanken Turm, der so unbekümmert aus dem hohen, wuchtigen Giebel des alten Rathauses herausspringt. Nicht das schön gegliederte neue Rathaus, das einem seine reinen Formen immer tiefer in die Seele hineinbaut. Nicht die lange Reihe der Mauertürme, die man jeden mit besonderer Liebe liebt, weil jeder sein eigenes Wesen hat. Alle diese einzelnen schönen Werke – Sie wissen, man käme nicht zu Ende, wollte man sie alle aufzählen – sind es nicht, was ich meine. Ich meine immer nur die Stadt.
Es gibt noch zwei solche Städte nicht weit von hier. Ich hörte Sie einmal ihren Namen mit der Liebe aussprechen, die man nur für diese drei alten Städte hat: Dinkelsbühl und Nördlingen.
Dinkelsbühl, das behäbige, kleine Nest. Es ist bescheidener, simpler als Rothenburg. Es hat nicht den polyphonen Klang, den diese Stadt hat. Aber es hat die stillen Teiche an seinen Mauern und die sumpfigen Wiesen im Wörnitzgrund.
Und Nördlingen, die stolze, wehrhafte Stadt, die Stadt Kaiser Maximilians I., dieses letzten Ritters. Unendlich schön ist die hohe gothische Georgskirche, ein Hallenraum von drei gleichhohen Schiffen. Sie gibt mit ihrem beinahe überhohen Turm der Stadt das Gesicht. Als ich am frühen Morgen von Nördlingen fortfuhr, fing der Kirchturm über der tief unter ihm bleibenden dämmerigen Stadt die ersten Sonnenstrahlen auf. Kirche und Turm sind aus einem herrlichen grauen Trachyttuff gebaut. In dem frühen, ein wenig fahlen Sonnenlicht des kommenden Regentages löste er sich auf, und der Turm stand über der Stadt wie ein Gebilde des Himmels.
Ich sehe ihn so vor mir, wenn ich über das Geheimnis dieser alten Städte nachgrübele, und es ist mir, als wollte sich mir das in diesem Bild enthüllen.
Daß der Mittelpunkt dieser Stadtanlagen allemal die Kirche ist, selbst dann, wenn, wie in Rothenburg, scheinbar das Rathaus die Stadt beherrscht, das scheint mir nicht nur eine Angelegenheit der Architektur zu sein. Das kann es schon deshalb nicht, weil es in dem Aufbau und dem Leben dieser Städte gar keine Angelegenheiten gibt, die nur die Architektur angehen. Es bewegt sich in jeder Angelegenheit das ganze Leben. Und wenn die Kirchen die reichsten Bauten sind und die weitesten und feierlichsten Hallen haben und Bild und Anlage der Stadt beherrschen, dann tun sie es, weil das Leben dieser Menschen in dem Ewigen seinen tiefsten Sinn, seinen stärksten Trost, sein fernstes und am meisten verpflichtendes Ziel fand. Hier ist ein Sinn, der allem Tun Freude geben kann, und ein Ziel, das jedes Werk, das kleinste wie das größte, bis hart an die Vollendung zieht, und darum ist hier die beglückende Zusammenfassung der gesamten Lebensäußerungen möglich, die diese Städte als Wohnungen dieser Menschen, als Bild ihres inneren Seins gebaut hat. Hier ist die formende Macht am Werk, ohne die auch die Kunst nur „Kunstwerke“ schaffen kann, und ohne die sie nicht die Kraft findet zu ihrem einen Werk: Steine und Holz und Glas, Sprache und Geste und Tanz als Schmuck um jenes Leben im Ewigen zu legen, das diese Menschen in der Kirche fanden.
Wie es heute bei uns in diesen Dingen steht, das wurde mir vor ein paar Tagen klar, als ich nach Schwäbisch-Gmünd kam. Es war dunkel. Die Laternen brannten nicht. Nur der Mond warf ein blasses Licht auf die Häuser. Der Weg brachte mich ganz von selbst zu der alten gotischen Heilig-Kreuz-Kirche. Die stand in einer frierenden Einsamkeit auf ihrem nackten Platz. Als hätten sich die Häuser aus einem Zauberkreis, der um die Kirche gezogen ist, herausstehlen wollen, so stehen sie jenseits des Platzes. Es ist, als wären die Menschen von der Kirche abgerückt. Und nun ist eine schauerliche Fremdheit zwischen ihr und den Menschen. Fürchtet man das Leben dieser alten Kirche wie einen drohenden Brandherd? Riß man alles Lebendige rund um sie herum fort, damit es nicht ergriffen würde von dem Leben, das diese Kirche baute? Es ist ein anderes Leben als das, das jetzt diese alte Stadt in ein formloses Nebeneinander von Häusern umwandelt. Das huscht eben, wie ein Radfahrer über den Platz fährt, gespenstig durch den Mondschein an der alten Kirche vorbei und rettet sich schnell vor ihrer Gewalt in eine dunkle Gasse. Denn jetzt, wo die Laternen dunkel bleiben und ihr Licht nicht mehr die große Masse der Kirche ins Dunkel bannen kann, jetzt wo die Kirche mit ihrem mächtigen Leib in dem Mondlicht steht, jetzt hat sie die Gewalt. Sie und das Leben, das sie baute, in dem jeder Pulsschlag Form bedeutete und Form wollte. Dieses geistgewaltige Leben, das alles unter sein Gesetz brachte, alles, von diesen harten Steinen an bis zu den vielleicht noch viel härteren Seelen. Das ist sein Rhythmus, in dem diese Steine steigen und sich zu den hohen Hallen wölben und zu den Gestalten wandeln, die die Hallen umstehen, und in dem die Seelen wuchsen und in der Andacht sich formten, die einst in die Hallen als in das hohe Haus ihres eigenen ewigen Bildes traten.
Am Chor der Kirche springt ein Brunnen und klingt immerzu. Aber was hilft diese fühllose Stimme der einsamen Kirche, die ein lauter sehnsüchtiger Ruf an die Gottheit ist, der so gerne von den tausend und abertausend Stimmen der Menschen getragen sein möchte? Es klingt nur der Brunnen. Die Menschen schwätzen weiter.
Und hie und da finden sich einzelne zu der alten Kirche. Vielleicht ist ihre Zeit gar nicht so vergangen, wie man denkt. Ich möchte Sie hier doch gar zu gerne auf ein Buch aufmerksam machen, das dem so nahe steht, was ich Ihnen mit meinem Briefe sagen wollte. Es heißt Die Stadtkrone und ist von Bruno Traut herausgegeben. Adolf Behn schrieb einen ausgezeichneten Beitrag dazu über die Neugeburt der Architektur. Aber das Köstlichste in dem Buch sind die vielen Bilder, die ihm mitgegeben sind. Dieses Buch will die Stadt begreifen als ein deutliches Abbild des inneren Aufbaus der Menschen und ihrer Gedanken.
Aber lassen Sie uns nach Rothenburg zurückkehren!
Sie werden jetzt wohl verstehen, daß ich nicht von einer Idylle rede, wenn ich Ihnen sage, daß ich den ersten ganz glücklichen Tag in meinem Leben hatte, als ich an einem warmen Oktobertag das erstemal nach Rothenburg kam. Da glühten die roten Dächer in der Herbstsonne und alle Geräusche hatten den hellen, friedevollen und heimkehrenden Klang, den die Herbstluft ihnen geben kann. Ich wußte damals nicht, warum ich so glücklich war. Es war wie ein Finden der Heimat, in der man noch niemals war, in der man kein Ding, keine Straße, keinen Platz, keinen Brunnen, keinen Baum kennt und in der einem alles vertraut ist, als wäre es immer um einen gewesen. Ich ging damals durch die Stadt wie im Traum.
Seltsam, daß ich von Träumen spreche, wo ich von einer hohen Wirklichkeit sprechen will. Denn es ist doch wohl eine hohe Wirklichkeit, wenn es einem ist, als wäre die Umgebung – die Häuser mit ihren sorgsam abgewogenen Verhältnissen, der Zug der Straßen, das Steigen der Giebel und Türme, die Verteilung der Massen – oder wäre das alles die Versinnlichung dessen, was in der eigenen Seele ist an Bewegung und Rhythmus. Aber es war eben doch ein Traum. Denn trotz allem: diese Häuser sind nicht unsere Häuser, diese Stadt ist nicht unsere Stadt. Es ist lauter Vergangenheit, die mich umgibt.
Aber ich weiß wohl, in diesem bin ich Ihnen nah: wenn wir in diese alten Städte gehen und wenn uns Choräle mit ihrer strengen Form die Tränen bis in die Kehle heraufholen und wenn wir in alten Kirchen knien möchten, das ist nicht, weil uns Vergangenheit gefangen nimmt. Sondern weil wir da überall die Zukunft spüren, die sich in uns regt. Darum sollte ich eigentlich nicht von Träumen sprechen. Und vielleicht auch nicht von Vergangenheit. Ich glaube, für uns gibt es nur ein Vergangenes. Das ist die eben interessantes Kuriosum, eine schöne Kulisse war.
Erschienen in der Beilage der Weser-Zeitung vom 3.12.1919.