„Doch der Segen kommt von oben“ – Leben und Arbeiten in christlicher Sicht
Von Johannes Rehm
Die Arbeitswelt ist im Umbruch. Arbeitswelt ist eigentlich immer im Umbruch. Der als Digitalisierung bezeichnete Umbruch, welcher sich gegenwärtig vollzieht, scheint mir mehr zu einer Revolution menschlichen Arbeitens zu geraten als sich in einer Transformation zu erschöpfen. Als revolutionär empfinde ich daran, dass arbeitende Menschen inzwischen digitale Kollegen bekommen haben, die in vielerlei Hinsicht den Takt des Arbeitens vorgeben. Die künstliche Intelligenz arbeitet branchenübergreifend mit und Algorithmen bringen menschliche Arbeitsleistung in Form. Da Form und Inhalt bei der Arbeit aufeinander bezogen sind, ergeben sich zwangsläufig Rückwirkungen auch auf den Inhalt. Immer wieder sehe ich mich selbst genötigt pragmatische Kompromisse mit meinen digitalen Arbeitsgeräten einzugehen, um den Arbeitsfluss nicht aufzuhalten. Der digitale „Work flow“ wandelt unsere Arbeit und er verändert damit auch uns selbst.1
Umbrüche in der Arbeitswelt sind wahrlich nichts Neues. Schließlich setzen wir uns in dieser Akademieveranstaltung mit der Industrialisierung auseinander, die einst in nachhaltig sichtbarer Weise die Arbeitswelt und Lebenswelt der Menschheit veränderte. Auch der neuzeitliche Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft liegt noch nicht lange hinter uns. Umbrüche in der Arbeitswelt sind nie einfach nur gut und auch nie einfach nur schlecht. Gut an dem gegenwärtigen Umbruch der Digitalisierung empfinde ich, dass mir Arbeitsroutinen abgenommen und neue Welten erschlossen werden. Bedenklich empfinde ich, wie sehr ich mich selbst an sie anpasse. Zum Glück macht die Digitalisierung menschliche Arbeit nicht überflüssig, aber sie verändert Berufsbilder und die Rollen sowie damit die Funktionen arbeitender Menschen.
Nun gehen diese Veränderungen und Umbrüche nie ohne substantielle Verluste und auch nicht ohne empfindliche Schmerzen ab, was man kaum gut finden kann. Nicht umsonst kommen Firmen um betriebliches Gesundheitsmanagement, Salutogenese und vielfältigste Formen von Beratung, Coaching und Supervision nicht herum. Denn Umbrüche und Veränderungen verunsichern und setzen Menschen unter Druck. In transformativen oder gar revolutionären Zeiten stellen sich besonders dringlich Fragen nach dem Ziel und dem Sinn der sich vollziehenden Veränderung ganz neu. Was bedeutet es denn in dieser neuen Arbeitswelt zu arbeiten und in der sich wandelnden Gesellschaft zu leben? In einer pluralen, multikulturellen und damit auch multireligiösen Gesellschaft finden sich dazu unterschiedliche Sinnangebote und auch sich widersprechende Orientierungsmuster.
Ich möchte nun aus christlicher Sicht eine Perspektive auf menschliches Leben und Arbeiten aufzeigen bzw. an sie erinnern, weil nach meiner Erfahrung und Überzeugung ein weisheitlicher Umgang mit der biblischen Überlieferung zu einem guten und gelingenden Leben zu helfen vermag, was ein menschengerechtes Arbeiten einschließt.
Ich denke, dass ich damit zunächst einmal auf Skepsis stoße. Hilft uns dieser Rückbezug auf die christliche Glaubenstradition in unseren postmodernen und posttraditionellen Zeiten wirklich weiter? Erleben wir nicht immer wieder die Doppelgesichtigkeit und Widersprüchlichkeit menschlichen Arbeitens am eigenen Leib, während die christliche Tradition doch vielfach ein unkritisches Loblied auf die Arbeit sang und damit die Räder kapitalistischen Wirtschaftens munter zum Laufen brachte? Zum Kulturgut wurde dieses christlich inspirierte Loblied auf den menschlichen Arbeitsfleiß in Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“, das frühere Generationen nicht ohne Grund auswendig lernen mussten.
„Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muss die Glocke werden,
Frisch, Gesellen! seyd zur Hand.
Von der Stirne heiß Rinnen muss der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben,
Doch der Segen kommt von oben!“2
Dieses 1799 fertiggestellte Gedicht Schillers war von Anfang an umstritten, aber es wirkte in unvergleichlicher Weise nach, weil sich das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus dessen Arbeitsethos, also seine Sicht vom menschlichen Leben und Arbeiten, darin in Sprache gefasst fand.3 Der Glockenguss wird in diesem ungewöhnlich langen Gedicht zum Bild für den Lebenskampf insgesamt. Ich habe mich bei diesem Gedicht stets gewundert, dass der freiheitsliebende revolutionäre Geist Friedrich Schiller so eine idealisierte Sicht auf die Mühsal menschlicher Arbeit in Szene gesetzt hat. Das Gedicht ist auf dem Hintergrund christlicher Glaubenstradition formuliert, wenn wir allerdings die Bibel selbst aufschlagen, dann lernen wir noch einmal eine grundlegend andere und differenziertere Perspektive auf menschliches Leben und Arbeiten kennen.
So heißt es nämlich in einem wiederum sehr viel älteren Gedicht, dem 127. Psalm des Alten Testaments im 1. Vers: „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen.“ Haben Sie es gemerkt? Während Schillers Aufmerksamkeit zunächst vornehmlich auf den arbeitenden Menschen konzentriert ist, stellt der Psalmist uns den Herrn allen Lebens selbst als den Arbeitenden schlechthin vor.
Der ewige und heilige Gott ist es, welcher arbeitet und wirkt. Der Schöpfer der Welt ist es selbst, welcher durch sein Tätigsein menschliches Arbeiten erst ermöglicht und dessen Segens es bedarf, soll unser Arbeiten dem Leben dienen. Der Psalm bringt damit eine starke These zur Sprache, welche behauptet, dass nämlich der Herr dieser Welt nicht nur irgendwann einmal als Schöpfer dieser Welt gearbeitet hat, sondern, dass er weiterhin, damit also auch gegenwärtig, mitschöpfend und mitwirkend am Werk und bei der Arbeit ist. Und wie das so ist mit steilen Thesen: sie eröffnen eine kontroverse Diskussion, können aber alle Fragen nicht sofort lösen. Dieses gemeinsame und einmütige Bekenntnis der jüdisch-christlichen Glaubenstradition bildet den Kern und das Zentrum einer biblischen Arbeits- und Wirtschaftsethik, aber es löst auch bei gläubigen Menschen, wie bei mir selbst, brennende Fragen aus. Was macht Gott von alldem in der menschlichen Arbeitswelt, was nicht der Umwelt und den Mitmenschen dient? Und warum kommt er unseren eigenen lebensförderlichen Bemühungen nicht noch viel mehr zu Hilfe? Das Ergebnis des Wirkens und Arbeitens Gottes ist nicht so einfach für uns wahrnehmbar wie ein Glockenguss von menschlicher Hand. Gott ist und bleibt das große Geheimnis unseres Lebens und dieser Welt. „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen.“ Auch dies ist so ein Liedvers mit einem unvergleichlichen Nachhall und wahrscheinlich war er auch der Freifrau von Löwendal damals schon durchaus geläufig.4 Paradoxerweise beförderte und dynamisierte der Glaube an den wirkmächtigen Gott menschlichen Arbeitseifer, vielleicht auch deshalb, weil er die Vollendung durch Gottes Segen in Aussicht stellt. Jedenfalls verändert der Gottesglaube der Bibel die Sicht auf den Menschen, welcher gegenüber dem Schöpfer zum Geschöpf unter Mitgeschöpfen wird. Sich als Geschöpf unter Geschöpfen wahrzunehmen, entlastet vom Zwang der Vollkommenheit und setzt menschlichem Arbeitseifer heilsame Grenzen.5
Die biblische Rede von der menschlichen Arbeit hat aber noch eine weitere durchgehende Dimension.
Im Buch Exodus der hebräischen Bibel wird nämlich von einem Arbeitskampf berichtet, welcher mit größter Härte geführt wird. Die Erzählung von der Befreiung der Israeliten aus dem ägyptischen Exil ist Teil des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit. Die ägyptischen Verhältnisse, dass nämlich die Israeliten vom Pharao unterdrückt werden, entspricht dem, was Karl Marx sehr viel später als „entfremdete Arbeit“ bezeichnen sollte.6 Der Pharao versucht eine immer größere Zahl von anzufertigenden Ziegeln aus den Israeliten herauszupressen. Der Pharao weist an: „Man drücke die Leute mit Arbeit, dass sie zu schaffen haben und sich nicht um falsche Reden kümmern.“ (Ex 5, 9) Gemeint sind mit den angeblich falschen Reden die Vermittlungsversuche von Mose und Aaron. Mose verkündet den Israeliten einen mit den Unterdrückten mitleidenden Gott, der das widerspenstige Volk Israel aus dem Sklavenhaus befreien und in ein Land führen will, in welchem Milch und Honig fließen. Das Buch Exodus berichtet, dass unmittelbar nachdem der Herr sich dem Mose als der Gott der Väter vorgestellt hat, der Herr selbst zu Mose sagt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedrängnis habe ich gehört: ich habe ihre Leiden erkannt.“ (Ex 3, 7) So stellt der Herr sich seinem Volk vor als ein Gott, der menschliches Leid sieht, der die Klage hört und der Leiden wahrnimmt. Doch dabei bleibt es nicht. Er beruft Mose, der sein Volk herausführt aus dem Sklavenhaus in das gelobte Land. Es ist ein Arbeitskonflikt, welcher die Beziehung des Volkes Israel zu seinem Gott begründet. Die Hebräer organisieren Widerstand gegen den Pharao und als sie um eine Feiertagsschicht bitten, kommt es zum Eklat. Der Pharao will sich den Streik der Israeliten nicht gefallen lassen und ermahnt die Rädelsführer: “Mose und Aaron, warum wollt ihr das Volk von seiner Arbeit freimachen? Geht hin an eure Dienste!“ (Ex 5, 4) Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht: Keine Sanktionen, die sich der Pharao ausdenkt, können den Freiheitsdrang des hebräischen Volkes einhegen, sondern unter der Führung ihres Gottes und mit Hilfe seines starken Armes ziehen sie durchs Rote Meer in eine Zukunft ohne Frondienst für den Pharao. Diese Befreiungsgeschichte bildet das Herzstück der hebräischen Bibel und den Gründungsmythos des alten biblischen Israel. In jeder Sabbatfeier wird bis heute daran erinnert. Das ist auch die Glaubenstradition, in der Jesus und seine Jünger sowie die Apostel einschließlich der frühesten Gemeinden hineingeboren worden waren und die sie selbst praktizierten.7
Diese Exodustradition ist viel mehr und noch einmal etwas ganz anderes als lediglich eine alte Geschichte aus vergangener Zeit. Sie erwies sich immer dann als quicklebendig, wenn Menschen unterdrückt und um ihr gutes Recht betrogen worden sind. Das war bei der Überwindung von Sklaverei und Rassendiskriminierung in den USA so und es war beispielsweise bei der Überwindung der Apartheid in Südafrika wieder so. Man wird auch heute die uralte und stets junge Erzählung von der Überwindung der Versklavung Israels in Ägypten nicht teilnahmslos vernehmen können, ohne an ungerechte menschenverachtende Arbeitsverhältnisse in der eigenen Gegenwart zu denken. Die Geschichte des Exodus nimmt einen mit in die Befreiungsgeschichten unserer Zeit, indem sie Hoffnung macht darauf, dass nicht alles so bleibt, wie es schon immer war. Der Exodus eröffnet Geschöpfen die Sicht des Schöpfers auf menschliches Leid unter ägyptischen Verhältnissen und zeigt auf, dass Befreiung möglich ist.
Doch mit dem Exodus aus dem Sklavenhaus in Ägypten und der Landnahme war noch nicht alles gut. Immer wieder berichtet die Bibel von Ausbeutung und Vorteilsnahme. Unwiderstehlich groß scheint die Versuchung von jeher zu sein, sich die Arbeitskraft von Menschen möglichst kostengünstig und unter Wert zunutze zu machen. Der gerechte Lohn für ehrliche Arbeit war noch nie eine Selbstverständlichkeit und musste immer wieder aufs Neue eingeklagt und häufig genug erkämpft werden. Die Propheten des Alten Testaments sind in Fragen der Gerechtigkeit glasklar und verurteilen entsprechende Missbräuche mit schneidender Schärfe: „Weh dem, der sein Haus mit Sünden baut und seine Gemächer mit Unrecht, der seinen Nächsten umsonst arbeiten lässt und gibt ihm seinen Lohn nicht.“ (Jer 22, 13)
Gerade in der Sozialverkündigung knüpft das Neue an das Alte Testament unmittelbar an. Die Evangelien, welche die Taten und Worte von Jesus von Nazareth überliefern, erzählen von einem Leben, zu dem Arbeiten und Wirtschaften ganz selbstverständlich dazu gehören. Die Hirten auf dem Felde, von denen die Weihnachtsgeschichte berichtet, sind bei ihrer Arbeit, als sie die Botschaft vom Heiland der Welt erreicht: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ (Lk 2, 11) Und Jesus beruft seine Jünger, welche in ihrer Arbeitszeit ihrer Erwerbsarbeit nachgehen, als Fischer am See Genezareth. Jesu Gleichnisse sind auf dem Hintergrund von alltäglichen Arbeitserfahrungen formuliert. Und auch die Apostel gingen weltlichen Berufen nach. All dies verleiht der jüdisch-christlichen Glaubenstradition einen elementaren Wirklichkeitsbezug und eine Bodenhaftung, welche vor metaphysischen Spekulationen und spiritualistischen Abgehobenheiten zu bewahren vermag. Die Arbeitszeit selbst ist schon Zeit des Heils und der Arbeitsort ermöglicht Begegnungen, welche über sich selbst hinausweisen auf Gottes anbrechendes Reich.8
Nicht erst im 20. Jahrhundert verwies Dietrich Bonhoeffer auf die tiefe Diesseitigkeit des christlichen Glaubens.9 Dafür lassen sich mannigfache biblische Zeugen finden. So ermahnt der Apostel Paulus die römische Gemeinde brieflich: „Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“ (Röm 12, 1) Die alltägliche Arbeit ist in der langen Auslegungstradition dieses Bibelworts meist als die Fortsetzung, Umsetzung, Anwendung des Sonntagsgottesdienstes verstanden worden. Der Segen des Sonntagsgottesdienstes entfaltet seine Wirkung in den Aufgaben und Herausforderungen des beruflichen Alltags. Der Sonntagsgottesdienst strahlt aus auf den Gottesdienst im Alltag der Welt. Beides ist zu unterscheiden, aber auch nicht zu trennen. Der Sonntagsgottesdienst und die Praxis des Gottesdienstes im Alltag der Welt weisen beide über sich selbst hinaus auf Gottes ewiges Reich, wenn Gott einst alles in allem sein wird.10
Diesen diesseitigen und alltagspraktischen Zug des christlichen Glaubens hat Martin Luther, der Wittenberger Reformator, auf den Begriff gebracht mit seiner Rede von der menschlichen Arbeit als dem Beruf des Christenmenschen. Im Auftrag Gottes wenden sich danach Menschen als von Gott Berufene ihren weltlichen Berufen zu und praktizieren in ihnen ihren Glauben, übernehmen Verantwortung und führen ein tätiges Leben. Luthers Wertschätzung des Berufsgedankens ist auch auf dem Hintergrund der Überwindung des mittelalterlichen monastischen Lebensideals sowie der Ablösung der Klostergelübde zu verstehen. Doch die Rede vom Beruf führte nicht nur zu einer überfälligen Aufwertung weltlicher Arbeit, sondern später auch zu einem protestantischen Arbeitsethos, das nicht selten der Gefahr erlag, die Arbeit und ihren Erfolg zu vergötzen. Eine Überhöhung der Bedeutsamkeit menschlicher Arbeit kann sich aber gerade nicht auf die Bibel berufen.11
Biblische Rede von der menschlichen Arbeit gründet vielmehr im Schöpferhandeln Gottes, der selbst sein Werk durch einen Tag der Ruhe unterbricht. (Gen 2, 2f.) Ein gesunder Wechsel von Arbeit und Ruhe im menschlichen Leben entspricht von daher dem Rhythmus der Schöpfung, welchem Segen verheißen ist. Arbeit, insbesondere handwerkliche Arbeit, wird in der Bibel hochgeschätzt, wenngleich nicht überschätzt. Ein Laborismus oder gar eine Selbsterlösung durch Arbeit sind ausgeschlossen. Insbesondere die Kirche der Reformation durch Martin Luther wurde nicht müde, zu betonen: Allein im Glauben an den dreieinigen Gott ist ewiges Heil, was die Versöhnung in Jesus Christus grundlegend miteinschließt. (vgl. Röm 3, 28)
Bei der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zeigte es sich nun in tragischer Weise, wie fern die damalige evangelische Kirche der von mir im Vorhergehenden in Grundzügen entfalteten biblischen Rede von der Arbeit geworden war. Die Kirche missverstand die Arbeiterfrage als vornehmliches Armutsproblem. Sie ignorierte, dass Menschen durch ihre Arbeit Rechte erwerben. Ihre Verwobenheit in das Bürgertum und Großbürgertum führte, abgesehen von einigen Persönlichkeiten eines Sozialen Protestantismus, zu einer lange nachwirkenden Entfremdung von einer gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschicht, die sich nicht ergeben hätte, wenn etwa die Sozialverkündigung der alttestamentlichen Propheten in ihr lebendig gewesen wäre.12
Die biblische Überlieferung hat es an sich, dass es sich bei ihr nicht um ein geistlich-geistiges Erbe handelt, welches wie ein Bankguthaben zum freien Gebrauch zur Verfügung stünde. Vielmehr sind die Kirchen zu Sachwalterinnen eines lebendigen Erbes berufen. Dieses hat es an sich, eine eigene kritische Dynamik zu entfalten, die sehr schnell die Verwalter jenes Erbes selbst infrage stellt. Denn der mit seinen Geschöpfen mitleidende Gott will auch seine Anhängerschaft heute an der Seite der arbeitenden Menschen wissen, die als Leistungsträger der Gesellschaft anzusehen sind und nicht zu Opfern gemacht werden dürfen. Darüber hinaus verdienen die Schwachen und die Opfer, die jedes Wirtschaftssystem immer wieder aufs Neue produziert, sozialdiakonische Zuwendung und Unterstützung.
Aus dem Bewusstsein für die umfassende Bedeutsamkeit der Arbeit für das menschliche Leben und der Einsicht in die Fehler der Vergangenheit heraus errichteten die westdeutschen Landeskirchen in den 50iger Jahren des 20sten Jahrhunderts Industrie- und Sozialpfarrämter, welche den Auftrag hatten und diesen bis heute noch haben, wirtschaftliche Zusammenhänge aus der Perspektive der Beschäftigten heraus wahrzunehmen und als Seelsorgerinnen bzw. Seelsorger arbeitende Menschen, seien sie Arbeitnehmende, Handwerker oder Unternehmer in ihren beruflichen Herausforderungen zu begleiten.
Über 17 Jahre war ich selbst in diesem Bereich als Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (kda) der Evang.-Luth. Kirche in Bayern tätig.13 Bei den arbeitsweltlichen Diensten handelte es sich im Laufe ihrer Geschichte stets um eines der umstrittensten kirchlichen Tätigkeitsfelder, weil der Zuständigkeitsbereich für die menschliche Arbeit notwendigerweise mit gegenläufigen Interessen, widersprüchlichen Positionierungen und unterschiedlichen Erfahrungen verbunden ist. Ich selbst erlebte beides, dass ich einmal für mein öffentliches Eintreten für die Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich von unternehmerischen Kreisen als linker Phantast eingestuft wurde und ein andermal für meine Mitwirkung bei Führungskräfteworkshops mit einem Wirtschaftsverband von Gewerkschaftskreisen verdächtigt wurde, ein ‚Unternehmerknecht‘ zu sein. Das Thema und die Themen der Arbeit lassen niemanden unberührt und wecken starke Emotionen, denn in unserer Arbeit, sei es Haupt- oder Ehrenamt, drücken Menschen als Geschöpfe Gottes ihre individuelle Geschöpflichkeit aus und lassen so aus Mühe und Plage erfüllende Tätigkeit werden.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, dass ich zeigen konnte, wie die biblische Tradition menschlichem Arbeitseifer heilsame Grenzen setzt und dabei die anderen arbeitenden Mitmenschen in den Blick rückt sowie das Bewusstsein dafür wachsen lässt, dass unsere Schaffenskraft auf das angewiesen bleibt, was wir nicht in der Hand haben, sondern vom Schöpfer erbitten müssen. Dieses Wissen um diese Verwiesenheit des Geschöpfs auf den Schöpfer ist das, was Friedrich Schiller in Übereinstimmung mit der biblischen Überlieferung klassisch zur Sprache bringt: „…doch der Segen kommt von oben.“
Vortrag am 21.3.2024 im Kunstgussmuseum Lauchhammer im Rahmen der Tagung „Die Bedeutung der Kirche bei der Industrialisierung der Lausitz“ der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Prof. Dr. Johannes Rehm ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und emeritierter Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt der ELKB.
Quelle: epd-Dokumentation, Nr. 28, 9. Juli 2024, S. 19-23.
1 Vgl. Roland Pelikan, Johannes Rehm (Hg.), Arbeit im Alltag 4.0. – Wie Digitalisierung ethisch zu lernen ist, Berlin 2018; Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels, Leipzig 2021.
2 Wulf Segebrecht (Hg.), Das Deutsche Gedicht vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Hamburg 2005, S. 167.
3 Rüdiger Safranski bezeichnet das Gedicht als „…das Hohe Lied bürgerlicher Gesittung.“ Rüdiger Safranski, Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, S. 465.
4 Freifrau Benedicta Margareta von Löwendal begründete und beförderte die Industrialisierung der Lausitz u.a. mit einem ersten Hochofen des Eisenwerks Lauchhammer, der am 25. August 1725 in Dienst genommen wurde. Vgl. Reinhard Köpping, Erz und Adel. Zum Leben und Wirken der Freifrau von Löwendal, Herausgegeben von der Stiftung Kunstgussmuseum Lauchhammer, Husum 2010.
5 Hans G. Ulrich, „Sorget nicht…“ – Wirtschaften in Gottes Ökonomie. Unternehmensethik in theologischer Perspektive, in: Johannes Rehm, Joachim Twisselmann (Hg.), Wirtschaft um des Menschen willen. Stichworte für eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft, Nürnberg 2010, S. 178ff.; Johannes Rehm, „Wo der Herr nicht das Haus baut…“ (Psalm 127) – mit der Bibel wirtschaften, in: Homiletische Monatshefte, Jg. 87, Heft 10 Juli 2012, S. 492ff.
6 Karl Marx, Frühe Schriften, Erster Band, Hg. Hans-Joachim Lieber, Darmstadt 19895, S. 567.
7 Franz Segbers, „Erinnere dich daran, dass du selbst ein Sklave, eine Sklavin in Ägypten warst…“ (Dtn 5,15) Biblische Impulse für Humanität in der Arbeit, in: Johannes Rehm, Hans G. Ulrich (Hg.), Menschenrecht auf Arbeit? Sozialethische Perspektiven, Stuttgart 2009, S. 30; Vgl. Franz Segbers, Die Hausordnung der Tora. Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik, Luzern 20023.
8 Vgl. Werner Schanz zitiert bei: Ruth Lödel/Johannes Rehm, „…auf der Suche nach Gottes verborgener Wirklichkeit“ – Verkündigung in arbeitsweltlichen Kontexten am Beispiel von Sozialpfarrer Werner Schanz, in: Traugott Jähnichen, Roland Pelikan, Sigrid Reihs, Johannes Rehm (Hg.), Priorität für die Arbeit. Profile kirchlicher Präsenz in der Arbeitswelt gestern und heute, Festschrift für Günter Brakelmann, Münster 2021; Werner Schanz zitiert bei Johannes Rehm, Werner Schanz (1931-2020) – Sozialpfarrer und Kirchenreformer, ZBKG 91 (2022).
9 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh 198011, S. 182ff.
10 Vgl. Konrad Müller/ Johannes Rehm (Hg.), Arbeit als Gottesdienst? Wertschöpfung in christlicher Verkündigung, FS Roland Pelikan, Leipzig 2021.
11 Vgl. Johannes Rehm, „In Gottes Namen fang ich an…“ Arbeit als Berufung in: Peter Zimmerling (Hg.), Handbuch Evangelischer Spiritualität, Bd. 3, Göttingen 2020.
12 Vgl. Hanns Christof Brennecke, Kirche und Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert – eine Konfliktgeschichte, in: Johannes Rehm, Hans G. Ulrich (Hg.), Menschenrecht auf Arbeit? Sozialethische Perspektiven, a.a.O., S. 51ff.
13 Vgl. Johannes Rehm, Öffentliche Seelsorge, in: Manfred Böhm, Johannes Rehm (Hg.), Würde ist kein Konjunktiv! Seelsorge in der Arbeitswelt, Würzburg 2024 (erscheint demnächst).