Das Amt und die Ämter im Neuen Testament[1]
Von Jürgen Roloff
I. Vorbemerkungen
Drei grundsätzliche Vorbemerkungen seien unseren Überlegungen vorangestellt.
1. Die erste betrifft unsere Motivation für die Beschäftigung mit diesem Thema. Die Frage nach der Gestaltung des Amtes ist zunächst in unserer Kirche akut geworden im Zusammenhang mit der Diskussion über Struktur und Gestalt der Kirche. In der Vergangenheit waren die kirchlichen Strukturen gerade in unserer evangelischen Kirche in starkem Maße bestimmt durch die allgemeinen Strukturen der Gesellschaft, in der wir lebten. Das betraf vor allem das kirchliche Amt, das in einem stärkeren Maße, als uns vielleicht weithin bewußt war, durch gesellschaftliche Normen von Stand und Bildung geprägt war. Diese gesellschaftlichen Strukturen sind ins Wanken gekommen. Damit ist die Kirche vor die Möglichkeit gestellt, Gestalten und Strukturen zu entwickeln, die vielleicht besser als die bisherigen dem Wesen ihres Auftrags gemäß sind. Hinzu kommt, daß die Kirche in den letzten Jahren vielfach in geradezu ungestümer Weise mit der Forderung nach Demokratisierung und Liberalisierung konfrontiert worden ist. Sollte nicht, so fragte man, die Kirche die Funktion eines Raumes der Freiheit in unserer von Institutionen und Zwängen durchwalteten Gesellschaft haben? Ja, sollte es nicht möglich sein, in ihr eine Art von Basisdemokratie zu verwirklichen? Viele Überlegungen hinsichtlich einer Neuordnung des kirchlichen Amtes sind von solchen Fragen angestoßen worden.
Mitten in solchen Überlegungen werden wir nun mit ökumenischen Stellungnahmen zur Thematik des kirchlichen Amtes konfrontiert. Und zwar zeigt es sich, daß die Amtsfrage für das Zusammenwachsen der Kirchen von zentraler Bedeutung ist. Ohne eine gegenseitige Anerkennung der Ämter kann es, wie das römisch-katholisch/evangelisch-lutherische Studiendokument „Das geistliche Amt in der Kirche“ deutlich macht, eine Abendmahlsgemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche nicht geben. Und der Amtsteil des sogenannten Lima-Dokuments[2] enthält gar den manche von uns ratlos machenden Vorschlag, die Kirchen sollten Möglichkeiten einer Anpassung ihrer Ämter an die speziell nach orthodoxer Auffassung konstitutive Dreistufigkeit des Amtes erwägen, um auf solche Weise den Weg zu einer gegenseitigen Anerkennung der Ämter zu erleichtern.[3]
Meiner Überzeugung nach wäre es vorschnell, wenn wir diese ökumenischen Forderungen und Erwartungen als Störung unserer eigenen Überlegungen hinsichtlich einer Neuordnung des Amtes betrachten würden. Wir sollten sie eher als eine wichtige Richtungsweisung ansehen; denn in ihnen werden Erfahrungen, die andere Teile des weltweiten Volkes Gottes in ihrer Geschichte mit der Heiligen Schrift gemacht haben, aufgenommen und an uns weitergegeben. Es könnte sein, daß hier ein Testfall dafür vorliegt, ob Ökumene für uns mehr ist als nur ein unverbindliches Lippenbekenntnis: Erst dann nämlich, wenn wir bereit sind, in einer für Gestalt und Leben unserer Kirche entscheidenden Frage auf andere ernsthaft zu hören und im Dialog mit ihnen unsere Probleme zu lösen, kann Ökumene für uns zu einer verbindlichen Wirklichkeit werden. Nach meiner Überzeugung sind die Anregungen und Impulse dieser ökumenischen Dokumente für uns keineswegs Hindernisse für die Bewältigung der als nötig erkannten Aufgabe, die Ämter und Dienste in unserer Kirche so zu ordnen, daß durch sie die Sache des Evangeliums so vertreten werden kann, wie es ihrem Wesen entspricht.
2. Meine zweite Vorbemerkung gilt der Terminologie. Der Begriff „Amt“ ist sicher problematisch. In unserem modernen Deutsch umschreibt er behördliche, hoheitliche Funktionen, die jemand über andere ausübt. In ihm schwingt stets das Moment autoritärer Herrschaft mit. Das neutestamentliche Griechisch böte für dieses Wort die Äquivalente leitourgía oder timḗ?[4]. Eben diese Worte vermeidet das Neue Testament jedoch, und mir will scheinen, es vermeide sie bewußt. Statt dessen gebraucht es in diesem Zusammenhang das Wortpaar diakoneĩn/diakonía. Diese Worte waren im damaligen Griechisch noch nicht terminologisch festgelegt. Wollte man eine angemessene Übersetzung für sie suchen, so müßte man sie mit „Dienstleistung“ wiedergeben. Der Ansatz für den betonten Gebrauch dieser Worte liegt, wie hier nur angedeutet werden kann, offensichtlich im eigenen Verhalten Jesu. In der zentralen Zusammenfassung des Wirkens Jesu (Mk 10,44 f.) heißt es: „Ihr wißt, daß die Mächtigen der Völker übereinander Herrschaft ausüben und ihre Großen sich gegenseitig mit Macht unterdrücken. So aber ist es nicht unter euch. Sondern: wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener (diákonos). Und wer unter euch der erste sein will, der sei aller Knecht (doûlos). Denn auch der Menschensohn kam nicht, um sich dienen zu lassen (diakonēthênai), sondern um zu dienen (diakoneĩn) und sein Leben als Lösegeld für Viele zu geben.“ Jesu Verhalten wird hier als dienendes Dasein für alle dargestellt, und zwar verdichtete sich dieses in den von ihm den Zöllnern und Sündern sowie seinen Jüngern und Anhängern gewährten Gemeinschaftsmahlen.[5] Indem Jesus für Gottes Sache vor den Menschen eintritt, verzichtet er auf Macht und Recht. Gerade darin aber vertritt er Gott. Sein Verhalten der dienenden Selbstpreisgabe wird Norm für die Gottesherrschaft. Wo Gott seine Macht durchsetzt, da ist kein Raum mehr für ein Herrschen von Menschen über Menschen. Jesus unterstellt seine Jünger dieser Norm der Gottesherrschaft, indem er sie zum Dienen unter Verzicht auf Macht und Recht verpflichtet. So wird die Jüngergemeinde zu einem von menschlicher Herrschaft freien Raum. Ohne Zweifel soll die bleibende Verbindlichkeit dieser von Jesu Verhalten bestimmten Norm zum Ausdruck gebracht werden, wenn Paulus diakonía als terminus technicus für seinen eigenen Dienst wie auch für die übrigen Dienste und Funktionen innerhalb der Gemeinde gebraucht (z. B. Röm 7; 1Kor 12,5; 2Kor 3,7-9; 4,1). In welchem Maße Paulus seinen eigenen Dienst vom Dienen Jesu her begreift, zeigt 2Kor 4,6: „Nicht uns selbst verkündigen wir, sondern Jesus Christus als Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen.“ Daraus ist zu folgern: Auch da, wo wir den Begriff „Amt“, der sich bei uns als schwer verdrängbarer Terminus eingebürgert hat, gebrauchen, müssen wir ihn, um ihn recht zu verstehen, mit dem Inhalt des ntl. Begriffs diakonía füllen.
3. Ich will die hermeneutische Vorentscheidung, auf der die folgenden Überlegungen beruhen, kurz verdeutlichen. Wir müssen davon ausgehen, daß das Neue Testament kein in sich geschlossenes, normatives Modell kirchlicher Ämter und kirchlicher Verfassung liefert.[6] Eine biblizistische Lösung unseres Problems ist also nicht möglich. Vielmehr zeigt das Neue Testament eine weitgehende Vielfalt von Ämtern und Verfassungsformen. Auffällig ist vor allem der große Unterschied zwischen der ersten und der zweiten bzw. dritten christlichen Generation. Vielfach besteht nun bei uns eine Neigung dazu, das Bild der Verhältnisse der ersten Generation, also vor allem der paulinischen Gemeinden, als Norm für uns heranzuziehen. Hier sei, so sagt man, Freiheit und vom Geist gewirkte Spontaneität, während in der zweiten Generation eine institutionelle Verfestigung einsetze. Für diese hat man den ebenso handlichen wie unglücklichen Begriff „Frühkatholizismus“ eingeführt.[7] Dieser Begriff bringt von vornherein eine negative Wertung ein und scheint uns die Erlaubnis zu geben, über die Phänomene, die uns in der zweiten und dritten Generation begegnen, ohne weiteres hinwegzugehen.
Dieses Verfahren ist meiner Meinung nach illegitim. Sicher hat das apostolische Zeugnis der Ursprungszeit besonderes Gewicht. Aber die Väter des 2. Jhs. waren schwerlich vom Heiligen Geist verlassen, als sie auch die Zeugnisse der zweiten christlichen Generation, soweit sie diese als mit dem Evangelium übereinstimmend zu erkennen glaubten, kanonisierten. Das soll nicht bedeuten, daß diese Zeugnisse von uns kritiklos als Norm akzeptiert werden müßten. Aber wir sollten versuchen, sie als wichtige Stationen eines vom Geist geleiteten Erfahrungsprozesses der Kirche zu sehen. Und zwar sind sie an ihrem Selbstverständnis zu messen, demzufolge sie das in der ersten Generation lautgewordene Evangelium sachgemäß interpretieren und auf neue Situationen hin anwenden. Wir müssen sie einer theologischen Sachkritik unterziehen, indem wir jeweils fragen, in welchem theologischen Bezugsfeld ihre Aussagen über Ämter und Dienste stehen. Maßgeblich für unser theologisches Urteil ist ihre Entsprechung oder ihre Distanz von diesem Evangelium.
Ich will nun im folgenden versuchen, drei wichtige Phasen der neutestamentlichen Entwicklung von Ämtern bzw. Diensten aufzuzeigen und dabei, soweit dies in der Kürze der Zeit möglich ist, das erwähnte Kriterium zur Anwendung bringen.
II. Jesus und die älteste Jesustradition
Was hier vor allem unsere Aufmerksamkeit beansprucht, ist Jesu Ruf in die Nachfolge. Es hat erst einiger neuerer Untersuchungen bedurft, um die wahre Bedeutung des von erbaulicher christlicher Frömmigkeitssprache nahezu bis zur Unkenntlichkeit eingeebneten Wortes „Nachfolge“ sichtbar werden zu lassen. In der jüdischen Umwelt Jesu war „nachfolgen“ ein Begriff, der mit der Institution des rabbinischen Lehrhauses eng verbunden war: Ein Aspirant auf das Amt eines Schriftgelehrten suchte sich einen Lehrer, um bei ihm Tora zu studieren. Wenn man hier von „nachfolgen“ sprach, so meinte man damit eine persönliche Bindung des Schülers an den Lehrer, die ganz im Dienste der Torainterpretation stand: der Schüler folgte dem Gelehrten nach, um auf Schritt und Tritt dessen Gesetzesauslegung in Theorie und Praxis in sich aufzunehmen. Auch bei Jesus ist Nachfolge eine persönliche Bindung; aber diese steht nicht im Zeichen des Lehrens und Lernens, sondern in dem des gemeinsamen Dienstes für die Gottesherrschaft. Weil Gottes Herrschaft machtvoll herandrängt, weil Ausnahmesituation ist, in der der Dienst von Menschen nötig ist, ruft Jesus in die Nachfolge. Er sucht sich Menschen, die bereit sind, sich auf seinen Ruf hin ganz in den Dienst dieser Ausnahmesituation zu stellen. Als biblisches Modell dafür mag die charismatische Dienstgemeinschaft, in die die frühen Profeten Elija und Elischa riefen, gedient haben.[8] Wie sie, so ruft auch Jesus Menschen heraus aus ihren ursprünglichen Bindungen, um sie für sich und für die totale Dienstgemeinschaft der Gottesherrschaft zu beanspruchen. Nur so erklärt sich die Radikalität der Berufungsgeschichten: Petrus und Andreas (Mk 1,16-20), Levi (Mk2,14) verlassen Arbeitsplatz, Familie und Umwelt, um ganz der Sache der Gottesherrschaft zu dienen – und zwar geschieht dies, indem sie in die Gemeinschaft Jesu eintreten. Mk 3,14 gibt eine klare Zusammenfassung des Sachverhalts, wenn es dort heißt, Jesus habe die Zwölf berufen, „damit sie mit ihm seien, und damit er sie aussende, zu verkündigen und Vollmacht zu haben, um Dämonen auszutreiben“. Nachfolge ist also eschatologisch begründete Dienst- und Schicksalsgemeinschaft mit Jesus. Die Nachfolgenden sollen „mit ihm sein“, sie sollen teilhaben an seinem Wanderleben, an seiner Bindungslosigkeit, an seinem Dienen für die Sache der Gottesherrschaft. Sie sollen sich aussenden lassen, d. h., sie sollen sein Werk, das die Gottesherrschaft ansagt und bringt, mittragen und so dafür sorgen, daß Israel zum endzeitlichen Volk Gottes werde.
Ohne Zweifel sind nicht alle, die Jesus begegneten und die sich seiner Botschaft öffneten, in die Nachfolge gerufen worden. Von allen forderte I Jesus Glaube, von einigen, „die er wollte“ (Mk 3,13), jedoch den Eintritt [ in die Dienstgemeinschaft für die Gottesherrschaft.[9] Auch Frauen gehörten zum Kreis der Nachfolgenden (Lk 8,1-3). Seine Kerngruppe war der i Zwölferkreis, dessen Glieder gleichsam die Stammväter des von Jesus zu sammelnden Gottesvolkes der Endzeit sein sollten (Mt 19,28). Es ist nicht auszuschließen, daß in diesem vorösterlichen Kreis der Nachfolgenden bereits Jesu Worte und Weisungen memoriert und festgehalten wurden als die die Boten legitimierende Botschaft.[10] Trotzdem war ein wesentlicher struktureller Unterschied zwischen ihm und dem Stand der Schriftgelehrten: hier ging es nicht um Erlangung von Herrschaft durch Wissen, sondern um personhaften Dienst in dienender Selbstpreisgabe. Wichtig ist dabei vor allem das Moment des Personhaften: Die Botschaft ergeht durch Menschen, die in ihrer ganzen Existenz sichtbar von der nahen Gottesherrschaft geprägt sind.
III. Die erste nachösterliche Generation
In den Zeugnissen der ersten nachösterlichen Generation sind mehrere, sich zunächst nur undeutlich voneinander abhebende Entwicklungslinien sichtbar. In der Jerusalemer Urgemeinde hatte zunächst der Zwölferkreis um Petrus die Gemeindeleitung. Aber kann man hier überhaupt von einer Leitung sprechen? Damals lebte die Gemeinde ja noch in einer unmittelbaren Naherwartung. Für die kurze Zeit bis zur Wiederkunft des Herrn schien es zu genügen, wenn die Zwölf Jesu Heilswillen für Israel sichtbar repräsentierten und so zum Zeichen für das Gottesvolk wurden. Erst allmählich begann in der Urgemeinde die Reflexion um die eigene Identität, in deren Verlauf sich klärte, was es bedeutete, „Kirche“ zu sein, qehal el, Gottes endzeitliches Aufgebot, die Schar, die jetzt in der vergehenden Welt aus dem Heilsgeschehen in Jesus lebte, die dem heiligen Recht Gottes unterstand, als für ihn ausgesondert und endzeitlich geheiligt.[11]Besonderes Gewicht hatte dabei ein Vorgang, den man die Entdeckung des Apostolats nennen könnte. Der Auferstandene war einigen seiner Anhänger erschienen, hatte sie seiner Lebendigkeit gewiß gemacht und sie zum Dienst ausgesandt. Diesen Auftrag deutete man in nachträglicher Reflexion als Berufung in einen Dienst, dessen Aufgabe es sei, in Vertretung Jesu und von ihm bevollmächtigt Evangelium so zu vertreten, daß dadurch Heilsgemeinde entstand. Nach dem Zeugnis des Paulus war die Zahl der Apostel bekannt und begrenzt; er selbst, Paulus, wußte sich als der Letzte in ihrer Reihe (1Kor 15,8), und er gründete auf diese personhafte Sendung durch Jesus seinen Anspruch, Repräsentant des Evangeliums zu sein, d.h. Bote, durch den Jesus selbst auf die Entstehung und Erhaltung von Kirche hin handelte (Röm 1,1-7). Wir kennen die Reflexionen des Paulus über sein Apostelamt sehr genau, da der Galaterbrief und der 2. Korintherbrief sich fast ausschließlich diesem Thema widmen. Es ist damit zu rechnen, daß Paulus diese Reflexionen nicht im Alleingang entwickelt hat, sondern daß er in ihnen das aussprach, was ansatzweise die übrigen Apostel, zumindest Petrus, als dessen Gegenüber sich Paulus wußte (1Kor 15,5; Gal 2,7), auch als ihr Selbstverständnis vertraten. Aus diesen Reflexionen ergeben sich nun drei hervorstechende Züge des apostolischen Dienstes:
1. Der Apostel ist Träger und Vollstrecker des Evangeliums. Das bedeutet es nämlich, wenn Paulus sich in deutlicher Anspielung auf Jes 52,7 als der Herold versteht, der Gottes Herrschaftsantritt in Christus ansagt (Röm 10,15; Gal 1,8). Dieses Evangelium sagt sich zwar in bestimmten Überlieferungen (1Kor 15,1-3) aus, geht als Geschehen jedoch nicht in diesen auf.
2. Durch das vom Apostel in Vollmacht vertretene Evangelium entsteht Gemeinde, lebendige gottesdienstliche Gemeinschaft von Menschen, die aus der Kraft des in Jesus nahegekommenen Gottes leben. Sie ist Gottes endzeitlicher Tempel (1Kor 3,16 f.), Ort seiner Gegenwart. Für Paulus ist es geradezu Siegel der Legitimität seines Apostolats, daß sein Werk faktisch nicht ins Leere gegangen ist, sondern daß durch es lebendige Gemeinde entstanden ist. Wenn er den Korinthern zuruft: „Das Siegel meiner Apostelsendung seid ihr“ (1Kor 9,2), so könnte man geradezu von einem Faktizitätsbeweis für den Anspruch des Paulus auf Vertretung des Evangeliums sprechen.
3. Der Apostel weiß sich als personhafter Repräsentant Jesu Christi. „Für Christus“ tut Paulus Gesandtendienst und bittet: „Laßt euch versöhnen mit Gott“ (2Kor 5,20). Das Wort des von ihm vertretenen Evangeliums wird in seiner Person geradezu anschaubar: Die Gemeinde kann an ihm sehen, wie Christus seinen Diener prägt, bis dahin, daß die Kreuzesgestalt Jesu dem Apostel sichtbar aufgeprägt ist (Gal 6,17). Der Apostel ist schwach, damit man sehen kann, daß sich in der Schwachheit die Kraft des Gekreuzigten vollendet (2 Kor 12,10). Aber auch in einfachen ethischen Fragen kann man sich an ihm als dem Repräsentanten des Evangeliums orientieren. Deshalb die Aufforderungen: „Was ihr an mir hört und seht, das tut!“ (Phil 4,9), „Werdet meine Nachahmer!“ (1Kor 4,16; 11,1), „Werdet so wie ich!“ (Gal 4,12). Paulus kann so reden, weil in seinem Dienst als Apostel die Struktur der vorösterlichen Dienst- und Schicksalsgemeinschaft mit Jesus weitergeführt wird.
Wie aber stand es mit den weiteren Diensten in den paulinischen Gemeinden? Versucht man diese Frage zu beantworten, so muß man sich vorab klarmachen, daß in der für uns einsehbaren Phase ihrer Geschichte diese Gemeinden noch direkt unter der (brieflich ausgeübten) Leitung des Apostels standen. Noch kann Paulus den Korinthern hinsichtlich der Kontroverse um das Herrenmahl schreiben: „Das übrige werde ich regeln, sobald ich komme!“ (1Kor 11,34) Weil seine Aufsicht und Leitung noch weiter bestand, konnte er vieles der Improvisation überlassen. Im übrigen setzte Paulus darauf, daß durch das Evangelium die Gemeinde lebendig wird, daß sich in ihr Initiativen und Kräfte regen, die frei sind von dem üblichen menschlichen Streben nach Macht und Herrschaft über andere und nur eines wollen: dem Ganzen des Leibes Christi dienen, ihn lebendig machen. In 1Kor 12,28-30 nennt Paulus eine ganze Liste von Funktionen und Diensten, in deren Vorhandensein sich solche Lebendigkeit manifestiert. Da ist die Rede von Krankenpflege und Heilung, von Hilfsdiensten, von Diensten der Kassenführung, aber auch von der Zungenrede. Bei den meisten dieser Dienste scheint keine feste Bindung an bestimmte Personen vorzuliegen. Nur darauf kommt es nach dem Urteil des Paulus an, daß jeder die Fähigkeit, die ihm Gott gegeben hat, in den Dienst Jesu Christi stellt. Ganz gleich, ob diese Fähigkeit äußerlich eindrucksvoll ist oder nicht- indem sie Christus übereignet wird, wird sie zur Gnadengabe, und zwar nicht in dem Sinne, daß ihr Träger etwas vorzuweisen hätte, was ihn andern gegenüber auszeichnet und hervorhebt, sondern allein in der Weise, daß die Gemeinde der Fülle der in ihr lebendigen Gnade gewiß wird. Es verdient nun allerdings unsere Beachtung, daß Paulus in dieser so ausgerichteten Liste ein paar persongebundene Dienste an erster Stelle nennt und sie auf diese Weise hervorhebt: Apostel, Profeten und Lehrer (1Kor 11,28). Sind die übrigen der genannten Dienste wechselnd und fakultativ, so müssen diese drei anscheinend unbedingt sein. Und zwar gibt es Personen, die für diese Dienste in Pflicht genommen worden sind und die darauf ansprechbar sind. Verhält es sich aber so, dann stellen diese drei Dienste bereits in gewissem Sinne „Ämter“ dar.
Um welche Dienste handelt es sich dabei konkret? Vom Apostolat war bereits die Rede. Der Dienst der Profeten ist hier wohl in einem weiteren Sinn zu verstehen: ihm obliegt es, vollmächtig und mit Autorität das anzusagen, was jetzt nach Gottes Willen für die Gemeinde an der Zeit ist. Die Profeten sollen von der Schrift her Gottes Willen und Heilsplan verbindlich zur Geltung bringen, also in etwa das tun, was wir heute unter Predigt verstehen. Was die Lehrer betrifft, so bestand ihre Aufgabe vermutlich in der Unterweisung der Neugetauften, der Weitergabe der Worte Jesu und der Vorlesung der Schrift, wozu man – was damals keine Selbstverständlichkeit war- immerhin des Lesens kundig sein mußte.
Das Bild der ersten Generation wäre unvollständig, wenn wir nicht noch kurz auf einen Strom eingehen würden, der längere Zeit noch neben dem paulinischen Hauptstrom machtvoll weiterfloß: das freie charismatische Profententum. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß es in Syrien- Palästina während des ganzen 1. Jahrhunderts wandernde Profeten gab, die ihr Ziel nicht in der Sammlung und Leitung ortsfester Gemeinden sahen, sondern, von Ort zu Ort ziehend, die verstreut wohnenden Gläubigen betreuten. Das aus der Logienquelle stammende Material der synoptischen Jüngeraussendungsreden (Mt 10; Lk 10) dürfte in diesen Kreisen seinen Sitz im Leben gehabt haben. Von ihnen wurden die vorösterlichen Weisungen Jesu für die in die Nachfolge Berufenen weiter befolgt: Wenn sie sich ohne Proviant, ohne Ranzen und Stock auf den Weg machten, so war solche absolute Armut und Schutzlosigkeit weiterhin Zeichen für die Nähe der von ihnen vertretenen Gottesherrschaft und für ihre völlige Hingabe an ihre Sendung (Lk 10,3-7).[12] Ein lebendiges Bild vom Wirken dieser wandernden Charismatiker gibt uns zu Ausgang des 1. Jahrhunderts die Didache (Did 11,1-13,7); aber auch die Überlieferung der Apostelgeschichte über Philippus (Apg 8,26-40) verweist in diesen Bereich.[13] Selbst die paulinischen Briefe lassen uns zumindest indirekt die Bedeutung dieser charismatischen Wandermissionare und ihrer Lebensweise erkennen. So scheint Paulus selbst in seiner Frühzeit von dieser Bewegung berührt worden zu sein. Nur so läßt es sich erklären, daß Paulus selbst asketisch, ohne familiäre Bindung lebt und auf Unterhalt verzichtet, und dies, obwohl er sich damit in seinen Gemeinden Mißverständnissen aussetzt, gerade im Vergleich zu den übrigen Missionaren und Gemeindeleitern seiner Zeit, die zu solcher Lebensweise nicht verpflichtet waren (1Kor 9,1-18). Paulus hat hier anscheinend Prinzipien, die die Anfänge seines Wirkens bestimmten, weiter festgehalten. Wenn er in 1 Kor 9,15-18 diesen seinen Unterhaltsverzicht damit begründet, daß es sein Ruhm sei, das Evangelium umsonst zu predigen, weil nur auf diese Weise sichtbar werde, daß er einer schicksalhaften Notwendigkeit (anágkē) unterstehe, so klingt darin zumindest indirekt das vorösterliche Motiv der Dienst- und Schicksalsgemeinschaft der Nachfolgenden mit Jesus an. Zu diesen wandernden Charismatikern gehörten schließlich auch die Gegner, die Paulus in Korinth als Lügenapostel bekämpft. Die für uns erkennbaren Züge ihres Wirkens – vollmächtige Verkündigung und Zeichen – weisen jedenfalls in diese Richtung. Das einzige wirklich stichhaltige Argument, das Paulus gegen sie vorbringen kann, ist, daß ihr Wirken nicht auf die Sammlung von Gemeinde gerichtet ist (2Kor 3,2 f.; 10,12-18). In der Tat liegt an diesem Punkt der entscheidende Unterschied zwischen seinem Wirken und dem der wandernden Charismatiker, deren Ziel eben nicht der Bau von Gemeinde war.
IV. Amt und Ämter in der zweiten und dritten Generation
Es ist unbestreitbar, daß sich in der Zeit nach dem Ende der ersten Generation im Urchristentum ein Schub der „Institutionalisierung“ vollzogen hat. Verfassung, Ordnung der Gemeinde und Gestalt der gemeindlichen Ämter werden nun zu wichtigen Themen der Reflexion. Die Gründe dafür liegen auf der Hand:
1. In dem Maße, in dem die Naherwartung aufhörte, Denken und Handeln zu bestimmen, mußte die Kirche darangehen, die Möglichkeiten für ihren weiteren Weg durch die Geschichte zu bedenken. Sie lebte zwar unverändert in der Gewißheit, das endzeitlich gesammelte Volk Gottes zu sein, aber nun galt es, dieser Gewißheit auch auf der Ebene gesellschaftlicher Realitäten sichtbaren Ausdruck zu verschaffen und nach institutionellen Formen zu suchen, die dafür geeignet schienen.
2. Folge des Langwerdens der Zeit war, daß sich die Frage nach der Bewahrung der Tradition erhob. Es galt, dafür Sorge zu tragen, daß das Evangelium auch nach dem Tode der Augenzeugen und Apostel der ersten Generation rein bewahrt werden konnte.
3. Die Irrlehre wurde zusehends zu einem bedrohlichen Phänomen. Das hatte zur Folge, daß das Lehren als eine zentrale, für den Bestand der Kirche relevante Funktion aufgewertet wurde. Man erkannte: nur da, wo gesichert ist, daß die Lehre von dazu befähigten, zuverlässigen Leuten, die sich an das Zeugnis der ersten Generation gebunden wissen, vertreten wird, ist gesichert, daß die Kirche auf dem rechten Grund bleibt.
4. Schon bald wurde ferner deutlich, daß das Moment personaler Verantwortung, das bisher von den Aposteln gemäß ihrer Beauftragung durch den auferstandenen Herrn wahrgenommen worden war, auch weiterhin in Kraft bleiben mußte.
Es sollte hinreichend deutlich sein, daß in alledem die nachapostolische Generation Probleme zu bewältigen hatte, die keineswegs für sie spezifisch waren, sondern die uns nach wie vor aufgegeben sind. Schon darum wäre es unrealistisch und Symptom eines ungeschichtlichen Denkens, wenn wir die Erfahrungen und Entscheidungen dieser nachapostolischen Generation pauschal verwerfen würden, um statt dessen zurückzugreifen auf die Problemlösungen der ersten Generation. Vielmehr gilt es, zu fragen, ob die Lösungen und Entscheidungen der zweiten Generation vor der kritischen Instanz des Evangeliums bestehen können. Läßt sich diese Frage bejahen, so dürfen wir sie mit gutem Gewissen als Norm für die uns aufgegebenen Entscheidungen und Lösungen heranziehen.
Am unmittelbarsten reflektieren der Kolosser- und der Epheserbrief den Umbruch zwischen den Generationen samt den daraus resultierenden Problemen. Beide Schreiben stammen, wie sich heute mit großer Sicherheit sagen läßt, aus dem kleinasiatischen Schülerkreis des Paulus. Die große Frage, die hier zur Bewältigung anstand, lautete: Wie kann die Kirche ihre Kontinuität in der weitergehenden Zeit wahren, nachdem die Apostel nicht mehr in ihrer Mitte sind? Die Verfasser beider Briefe geben darauf, wie sie meinen, eine Antwort im Sinne des Paulus, indem sie seinen ekklesiologischen Ansatz mit der neu entstandenen Situation in Korrelation bringen. Diese Antwort stellt zunächst das Gewicht der apostolischen Tradition heraus: Die Kirche ist „erbaut auf dem Grund der Apostel und Profeten“ (Eph 2,20). Apostel und Profeten, die großen Gestalten der ersten Generation, haben mit ihrer Verkündigung das Fundament gelegt, auf das die Kirche in aller Zukunft gewiesen ist. Zwar ist das Apostelamt nunmehr erloschen, was aber bleibt, ist das apostolische Evangelium als Norm für alle zukünftige Lehre und Verkündigung der Kirche. Doch dieser Verweis auf die apostolische Tradition ist nur der eine Teil der Antwort auf die gestellte Frage. Der andere liegt in Eph 4,11 vor, wo die paulinische Charismenlehre von 1Kor 12 charakteristisch umgestaltet wird.[14] Wie dort (1Kor 12,2), so ist auch hier von den Geistesgaben die Rede, die der erhöhte Christus seiner Kirche schenkt. Worin bestehen diese aber nun nach dem Epheserbrief? „Er setzte die einen zu Aposteln, die andern zu Profeten, die andern zu Evangelisten, zu Hirten und Lehrern.“ Alles ist hier also auf die gemeindeleitenden Ämter ausgerichtet. In ihnen konkretisieren sich zunächst die Geistesgaben des Erhöhten. Dabei kann kein Zweifel daran sein, daß mit den Evangelisten, Hirten und Lehrern die gemeindeleitenden Ämter der Gegenwart des Verfassers gemeint sind. Diese schließen sich an die Ämter der Vergangenheit – Apostel und Profeten – an. Es muß sie geben, denn sie führen in mancher Hinsicht das Werk der Apostel weiter, und zwar primär darin, daß sie, wie jene, das Evangelium auf die Gemeinde hin zur Geltung bringen (Eph 4,12). Diese Ämter der Gegenwart sind ausdrücklich als Gaben des erhöhten Christus deklariert, d.h. sie sind notwendig für die Erbauung der Gemeinde als Christi Leib bzw. als sein Tempel.
Ich kann hier nicht in verfassungsgeschichtliche Details gehen. So mag die Frage, wer mit den Evangelisten gemeint ist, auf sich beruhen. Einiges spricht allerdings dafür, daß sie Missionare waren. Durchgehalten hat sich von 1Kor 12,28 her der Dienst der Lehrer. Aber nun stehen die Lehrer nicht mehr, wie dort, unmittelbar mit den Profeten zusammen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß der profetisch-charismatische Dienst in den Kreisen der paulinischen Gemeinden der zweiten Generation zurücktritt. Hingegen rückt der Lehrer stark heran an den Hirten, ja man kann fragen, ob der Epheserbrief nicht schon beide als identisch denkt.[15] Unser besonderes Interesse verdient der Begriff „Hirte“. Er ist zweifellos nicht von ungefähr gewählt, sondern dürfte einen christologischen Bezug enthalten: Jesus, den die Gemeinde als den guten Hirten schlechthin kennt, der in personaler Verantwortung das Verlorene suchte und zur Gemeinschaft mit Gott zurückbrachte (Lk 15,3-7), hat diesen seinen Dienst nun an andere delegiert. Während der Zeit seiner leiblichen Abwesenheit von den Seinen sollen sie besonders von ihm beauftragte Personen führen. Ganz in diesem Sinne werden in 1Petr 5,2 ff. die Gemeindeleiter ermahnt: „… weidet die Herde Gottes nicht unwillig, sondern freiwillig gemäß Gottes Willen, nicht nach Gewinn und nach Ehre schielend, und auch nicht in der Weise, daß ihr die Herde unterdrückt, sondern indem ihr týpoi (= Vorbilder, Leitbilder) der Herde werdet, bis erscheinen wird der Oberhirte und ihr den unverwelklichen Ehrenkranz empfangen werdet.“ Das bedeutet: die zum Hirtendienst Berufenen treten in die Verantwortung Jesu ein; sie leiten an seiner Stelle und gemäß seinem Auftrag die Gemeinde, und zwar nach der Weise des Dienenden, nicht des Herrschenden. Indem sie das tun, nehmen sie für die Gemeinde Leitbildfunktion an.
Was nun diese Leitbildfunktion betrifft, so ist auch sie christologisch begründet und gefüllt. Der Kolosser- und Epheserbrief verweisen betont auf den Leidensweg des Apostels und, ganz allgemein, auf sein Verhalten. Dies geschieht in den sogenannten Paulus-Anamnesen (Kol 1,24-2,4; Eph 3,1-7). In ihnen erscheint Paulus gerade in seinem Leiden als der, an dem das Grundprinzip des Kreuzes, das Jesus der Kirche eingestiftet hat, für diese bleibend sichtbar wird. In diesen Zusammenhang gehört vermutlich auch das schwierige Wort von den „Leiden“, die Paulus hypèr hēmõn (= für uns) getragen hat, um das, „was an den Drangsalen Christi noch fehlt“, vollzumachen (Kol 1,24). Nicht darum geht es hier, daß Paulus an die Stelle Christi träte, um sein Heilswerk zu ergänzen, sondern darum, daß der Apostel das für die Kirche lebenswichtige Prinzip des sich selbst preisgebenden Dienens vertritt, das ins Leiden führt. Mit anderen Worten: der Apostel steht mit Jesus in Dienst- und Schicksalsgemeinschaft.
Aus den zuletzt angeführten Beobachtungen ist zu folgern, daß die nachapostolischen Zeugnisse des Neuen Testaments neben der apostolischen Lehrnorm, auf der die Kirche gründet, auch die apostolische Gestaltnorm kennen und betonen. Nicht nur an die erste, sondern auch an die zweite ist der Gemeindeleiter, der „Hirte“, gebunden. Das bedeutet: man erwartet von ihm nicht nur, daß er das Evangelium, wie es die Apostel überliefert haben, verkündigt, sondern auch, daß er es in seinem Verhalten konkret anschaubar macht.
Ganz analoge Beobachtungen lassen sich anhand der Abschiedsrede des Paulus vor den Ältesten von Ephesus (Apg 20,17-38) machen, die eine Schlüsselszene der Ekklesiologie des Lukas ist. Nach lukanischer Darstellung hat Paulus, als er aus seinem Missionsgebiet schied, um nicht mehr wiederzukehren, die Gemeindeältesten der Metropole Ephesus, die in der Folgezeit das theologische Erbe des Apostels verwalten sollten, zu sich nach Milet gerufen, um ihnen abschließende Weisungen für die zukünftige Leitung der Kirche zu geben. Vielleicht steht, wie hier nur angedeutet werden kann, im Hintergrund dieses Berichts eine Erinnerung daran, daß in der ephesinischen Gemeinde in nachpaulinischer Zeit die ursprünglich jüdische Ältestenordnung Eingang gefunden hatte, um sich mit der in den paulinischen Gemeinden vorherrschenden Episkopenordnung zu verbinden. In unserem Zusammenhang ist aber etwas anderes wichtig: Paulus rüstet die Presbyter-Episkopen zu für ihr Amt, indem er sie ermahnt: „Habt acht auf euch und auf die ganze Herde, in die euch der heilige Geist zu Episkopen eingesetzt hat, um die Kirche Gottes zu weiden, die er erworben hat durch sein eigenes Blut“ (Apg 20,28). Das gemeindeleitende Aufsichtsamt (epískopos) wird hier inhaltlich definiert mittels des Hirtenbildes; es geht um den Auftrag, die Christus gehörige Herde zu „weiden“. Auch hier nun kommt das Moment der Paulus-Anamnese an entscheidender Stelle mit ins Spiel. Lukas läßt Paulus nämlich auf das Modell verweisen, das er selbst gegeben hat: in seinem rastlosen Einsatz, in der Abweisung von Irrlehrern, im Verkündigen der ganzen, unverkürzten Heilsbotschaft (Apg 20,18-21,26 f.). Das Ganze schließt mit der Mahnung: „deshalb seid wachsam“ (Apg 20,31), die ein Hinweis sein mag auf die Wachsamkeits- und Knechtsgleichnisse Jesu, die Lukas bereits paränetisch als Weisungen für die Amtsträger verstanden hat (Lk 12,16-48): sie sind die, die das Hauswesen des Herrn, seine Kirche, in seiner Abwesenheit zusammenhalten in Erwartung der Verantwortung, die sie bei seiner Wiederkehr werden geben müssen!
Bei unserem Überblick über das nachpaulinische Schrifttum müssen wir nun noch auf die Pastoralbriefe eingehen, die zugleich dessen geschichtsmächtigsten und umstrittensten Teil darstellen. Diese drei pseudepigraphischen Schreiben sind wahrscheinlich gegen Ende des 1. Jahrhunderts in Kleinasien entstanden.[16] Formal wird man sie als die erste Kirchenordnung, eingekleidet in eine fiktive Abschiedsrede des in den Tod gehenden Paulus, charakterisieren können. Timotheus, der Adressat der ersten beiden Schreiben, wird angeredet als einer, der für eine Mehrzahl von Gemeinden Verantwortung trägt und sie ordnen soll. Mit besonderem Nachdruck wird auf seinen Auftrag verwiesen, dafür zu sorgen, daß in diesen Gemeinden die Leitungsdienste sachgemäß besetzt werden.
Um welche Dienste handelt es sich dabei konkret? Genannt werden drei, nämlich Episkopen, Presbyter und Diakone. Es ist deutlich, daß die beiden ersten eng zusammengehören; vorausgesetzt ist anscheinend ein Kollegium von Presbytern. Sehen wir genauer zu, so stellt sich heraus, daß dieses ziemlich heterogen ist. Anscheinend besteht es in seiner Mehrzahl aus älteren Männern; daneben gibt es auch einige jüngere, doch wird deren Übernahme des Presbyteramtes anscheinend als Neuerung empfunden, was indirekt zu erschließen ist aus der Bemerkung, niemand solle Timotheus wegen seiner Jugend verachten (1Tim 4,12). In die gleiche Richtung verweist die Aussage, daß diejenigen Presbyter, „die ihren Vorsteherdienst gut wahrnehmen“, dafür ein angemessenes Honorar erhalten sollen (1Tim 5,17). Anscheinend befindet sich das Ältestenamt im Umbruch von einem bloßen Ehrenamt zu einem auch für jüngere Männer zugänglichen Beruf. Einer nun aus diesem Presbyter-Kollegium hat die besondere Stellung des Episkopos. Er ist anscheinend der verantwortliche Gemeindeleiter. In 1Tim 3,1-7 werden seine Qualifikationsmerkmale ausdrücklich genannt, und manches dabei mutet an wie aus einer profanen Stellenausschreibung entnommen: Der Episkopos soll unbescholten sein, seine Eheverhältnisse und sein Familienleben sollen in Ordnung sein, er soll keine Laster haben, er soll ferner kein Neubekehrter sein, sondern einer, der bereits hinlänglich gefestigt ist im Glauben. Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, daß dieser Episkopenspiegel keine eigentlich „geistlichen“ Merkmale nennt. Freilich zeigt sich, daß diese an anderer Stelle sehr wohl zur Sprache kommen, dort nämlich, wo davon die Rede ist, daß der Episkopos in der Lage sein muß, zu lehren (1Tim 4,11; 6,2; 2Tim 2,2). Die Lehre wird hier so fest mit dem Amt der Gemeindeleitung verbunden, daß man geradezu von einem Prinzip Leitung durch Lehre sprechen könnte. Bei dieser Lehre geht es einerseits um die Bewahrung dessen, was von der ersten Generation her überkommen ist: die parathḗkē (= der feste Lehrbestand) ist festzuhalten. Mit dieser Betonung der Lehre als eines festen unveränderbaren Bestandes zeigt sich sicherlich eine gewisse Erstarrung. Man sollte andererseits nicht übersehen, daß das Lehren im Sinn der Pastoralbriefe auch noch, wenigstens in Spuren, die Dimension des Profetischen kennt: Der Episkopos muß nämlich in der Schrift unterwiesen sein (2Tim 3,15), er muß von ihr her lehren „zur Weisung, zur Erziehung in Gerechtigkeit“. Und er muß mit dieser Lehre die Gemeinde vor dem Einbruch der Irrlehre bewahren, d. h. er muß die Scheidung zwischen Irrtum und Wahrheit in Verantwortung gegenüber Jesus Christus vollziehen.
Vielfach hat man etwas mißverständlich von einem „monarchischen Episkopat“ in den Pastoralbriefen gesprochen. Gewiß ist vorausgesetzt, daß es in jeder Ortsgemeinde nur einen Hirten gibt, der zuständig und verantwortlich ist. Das aber ist letztlich kein anderes Prinzip als das, das heute noch unsere kirchliche Wirklichkeit bestimmt. Der Hirte (= Episkopos) gehört zum Kollegium der Presbyter und hat dort den Vorsitz, er ist also primus inter pares.
Als drittes Amt kennen die Pastoralbriefe das des Diakonen. Was wir konkret über seinen Inhalt und Aufgabenbereich erschließen können, ist wenig. Aus seiner Bezeichnung läßt sich folgern, daß es bei ihm um eine besondere Manifestation des dienenden Daseins für andere, das der Kirche durch Jesus eingestiftet war, ging. Außer Zweifel steht auch seine gottesdienstliche Verankerung. Wahrscheinlich war der Diakon für die Einsammlung und Austeilung der Gaben bei der Eucharistiefeier, bei der der Episkope den Vorsitz führte, verantwortlich.
Besonders wichtig ist das, was die Pastoralbriefe über die Amtseinsetzung (Ordination) sagen. Sie greifen dabei zurück auf den alten Segens- und Bevollmächtigungsritus der Handauflegung, den das Alte Testament und das Judentum, speziell für die Rabbinenordination, kannte.[17] Die Ordination wurde nach erfolgter Auswahl des Kandidaten, über deren Modus wir nichts erfahren, unter Gebet und Handauflegung durch das Presbyterkollegium (1Tim 4,14) durchgeführt mit der Intention, daß dem Ordinierten die für seine Aufgabe erforderliche Geistesgabe verliehen werde. Im Hintergrund steht dabei ohne Zweifel die Überzeugung, daß der Geist in und durch diese Handlung zum Menschen kommt, um ihm die rechte Amtsführung zu ermöglichen. Das aber heißt: man handelte in der Gewißheit, daß Gott selbst mit seiner Zusage dieses Handeln deckt und begleitet. Der letztlich in der Ordination Handelnde und Wirkende ist – nicht anders als in der Taufe – Gott selbst. Wichtig ist auch, daß die Ordination betont als ein öffentlicher Akt dargestellt wird: Die Gemeinde kennt den Ordinierten, sie kann ihn auf seine Ordination hin ansprechen, ihn dabei in Pflicht nehmen. Durch die Ordination wird der Ordinierte an die Gemeinde verwiesen und umgekehrt.
Doch versuchen wir nun, das alles nach dem anfangs erwähnten Kriterium zu beurteilen! Als entscheidend ergibt sich dabei unschwer, daß im Mittelpunkt all der erwähnten institutionellen Ordnungen das Evangelium steht. Dafür wird Sorge getragen, daß es zum Ziel kommt, indem es Gemeinde baut. Vorausgesetzt ist dabei, daß die Kirche sich gemäß der Gemeinschafts- und Geschichtstreue Gottes darauf verlassen kann, daß dies, die Auferbauung der Gemeinde durch das Evangelium, zu jeder Zeit geschehen darf und soll. Die Kirche braucht also nicht auf besondere Gesandte zu warten, die ihr je und dann das Wort sagen, sondern sie darf sich in der Kontinuität des nach Gottes unumstößlichem Heilswillen in der Welt bleibend gegenwärtigen Evangeliums festmachen.[18] Dem bleibenden Evangelium entsprechen die bleibende Kirche und das bleibende Amt! Dieses Amt konstituiert freilich nicht die Kirche; konstituierend bleibt allein das Evangelium. An dieser fundamentalen Einsicht haben die Zeugnisse der nachpaulinischen Zeit festgehalten. Das Amt ist auch da, wo es institutionell geordnet ist, nur Zeichen der Kontinuität des Evangeliums. Und es ist daneben Manifestation der konkreten personalen Zuwendung des Evangeliums, die im Handeln Jesu ihren Ursprung hat.
Kritisch läßt sich gegen die Konzeption der nachpaulinischen Schriften nur einwenden, daß über dem Nachdruck, mit dem sie das Hirten- und Leitungsamt ordnen, zuwenig Raum bleibt für anderes. Das einzige Charisma, von dem die Pastoralbriefe reden, ist das des ordinierten Amtes – und damit bleiben sie zweifellos hinter der Intention des Paulus in 1Kor 12 zurück. Hier sollten wir von Paulus her ein Korrektiv einbringen: wie Paulus durch seinen Dienst spontane Dienste und Initiativen in der Gemeinde erweckte, so sollte es auch weiter geschehen. Von Paulus können wir lernen, daß die Auferbauung des Hauses Gottes Verleiblichung Christi im lebendigen Miteinander verantwortlicher Menschen ist.
Auf einen möglichen Einwand ist hier noch kurz einzugehen. Sind nicht die behandelten Schriften doch nur eine Gruppe aus dem reicheren Spektrum kirchlichen Lebens der zweiten und dritten Generation? Historisch gesehen trifft das zu. Man kann es – um nur ein Beispiel zu nennen – aufregend finden, daß wenige Jahre vor der Abfassung der Pastoralbriefe im gleichen geographischen Bereich, nämlich in Kleinasien, sich der Apokalyptiker Johannes zu Wort meldet, ein charismatischer Wanderprofet, der durch die Gemeinden zieht, um spontan Weisungen des Geistes zu geben, und der dabei die Episkopen und Presbyter dieser Gemeinden zu ignorieren scheint. Zumindest aber ist deutlich, daß es zwischen ihm und den Christen der ortsfesten Gemeinden, an die sich sein Buch wendet, erhebliche Verständigungsschwierigkeiten geben mußte. Johannes ist Exponent einer Bewegung, die von den Anfängen des Evangeliums an immer dagewesen ist und in der auch viel vom Wesen dieses Evangeliums bewahrt worden ist – aber diese Bewegung hat ein entscheidendes Defizit: sie baut und sammelt nicht Gemeinde! Vielleicht ist sie eine wichtige Ergänzung dieses Bauens und Sammelns von Gemeinde, insofern sie das eschatologische Element des Evangeliums immer wieder neu zur Geltung bringt, zum Ausbruch aus den bestehenden Verhältnissen aufruft und nach vorn verweist. Diese Bewegung ist in der Christenheit weitergegangen; sie mündete zunächst aus in das Asketen- und Mönchtum der Wüstenväter und der Alten Kirche.
Wir unsererseits stehen in einer Tradition, die sich aus guten Gründen für das Prinzip der Gemeinde, der Sammlung der Christen an einen Ort, entschieden hat. Dieses Prinzip bleibt für uns zunächst verbindlich, unbeschadet dessen, daß wir in zunehmendem Maße lernen, auch andere Strukturen christlichen Lebens in ihrer Bedeutung zu erfassen. Weil das so ist, darum haben wir keine Wahl, wir müssen uns an dem Modell von Gemeinde und Gemeindeleitung orientieren, das die in der paulinischen Tradition stehende Kirche der zweiten und dritten Generation konzipiert hat. Die Möglichkeiten, die dieses Modell bietet, sind noch längst nicht ausgeschöpft!
V. Folgerungen für unsere heutige Diskussion um Amt und Ämter
Abschließend sei der Versuch unternommen, in thesenartiger Form Folgerungen aus dem Gesagten für unsere gegenwärtige Situation zu ziehen.
1. Es gibt einen bleibenden Auftrag Jesu Christi, seine Kirche durch das Evangelium zu begründen und zu leiten. Weil es diesen Auftrag gibt, darum gibt es auch notwendigerweise das Amt des Hirten. Zumindest da, wo in der Christenheit das Gemeindeprinzip als maßgeblich anerkannt wird, kann man auf diesen Dienst nicht verzichten.
2. Das Evangelium ist zugleich die Norm, der dieser Dienst untersteht, und der Inhalt seines Auftrages. Und zwar hat dieses Evangelium die Gestalt von Wort und Sakrament, wobei der Dienst am Wort nicht nur die Predigt (Profetie), sondern auch Lehre und Seelsorge umfaßt.
3. Zwischen Amt und Gemeinde besteht kein Antagonismus, sondern ein enges gegenseitiges Beziehungsverhältnis. Nach dem Neuen Testament ist das Amt dafür da, daß durch das Evangelium lebendige Gemeinde entsteht und erhalten wird. Der Lehrtopos vom Priestertum aller Gläubigen berührt die Lehre vom Amt nicht. Durch das Vorhandensein fester, personbezogener Ämter und Dienste wird das Priestertum aller Gläubigen keineswegs eingeschränkt. Allgemeines Priestertum bedeutet, daß allen Gliedern des Volkes Gottes jene priesterlichen Rechte des freien Zugangs zu Gott gewährt werden, die nach dem Alten Testament nur die Priester besaßen; d.h., sie bedürfen keiner menschlichen Vermittlung mehr, wo es um ihr Gottesverhältnis geht. Das Amt der Kirche jedoch geht auf Jesu besonderen Auftrag zum Dienen zurück. Es ist im übrigen Teil der Gemeinde, es steht ihr nicht gegenüber, sondern es ist in sie eingebettet. Wesentlich ist freilich, daß es nicht eine Funktion ist, die die Gemeinde delegiert, sondern eine, die vom Herrn der Kirche ausgeht und ihm gegenüber verantwortet werden muß.
4. Bereits im Neuen Testament wird das gemeindliche Leitungsamt unterschiedlich gestaltet. Motive und Komponenten, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (z.B. der jüdischen Gemeindeverfassung oder dem antiken Vereinswesen) stammen, fließen in sein äußeres Erscheinungsbild mit ein. Aber diese Komponenten werden durch das, was man das „spezifisch Christliche“ nennen könnte, in Dienst genommen und umgeprägt. Diese Beobachtung gibt uns heute Freiheit, das kirchliche Amt neu zu gestalten. So können wir beispielsweise offen sein für die Einsicht, daß in der Vergangenheit Komponenten und Motive aus der uns umgebenden Gesellschaft die faktische Gestaltung unserer kirchlichen Ordnung beeinflußt haben, und wir dürfen uns die Freiheit nehmen, zu fragen, ob diese Komponenten und Motive in der gegenwärtigen Situation noch dem Evangelium dienlich sein können. Um konkret zu werden: Ich sehe ein solches traditionelles Motiv etwa in der auf den Humanismus zurückgehenden Prägung unseres Pfarramts durch das Leitbild des Gelehrten. Umgekehrt haben wir selbstverständlich auch die Freiheit, aus heutigen gesellschaftlichen Motiven und Komponenten das zu übernehmen, was uns als mit dem Evangelium vereinbar erscheint. Zu dieser Freiheit gehört es freilich auch, daß wir uns nicht an solche Strukturen und Trends in der Gesellschaft anhängen, die wir nach sorgfältiger theologischer Prüfung als dem Wesen des Evangeliums konträr beurteilen müssen.
5. In unserer Tradition wurden faktisch alle Funktionen innerhalb der Gemeinde auf ein einziges Amt, das Pfarramt, konzentriert. Die Möglichkeit, hier wieder zu einer stärkeren Aufgliederung zu kommen, sollte ernsthaft bedacht werden, zumal die aus der Ökumene kommenden Impulse in diese Richtung zu weisen scheinen. Zumindest wären aber im Falle einer solchen Aufgliederung die dann entstehenden unterschiedlichen Dienste in ihrem Bezug auf den Hirtendienst zu klären: In welchem Sinn und in welcher Weise dienen sie der Auferbauung der Gemeinde durch das Evangelium?
6. Was uns vor allem not tut, ist die Besinnung darauf, daß das Amt der Gemeindeleitung nicht die Kirche ist, sondern der Kirche dient. Dieses Amt darf nicht Initiative und Verantwortung bei den Gliedern der Gemeinde lähmen, es muß sie vielmehr stärken und fördern. Es käme darauf an, wieder sichtbar zu machen, daß jeder Christ ein Charisma, eine Möglichkeit zum Dienst hat. Wir müßten lernen, solche Charismen wieder zu wecken, so, wie Paulus sie zu wecken verstand.
7. Nicht diskutabel erscheint mir der in den letzten Jahren häufig zu hörende Vorschlag, der Pfarrer solle seine Rolle lediglich als die eines theologischen Beraters und Fachmanns innerhalb der Gemeinde verstehen. Täte er dies, so würde er damit seinen eigentlichen Auftrag preisgeben, um statt dessen in die Rolle des Experten zu schlüpfen, die Wissensüberlegenheit fordert und damit Herrschaftsgebaren fördert. Das wäre ein Schritt auf den falschen Weg, durch den jene Komponenten, die in der Vergangenheit das Bild des evangelischen Pfarrers schon zu stark bestimmt haben, nämlich seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bildungsstand, sein Expertentum, noch weiter verstärkt würden. Solide theologische Bildung wird sicher auch in Zukunft unaufgebbar sein; aber es gilt, sie zu haben, als hätte man nicht. Was hingegen das Bild des Pfarrers zentral bestimmen sollte, wäre seine Dienstbereitschaft um Jesu willen!
8. Zuletzt sei, gewiß nicht ohne Zögern, ein Punkt angesprochen, mit dem wir vermutlich die größten existentiellen Schwierigkeiten haben. Ich meine damit das, was ich die „apostolische Gestaltnorm“ genannt habe. Das Neue Testament setzt voraus, daß der von Christus in Dienst genommene Amtsträger mit seinem persönlichen Verhalten Zeugnis ablegt für das Evangelium, ja daß er durch die Weise seines Verzichtes auf Macht und Herrschaft, seines bedingungslosen Dienens, etwas von der Struktur dieses Evangeliums sichtbar werden läßt. Das wissen sogar noch die sonst so trockenen Pastoralbriefe, wenn sie dem Amtsträger zurufen: „Sei den Gläubigen ein Vorbild in deinen Worten, in deinem Lebenswandel, in der Liebe, im Glauben, in der Lauterkeit“ (1Tim 4,12). Es geht hier schlicht um die Glaubwürdigkeit des Amtsträgers! Gewiß: wir wissen seit dem Ketzertaufstreit und den donatistischen Streitigkeiten der Alten Kirche, daß auch die durch einen unglaubwürdigen Amtsträger verwalteten Sakramente gültig sind, daß auch die Predigt eines bloßen theologischen Funktionärs, der in innerer Distanz zu seiner Sache bleibt, Wort Gottes sein kann, das Glauben weckt ubi et quando visum est Deo. Es hängt zum Glück nicht an uns und unserer Einstellung, daß das Evangelium etwas ausrichtet. Aber damit ist der Wille Jesu nicht außer Kraft gesetzt, sich in seiner Gemeinde personhaft vertreten zu lassen durch Menschen, die es wagen, sich mit ihrem ganzen geschichtlichen Leben seiner Forderung zu unterstellen, die auch, wie einst Paulus, ihre Schwachheit nicht verschweigen und bemänteln, sondern sie zum Bereich werden lassen, in dem Jesus selbst seine Stärke zeigt.
Quelle: Theologische Beiträge 15 (1984), S. 201-218.
[1] Vortrag, gehalten vor dem Arbeitskreis der württembergischen Landeskirche „Das Amt und die Ämter“ am 25. 11. 1983 in Ludwigsburg, für den Druck nur unwesentlich überarbeitet.
[2] Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, 2. Aufl. 1982, 26-49; im folgenden zitiert als KA (= Konvergenzerklärung Amt).
[3] KA 22-25.
[4] S. hierzu J. Roloff: Art. „Amt/Ämter/Amtsverständnis“ IV, TRE II, 1978, 509f.
[5] J. Roloff: Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk X. 45 und Lk XXII. 27), NTS 19 (1972/73), 38-64.
[6] So auch KA 19: „Das Neue Testament beschreibt nicht eine einheitliche Amtsstruktur, die als Modell oder bleibende Norm für jedes zukünftige Amt in der Kirche dienen könnte. Im Neuen Testament findet sich vielmehr eine Vielfalt von Formen, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten bestanden haben“.
[7] S. hierzu vor allem F. Hahn: Das Problem des Frühkatholizismus, EvTh 38 (1978), 340-357, sowie die instruktiven Beiträge des Sammelbandes „Frühkatholizismus im Gespräch“ (Hrsg. v. J. Rogge und G. Schille, 1983).
[8] M. Hengel: Nachfolge und Charisma, 1968,18 f. 70-74.
[9] L. Goppelt: Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 3.Aufl. 1981,254-260.
[10] H. Schürmann: Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, 1968, 39-68.
[11] Zur Entstehung des Kirchenverständnisses vgl. J. Roloff: Art. ekklēsía, EWNT I, Sp. 998-1011 (dort ausführliche Bibliographie!).
[12] S. hierzu P. Hoffmann: Studien zur Theologie der Logienquelle, 2.Aufl. 1972, bes. 287-302.
[13] J. Roloff: Die Apostelgeschichte, NTD5,1981,138 f.
[14] Zur Analyse von Eph 4,7-16 s. H. Merklein: Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, 1973, 59-117; R. Schnackenburg: Der Brief an die Epheser, EKK X, 1982, 171-176.
[15] So H. Merklein, aaO, 363 f.; anders H. Schürmann: Orientierung am Neuen Testament, 1978, 150 f.
[16] Zur Datierung s. N. Brox: Die Pastoralbriefe, RNT 7,2, 55-58.
[17] E. Lohse: Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament, 1951.
[18] Diesen Aspekt hat m. Recht herausgestellt O. Merk: Glaube und Tat in den Pastoralbriefen, ZNW 66 (1975), 91-102.