Eine Auslegung von Psalm 62 (1526)
Von Martin Luther
1 Ein Psalm Davids für Jedutun, hoch zu singen
Dieser Psalm wurde von David verfasst und so angeordnet, dass er vom Sänger Jedutun und seinen Gefährten hoch, d.h. mit heller Stimme, gesungen werden sollte. Wir lesen im 1. Buch der Chronik (25,1ff.), dass David einige Sänger bestimmte, vor der goldenen Lade mit hellen Zimbeln und Schellen laut zu singen, während andere leiser mit Harfen spielten. Für jeden Chor hat er eigene Psalmen verfasst und anfertigen lassen.
2 Meine Seele schweiget zu Gott, denn von ihm kommt mein Heil.
David war ein erfahrener Mann, am Hofe des Königs Saul erzogen und geprüft, und hatte so manche Intrige beobachtet. Er sah, wie die Höflinge dem König um Geld und Ehre willen schmeichelten und all ihren Trost auf die Gunst des Königs setzten, bereit, ihm zuliebe alles zu tun, sei es gegen Gott oder Menschen. Daher musste David auch viel Bosheit von ihnen erleiden; sie erkannten, dass der König selbst ihm feindlich gesinnt war und ihn töten wollte, ähnlich wie Herodes die Juden entgegenkam, Petrus fing und die Christen verfolgte. Das Gleiche sieht man auch heute an Fürstenhöfen und hat es zu allen Zeiten gegeben: Die Höflinge und Finanziers handeln getrost so, wie sie glauben, dass es den Fürsten gefällt, solange Aussicht besteht, etwas für sich herauszuholen – gleichgültig, ob der Arme und Gerechte dabei zugrunde geht oder sich behauptet, solange sie selbst reich und angesehen werden. Doch dies geschieht nicht nur an Höfen, sondern in allen Ständen. Es ist der Lauf der Welt, um persönlicher Vorteile willen zu heucheln, auf die Gunst und Hilfe der Menschen zu bauen, dabei Gott zu verachten und dem Nächsten zu schaden – und dennoch fromm sein zu wollen, Gottes Wort und Gerechtigkeit in höchsten Tönen zu rühmen, als wäre man einer der Allerbesten.
Gegen solch gottlose Machenschaften hat David diesen Psalm verfasst, als heilsame Lehre und Warnung. Er zeigt uns darin, dass wir unser Vertrauen nicht auf Menschen setzen sollen, seien es auch Fürsten und Könige, sondern allein auf Gott. David warnt uns, denn solch ein Verhalten nimmt kein gutes Ende. So spricht er auch im 146. Psalm: „Verlasst euch nicht auf Fürsten, auf Menschenkinder; sie können doch nicht helfen, denn ihr Geist muss ausfahren und wieder zur Erde kommen; dann sind verloren alle ihre Pläne.“ (Verse 3-4) Damit will er sagen: Selbst wenn die Gunst der Menschen im Leben beständig wäre – was sie jedoch nicht ist, denn es heißt: heute Freund, morgen Feind, und besonders von Fürsten sagt man: Fürstengnade ist wie Aprilwetter – so ist doch ihr Leben keine Stunde gewiss. Warum verlässt du dich dann auf sie und verachtest um ihretwillen Gott, der ewig bleibt, und begehst solche Bosheit gegen ihn und deinen Nächsten? So setzt er sich hier selbst als Beispiel, da er zu Zeiten Sauls viele sah, die auf Saul vertrauten und seinetwegen taten, was Gott und Menschen missfiel. Doch als Saul tot war, standen sie beschämt da, wie Doeg, der nach Sauls Tod kam und David heuchlerisch versicherte, er habe Saul getötet (2. Sam. 1,10).
Darum spricht er hier: „Mir soll es nicht passieren, dass ich meinen Trost auf Fürsten oder Menschen setze, wie es die gottlosen Höflinge tun. Ich will dem König gern gehorsam sein, ihm dienen, sein Bestes suchen und fördern, ihm helfen und raten, und mit Leib und Gut ihm beistehen. Doch darauf, dass ich mich auf ihn verlassen sollte, dass er mich reich, mächtig oder glücklich machen könnte, darauf will ich verzichten. Denn morgen könnte sich das Blatt wenden, dass er mich verfolgt.“ So geschah es: David war zunächst Sauls liebster Diener, danach aber der am meisten Gehasste. Auch er musste erkennen, dass Fürstengunst wie Aprilwetter ist, besonders, wenn es sich nicht um gottesfürchtige, sondern um gottlose Fürsten handelt. Hätte ich dann um eines Fürsten oder eines Menschen willen gegen Gott und Menschen gehandelt, wohin sollte ich fliehen, wenn Gott und Mensch zornig über mich sind? Da lasse ich mir lieber die Gunst von Fürsten und Menschen entgleiten, während mir Gottes Huld bleibt. Bleibt mir Gottes Huld, so wird sich auch Menschenhuld finden; findet sich diese jedoch nicht, so mag sie zum Teufel fahren, Gottes Huld genügt mir. Verliere ich jedoch Gottes Huld, so bleibt mir am Ende auch keine Menschenhuld, und ich fahre samt meinen Fürsten zum Teufel und habe sowohl Gottes- als auch Menschenhuld verloren. Da hätte ich es dann fein getroffen und wohl gemacht!
Wenn er sagt „meine Seele schweiget zu Gott“, so ist das hebräisch ausgedrückt. Auf Hebräisch würde es lauten: „Das Schweigen meiner Seele ist zu Gott gerichtet“, das heißt: Ich schweige unter dem Druck der Gottlosen, die sich auf Menschen und Herren verlassen, auf sie pochen und trotzen. Aber ich befehle mich Gott an, pochte und trotze auf ihn – still und heimlich, sodass sie es nicht wissen und mich für einen Narren halten, weil ich nicht mitmache, nicht heuchle und nach Geld strebe wie sie. Welch ein seltsames Geschlecht ist doch solch ein Höfling! Dennoch hatte selbst Saul, der böse König, einen solchen Diener. David war wie eine Rose unter Dornen inmitten solch gottloser Höflinge. Ohne Zweifel kann es auch heute noch einen frommen Menschen am Hof geben; doch muss er stets darauf gefasst sein, unter Dornen zu leben und sich den Stacheln auszusetzen.
„Denn von ihm kommt mein Heil“, spricht er. Das heißt: Wahrlich, niemand wird mir helfen außer Gott, darauf ist Verlass. „Von ihm, von ihm“ – das bedeutet: „von ihm allein kommt mir mein Heil“, das heißt, alles mein Glück, Reichtum, Wohlergehen und alles, was ich brauche. Die Gottlosen aber sagen: „Mein heiligster Vater Papst, mein gnädigster Herr Kaiser, mein gnädigster Herr König von Frankreich, mein gnädigster Herr von Mainz, mein gnädigster Herr von Sachsen wird mir helfen.“ Ja, das mögen sie denken – solange nichts dazwischenkommt und sie morgen nicht selbst sterben oder ebenso dringend Rat und Hilfe brauchen wie du!
3 Denn er ist mein Hort, mein Heil, mein Schutz; darum werde ich wohl bestehen.
Ja freilich, weil du das glaubst, bist du sicher – selbst wenn es neun Jahre lang türkische und tartarische Kaiser und zornige Könige und Fürsten regnen und schneien würde, mit all ihrer Macht, dazu noch alle Teufel mit ihnen. „Hort“ habe ich als Übersetzung des hebräischen Wortes „zur“ gewählt, das „Fels“ bedeutet; wir nennen den Hort das, worauf wir uns verlassen und worauf wir hoffen. So will er hier sagen: „Ich weiß, dass mein Heil von ihm kommt. Warum? Weil ich mir keinen Menschen zum Halt und Trost erkoren habe, wie groß, mächtig und reich er auch sei, und mein Herz und meine Hoffnung nicht auf ihn setze, sondern auf Gott allein. Von ihm allein soll und wird mir alles Glück und Heil kommen.“ So nennt er Gott seinen Fels oder Hort, weil er sich ihm fest und sicher anvertraut. Sein Heil nennt er ihn, weil er glaubt und nicht zweifelt, dass Gott ihm mit Glück und Heil beistehen wird – selbst wenn Saul und alle Menschen ihn verlassen und ihm nichts geben, weder Dorf noch Stadt. Seinen Schutz nennt er Gott, weil er darauf vertraut und gewiss ist, dass Gott ihn vor allem Bösen bewahren wird, selbst wenn Saul und all seine Höflinge sein Verderben und seinen Tod suchen. Welch feine Seele ist das doch, die solch ein Lied für Gott singen kann! Aber wie selten ist sie, während man in allen Höfen, Städten und Ländern viele findet, die einem großen Herrn zuweilen für zehn Gulden oder noch geringeren Lohn ein solches Lied singen.
4 Wie lange stellt ihr dem Mann nach, dass ihr ihn alle erwürgt wie eine hängende Wand und einen zerfallenden Zaun.
Diesen Vers könnte ich vortrefflich illustrieren, würde ich mich selbst als Beispiel nehmen dürfen. Doch es heißt: „Meine Seele schweigt zu Gott.“ David wusste, wie die Höflinge sind: Solange die Gunst des Königs leuchtete, war niemand herrlicher als David, und jeder wollte sein Freund sein und ihn lieben, obwohl ihr Herz insgeheim dachte: „Möge der Teufel dich holen, dass ich an deine Stelle käme und der Liebling des Königs würde!“ Aber als der König ihm feindlich gesinnt war, brach hervor, was sie zuvor gedacht hatten: Jeder wollte dem König zu Diensten sein und das Beste für Davids Untergang tun. Da gab es keine Zögernden; alle, wirklich alle, wollten ihn mit Gewalt vernichten. Da hieß es am Hof: „Ach, möge diesen Buben die Pest, der Veitstanz und alle Flüche treffen!“ Besonders dann, wenn der König oder seine Ohrenbläser es hörten. Das meint er hier mit den Worten: „Wie lange stellt ihr ihm nach und wollt alles daransetzen, dass er stirbt?“ Als wollte er sagen: „Wie sehr hängt ihr an einem Menschen und verachtet Gott, dass ihr um seinetwillen sogar bereit seid zu morden und Tag und Nacht auf sein Leben trachtet!“
Aber jetzt habt ihr es leicht, weil ich nur noch eine hängende Wand und ein zerfallender Zaun bin; eine Wand und ein Zaun, die bereits zur Erde neigen, sind schnell dazu gebracht, vollständig zu fallen. So ist es auch, wenn ein Fürst oder ein mächtiger Herr einen Mann bedrückt; die Wand und der Zaun sind geneigt, und dann kommen die Pfennigsucher, meinen, ihre Stunde sei gekommen, um an ihm ihr Mütchen zu kühlen und an ihm Ritter zu werden. Sie treten ihn vollends zu Boden, während sie ihn aufrichten, den Zaun stützen und die Wand untermauern sollten. Sie raufen dem toten Löwen den Bart, den sie lebendig nicht anzurühren wagten. Ebenso mussten diejenigen, die Davids Untergang halfen, sich wohl vor ihm verneigen, solange er in der Gunst des Königs stand. Doch die Welt handelt nicht anders, und man kann sich danach richten.
Auch Christus musste einen Verräter haben – Judas –, der ihn mit Füßen treten half, als die Juden bereits seinen Tod suchten, wie es im Psalm 41,10 heißt: „Der mein Brot isst, tritt mich mit Füßen.“ So geht es, und so muss es gehen, im geistlichen wie im weltlichen Reich, dass die tapferen Helden, die sich gegen einen lebendigen Hund nicht zu wehren trauen, den toten Löwen raufen. Das ist das, was aus dem Trost hervorgeht, den man auf Menschen setzt.
5 Aber sie denken daran, ihn von seiner Höhe zu stürzen; Lügen gefallen ihnen, mit dem Munde segnen sie, aber innerlich fluchen sie.
Es geht ihnen nur darum, ihn herunterzustoßen und selbst an seine Stelle zu treten. So geht es in der Welt: Wenn jemand ein wenig aufsteigt, hat man keine Ruhe, bis er wieder ganz unten ist. Solch ein böser Geist ist der Fürst der Welt, der Teufel, der es nicht ertragen kann, wenn jemand etwas Großes ist – geschweige denn, dass er geistliche Güter dulden könnte.
„Lügen gefallen ihnen,“ das heißt, sie arbeiten mit lauter Falschheit, um ihren Willen durchzusetzen. Sie sprechen schöne Worte, aber es steckt nichts dahinter. Das ist ihre Lust und ihr Gefallen. Sie reden auch freundlich mit demjenigen, den sie verderben wollen, geben sich freundlich und denken doch insgeheim: „Möge dich alle Plage treffen!“ Sie hören nicht auf, bis sie ihm wirklich schaden. Sie loben mit dem Munde, aber innerlich fluchen sie, das heißt, im Herzen wünschen sie ihm alles Leid und sprechen doch: „Meine freundlichsten Dienste stehen Euch zur Verfügung; was immer ich für Euch tun kann, findet Ihr mich dazu stets bereit!“ Verlasse dich nur darauf, und dann sieh, was du wirklich bekommst! Am allerschlimmsten ist diese Heuchelei, wenn sie im Namen des Evangeliums daherkommt: Da wollen die falschen Brüder und Schwärmer christliche Brüder sein, sind aber verlogene Schurken, die nichts anderes im Sinn haben, als sich an die Spitze zu setzen und die Ehre zu erlangen, auch wenn sie den Mund voller Segen haben und angeblich Gottes Ehre und die Wahrheit suchen.
6 Aber meine Seele schweige vor Gott; denn meine Hoffnung ist auf ihn gerichtet.
Wenn Sauls Hofgefolge, die ganze Welt und auch die falschen Geister so voller Falschheit sind, was bleibt dann einem frommen Herzen zu tun? Nichts anderes als: Schweigen und still sein. Lass sie lügen, betrügen, Böses denken und tun. Überlasse deine Sache und dich selbst Gott und hoffe auf ihn. Lass sie mit ihren Lügen und falschen, bösen Tricks den Menschen und Fürsten dienen und auf sie hoffen – es wird sich schon zeigen, welche Hoffnung die beste ist.
7 Gott ist mein Hort, mein Heil und mein Schutz; ich werde sicher bleiben.
Diesen Vers wiederholt er noch einmal, zum Trotz gegen die Falschen und als Trost für sein und unser aller Herz. Denn damit beschließt er sein Beispiel und seine Lehre darüber, was die Welt ist und wie sie handelt, damit wir sie mutig verachten können. Was im nächsten Vers gesagt ist, kannst du hier ebenfalls sagen, denn es ist ein Vers.
8 Bei Gott ist mein Heil, meine Ehre, der Fels meiner Stärke, und mein Vertrauen ist auf Gott gesetzt.
Hier beginnt er zu warnen und zu ermahnen. Er stellt Gott und die Menschen gegenüber, als wollte er sagen: „Nun, ihr habt mein Beispiel gehört, wie es in der Welt zugeht, besonders am Hof, wo das Haupt und Beste der Welt ist. So stellt nun Gott und die Menschen einander gegenüber, und ihr werdet sicher finden, wie ich es gefunden habe: Bei Gott ist mein Heil, meine Ehre und der Fels meiner Stärke.“ Das heißt: Gott will und kann helfen; er gibt Gesundheit, Glück und Heil, auf das man sich verlassen kann. Er ist auch meine Ehre, das heißt, er gibt Wohlstand, Macht und Würde – was als ehrenwert gilt. Denn in der Schrift bedeutet Ehre nicht nur guten Ruf, sondern auch die Güter, von denen dieser Ruf ausgeht, z.B. Matthäus 6,29: „Ich sage euch, dass selbst Salomo in all seiner Pracht nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen,“ und Psalm 78,40: „Sie wandelten ihre Ehre in ein Kalbsbild,“ das heißt, sie vertauschten Gott und Gottesdienst. Die Gottlosen suchen all dies bei Fürsten und Menschen.
Der Fels meiner Stärke, das heißt, er ist der Grund und die Stütze, auf die sich meine Macht und Herrschaft stützen. Stärke bedeutet hier, wie fast überall, die Macht oder Gewalt der Herrschaft in Fürstentümern und Königreichen. So fasst er alles in diesen Vers zusammen: „mein Heil“, das heißt mein ganzes Glück und Wohlergehen; „meine Ehre“, das heißt mein Wohlstand und Vermögen; „meine Stärke,“ das heißt meine Macht und Autorität. Summa summarum: Alles, was ich an Gesundheit, Kraft, Wohlstand, Ehre, Ruhm, Macht und Autorität auf Erden haben kann, das will ich weder Kaiser, Königen und Fürsten, noch irgendeinem Menschen anvertrauen oder von ihnen erwarten. Vielmehr soll es bei Gott bestehen und vergehen, bleiben und verfallen. Wenn er es hält, so bleibt es gehalten, selbst wenn die ganze Welt es stürzen wollte; wenn er es stürzt, so fällt es, selbst wenn die ganze Welt es halten wollte. So ist auch mein Vertrauen auf Gott, das heißt, ich will nicht nur alles Gute von ihm erwarten, sondern auch aller Widrigkeit unter seinem Schutz trotzen, denn ich bin gewiss: Er wird mich nicht verlassen. Menschen verlassen uns immer wieder, und auf sie ist kein sicherer Verlass.
9. Hoffet auf ihn allezeit, ihr Völker, schüttet euer Herz vor ihm aus; Gott ist unsere Zuversicht.
(Er will sagen:) Weil Gott so zu mir ist, folgt mir treu nach, denn er wird für uns alle so sein; ich habe es erfahren, darum kann ich es euch trostvoll raten. Lasst Saul, Papst, Kaiser, König, Fürsten und jedermann zürnen; fürchtet euch nicht, hofft auf Gott – er wird nicht fehlen. Umgekehrt: Lasst Saul, Papst, Kaiser, Könige, Fürsten und jedermann lächeln, trösten und versprechen, hofft aber nicht auf sie und verlasst euch nicht darauf. Sie sind unbeständig im Körper und im Willen; der Körper vergeht, und der Wille ändert sich bald. Gott aber bleibt fest. Verlasst euch also auf Gott zu jeder Zeit, sei es im Glück oder im Unglück. Fehlt euch etwas, so hört: schüttet euer Herz vor ihm aus, klagt ihm alles frei heraus; was auch immer es sei, bringt es ihm vollständig dar, wie ihr einem guten Freund euer Herz öffnet. Er hört es gern, und er will auch gern helfen und raten. Scheut euch nicht vor ihm und denkt nicht, es sei zu groß oder zu viel. Werft es nur getrost vor ihn hin, mögen es auch ganze Säcke voll Mangel sein – alles heraus damit! Er ist größer und vermag und will mehr tun, als unser Mangel ist. Sparen braucht man vor ihm nicht; er ist nicht wie ein Mensch, der durch Bitten und Betteln überfordert wird. Je mehr du bittest, desto lieber hört er dich. Schütte nur alles rein heraus, tröpfle und zögere nicht, denn er wird auch nicht tröpfeln und zögern, sondern dich mit einer Sintflut überschütten. Er ist unsere Zuversicht, unsere Zuflucht und sonst niemand. Denn alle anderen sind zu gering, als dass wir ihnen unser Herz ausschütten könnten. Sollte ich einen Tropfen meines Herzens vor dem Kaiser ausschütten, so müsste er selbst zum Bettler werden, denn er könnte mich nicht sättigen. Wie sollte ich mich dann auf ihn verlassen oder bei ihm Zuflucht suchen, wenn ich mein Herz ganz und immer vor ihm ausschütten müsste? Ei, es ist nichts mit den Menschen, wie auch folgt:
10 Aber die Menschen sind eitel, die Leute sind falsch; auf der Waage wären sie leichter als eitel. Was Gott ist, hast du gehört. Nun höre dagegen, was Menschen sind. Es ist nichts mit ihnen, spricht er, verlässt du dich auf sie, so wisse, dass du dich auf lauter Nichts verlässt; es wird dir gewisslich fehlgehen. Ja, spricht er, wenn man auf eine Waage in die eine Schüssel die Menschen legte, in die andere aber Eitelkeit oder Nichts, so würden die Menschen leichter sein als nichts. Solche hebräische Rede übertragen wir ins Deutsche: Menschen sind weniger als nichts. Was sie „eitel“ nennen, das nennen wir „nichts“, wie Salomo spricht (Pred. 1,2): „Es ist alles eitel und lauter Eitelkeit“, das heißt, es ist mit Menschentand nichts und lauter Nichts.
Hier fragst du: Wie kann der Mensch nichts sein, da er doch Gottes Geschöpf und Kreatur ist? Antwort: David redet nicht von der Kreatur an sich, sondern vom Gebrauch der Kreatur. Das heißt: Der Mensch ist wohl ein gutes Ding, man gebraucht ihn aber nicht recht. Ein Fürst, König, Kaiser ist auch ein gutes Ding, man gebraucht sie aber nicht recht. Wieso? Man will auf sie trauen und bauen. Zu solchem Gebrauch taugen sie nichts. Warum? Sie sind ihres Lebens und Herzens ungewiss. Sand und Wasser sind auch gute Dinge, aber wenn ich ein Haus darauf bauen wollte, wären sie dafür nichts und weniger als nichts. Wenn ich aber Wasser trinke und mich wasche, so ist es nicht nichts, sondern ein köstlich nützliches Ding; denn dazu ist es geschaffen, und das ist sein Gebrauch. Ebenso sind Fürst, König und Kaiser geschaffen, damit sie Frieden im Lande halten. Da sind sie Gottes Kreatur und ein gutes Ding. Aber dass ich auf sie trauen will, das ist nichts. Er spricht nicht: Gehorcht den Fürsten nicht!, sondern: Verlasst euch nicht auf Fürsten. Das Sich-Verlassen gehört Gott allein. Ich soll nicht Dreck für Gold verkaufen. Dreck hat seinen Nutzen. Aber dass er wie Gold sein sollte, das ist nichts. Du siehst, dass dieser Psalm ganz und gar von Glauben, Trauen, Zuversicht und Sich-Verlassen spricht. Diese Titel sind alle für Menschen und Fürsten zu hoch, wiewohl die Welt nichts anderes tut, als Menschen zu trauen und Gott nicht zu trauen. Das heißt: Sie ist nichts und traut auf nichts. – Wieso sind aber die Menschen leichter oder weniger als nichts, was kann weniger sein als nichts? Antwort: Was nichts ist, das betrügt niemanden; aber wer auf das traut, was nichts ist, der hat zweierlei Schaden: Erstens, dass er nichts findet, zum anderen, dass er verliert, was er daran wendet. Denn wer einfach nichts hat, der hat ein einfaches Nichts und wendet nichts daran. Wer aber auf Menschen traut, der verliert, abgesehen davon, dass er nichts findet, auch das, was er daran gewandt hat; so wird auch seine Hoffnung und Mühe über dem Nichts zunichte, auf das er hofft. Darum ist es recht geredet, dass ein solcher Mensch weniger ist als nichts. Aber die Welt lässt ihr Trauen auf Menschen nicht. Darum bleibt es auch nicht aus, dass sie umsonst traut auf nichts. O welch herrlicher Lobpreis über uns alle, die wir Menschen heißen, dass wir weniger sind als nichts; so fein kann einer dem anderen helfen.
11 Verlasst euch nicht auf Unrecht und Gewalt und seid nicht eitel; fällt euch Reichtum zu, so hängt das Herz nicht daran. Hier beschließt er den Psalm mit Drohen und schreckt die Gottlosen mit Gottes Gewalt, Urteil und Strafe. Er will also sagen: Es kitzelt euch und tut euch wohl, dass ihr zu Hofe seid und an Saul einen gnädigen Herrn habt; da seid ihr sicher, lasst euch dünken, ihr säßet fest, fragt nicht danach, ja, lachet dazu, dass ihr mir Unrecht und Schabernack antut und mich und meinesgleichen schädigt; wir müssen es von euch erleiden, man wagt es nicht, euch zu strafen, denn euer Herr hält seine Hand über euch, darauf verlasst ihr euch! Aber ich rate euch, tut nicht so, seid nicht zu sicher und gewiss, seid nicht eitel, das heißt, baut nicht so auf Fürsten und Menschen, welche nichts sind; denn damit werdet ihr lauter Nichts, das heißt, ihr geht mit nichts und richtet nichts aus, es wird euch auch an allem fehlen.
Ja, ich will weiter sagen: Wenn euch auch mit Recht und von Gott Reichtum zufiele, so verlasst euch doch auch nicht darauf und macht den Mammon nicht zum Gott. Denn Gut wird nicht dazu gegeben, dass man darauf bauen und trotzen soll, welches auch nichts und eitel ist, sondern dass man es gebrauchen und genießen und anderen mitteilen soll. Aber die Menschen lassen es nicht, sie bauen und trotzen auf Fürsten und Gut, das heißt, allenthalben auf nichts und handeln auf nichts. Denn Gut macht Mut. Es ist aber nicht gut und erhält nicht den Mut. Das Herz daran hängen heißt soviel wie, sich seiner anzunehmen. Es nicht daran hängen heißt, sich seiner nicht anzunehmen und es so zu haben, als hätte man es nicht. Denn so lautet es im Hebräischen „auf das Herz setzen“ oder „ins Herz setzen“, das heißt, sich der Sache anzunehmen und sie sich zu Herzen gehen zu lassen. In den Händen soll das Gut sein, nicht im Herzen, wie Paulus zu den Korinthern (1. Kor. 7,31) sagt, dass wir die Welt nutzen sollen, als bräuchte man sie nicht.
12 Denn Gott hat einmal geredet, das habe ich wohl zweimal gehört, dass bei Gott Macht ist. Da sagen wir auf Deutsch so: Eins weiß ich wohl, dessen bin ich gewiss, denn Gott, der nicht lügen kann, hat es selbst geredet, dass Gott ein Herr ist; das habe ich mehr als einmal gehört. Das heißt: Seid nicht so eitel und gottlos; wenn ihr aber doch auf Menschen trotzen wollt, wohl an, so sage ich euch, dass bei Gott Macht ist, dass er der rechte Kaiser, König, Fürst und Herr ist, auch über euch und eure Herren, genauso wie über alle; das lasst euch gesagt sein. Denn Gott hat es selbst gesagt, ich habe es auch oft gehört und erfahren, wie er es bewiesen und die Gewaltigen vom Stuhl gestoßen hat. Sehet zu, dass es euch mit eurem Herrn nicht auch so ergeht. Lasst Saul Saul sein, lasst Kaiser Kaiser sein, lasst Fürsten Fürsten sein, lasst Menschen Menschen sein, fürchtet Gott! Denn es ist ein einziges Wörtlein, dass Gott mächtig sei, aber es hat einen großen und vielfältigen Ruf, man hat es oft erfahren, dass es so ist. Er wird wahrlich euch auch nicht verschonen noch verfehlen, wenn ihr auch jetzt ihn verachtet und eitel seid und um Menschen willen uns beleidigt und uns Unrecht tut.
13 Und bei dir, Herr, ist Güte, dass du bezahlst einem jeglichen, wie er es verdient. Gleichwie er Macht hat, alle Gottlosen gewaltig zu strafen, und sie ihm nicht entrinnen können, denn er ist allein Herr, und alle Herrschaft ist sein und von ihm, so ist er wiederum auch gütig und barmherzig, dass er den Elenden hilft und nicht leiden kann, dass sie ganz untergehen und den Heuchlern und Sauliten unterliegen und verlassen sein sollten. Denn wie geschrieben steht (Lk. 1,52), stößt er die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen, jene durch seine Macht, diese durch seine Güte, wie auch folgt: dass du vergiltst einem jeglichen, wie er es verdient. Den Gottlosen vergilt er mit Gewalt, gleichwie sie Gewalt geübt haben. Den Elenden vergilt er mit Güte und Gnade, gleichwie sie ohne Gewalt gütig und geduldig gewesen sind. Aber die Welt fragt nichts danach, sondern fährt immer fort mit ihrem Nichts und Frevel. So lässt es Gott geschehen und fährt auch immer fort mit seiner Macht und Güte, auf dass von diesem einzigen Wort unter allen anderen Gottesworten viele Beispiele und zahlreiche Geschichten entstehen, wie er als ein mächtiger Herr die großen Herren stürzt und bricht und als ein gnädiger gütiger Vater den Elenden und Verlassenen hilft. So tat er an Saul und David, so tut er jetzt am Papst und am Evangelium, an den Bischöfen und Christen und wird es noch immer mehr tun, bis sie zugrunde gehen und erfahren, dass wahr ist, was David hier sagt: Es sei ein einziges Wort Gottes, dass er mächtig und gütig ist, aber es werde davon gar viel gehört und viel erfahren. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Aus „Vier tröstliche Psalmen an die Königin zu Ungarn“ (1526)
WA 19,571–582.