Klaus Weigelt über Hans Graf von Lehndorff (1910 -1987) und dessen Ostpreußisches Tagebuch: „Lehndorffs Schlüssel für alles, was er erlebte, war sein Glaube. Hass konnte da gar nicht aufkommen. Die sachliche Unmittelbarkeit und Drastik der Schilderung macht betroffen – auch heute noch – und sie beteiligt den Leser an dem Wissen, ‚dass es keinen Ort gibt, an dem der Christ nicht Anteil hat an der Herrlichkeit, die in allem nur so lange verborgen ist, als die Augen zu stumpf sind, um sie wahrzunehmen!’“

„Wir sahen seine Herrlichkeit“. Hans Graf von Lehndorff (1910 -1987) zum 30. Todestag

Von Klaus Weigelt

Wenige Wochen nach dem Tode seiner Frau Margarethe, die sich in der Pflege ihres Mannes verzehrt hatte, starb der ostpreußische Arzt und Schriftsteller Hans Graf von Lehndorff am 4. September 1987 in Bad Godesberg nach jahrelanger, schwerer Krankheit. Die Zeitungsanzeige trägt ein letztes Bekenntnis dieses begnadeten Christen, den Lehrtext der Herrnhuter Brüdergemeine für den Todestag: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“ (Phil 1, 21).

Seit Graf Lehndorff in seinen Insterburger Jahren zur Bekennenden Kirche gefunden hatte, waren die Losungen der Herrnhuter für ihn zum täglichen Brot geworden. Er empfing es dankbar aus Gottes Hand, auch in den dunklen Zeiten der NS-Diktatur, des Krieges und der Sowjet-Herrschaft in Königsberg. Die Losungen gaben ihm Halt und Gebor­genheit. Das Geheimnis der Existenz dieses großartigen Menschen war sein christlicher Glaube. Sein Han­deln und sein Schreiben waren Zeug­nisse dieses Glaubens. Von ihnen ging Trost aus. Vielen Menschen zeigte er den Weg für eine christliche Existenz heute. Graf Lehndorff wur­de zum Zeugen (griech. Märtyrer) für eine Zeit, in der die Pforten der Hölle und des Todes offenstanden. Er aber konnte sagen: „Wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14), und er wählte dieses Wort zum Motto für das „Ostpreußische Tagebuch“, in dem es um Schrecken und Leiden geht, für die es eigentlich keine Worte gibt.

Der 1910 bei Torgau an der Elbe geborene Graf Lehndorff war nach Jura- und Medizinstudium seit 1936 zunächst Krankenhausarzt in Berlin und später Chirurg am Kreiskran­kenhaus in Insterburg. Hier blieb er, bis die Kriegsereignisse ihn mit sei­nen Mitarbeitern und Kranken nach Königsberg verschlugen, wo er die Eroberung und Zerstörung der Stadt durch die Sowjets miterlebte. Bis zum Abtransport in den Westen im Frühjahr 1947 wirkte er als Arzt unter den verbliebenen Deutschen und erfuhr Not, Elend und Tod vieler Tausender seiner Landsleute. Diese Zeit hat er in seinem „Ostpreußi­sches Tagebuch“ festgehalten. Er schrieb dieses bewegende Dokument bald nach seiner Ankunft im Westen, hielt es aber noch zwölf Jahre zu­rück, um Abstand zu gewinnen. Dann erschien es zunächst mit gerin­ger Auflage als Beiheft zu einer Ver­öffentlichung der Bundeszentrale für Heimatdienst: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa (1960).

Erst ein Jahr später erschien es unter dem Titel „Ostpreußisches Tagebuch“ auch im Buchhandel und wurde einige hunderttausendmal verkauft. Es ist das bekannteste Werk Lehndorffs geworden, eine Chronik der ostpreußischen Passion, ein Buch voller Leiden und Grauen, aber auch voller Schönheit und Glau­benstiefe, und darum auch voller Trost für viele, die diese schreckens­vollen Jahre an Leib und Seele selbst erdulden mussten. Graf Lehn­dorff hat mit diesem Buch der ver­stummten Qual sprachlichen Aus­druck verliehen, dem vergangenen Leiden die Zunge gelöst, das Entset­zen in eine Ordnung gebannt – ohne Gefühle von Zorn und Hass! Für ihn ist die Rückschau ein Blick auf Got­tes Weg mit den Menschen in seiner Geschichte: „Wir sahen seine Herr­lichkeit!“ Was für manchen vielleicht als zynischer Frevel anmutet, wurde für viele zum Trost und damit zum Anfang eines Weges aus einer aus­weglosen Trauer um geliebte Men­schen und den Verlust der Heimat.

In seiner Insterburger Zeit als Arzt war Hans Graf von Lehndorff 1942 zu einem Männerkreis der Be­kennenden Kirche gestoßen, der schon bald in Konflikt geriet mit der von den Deutschen Christen be­herrschten Amtskirche, speziell dem Konsistorium in Königsberg. Man konnte sich behaupten; denn mit dem Kriegsende und der Besetzung durch die Rote Armee verblieben in Ostpreußen weder die nationalsozia­listischen staatlichen Strukturen noch die Amtskirche der Deutschen Christen. Wer konnte, war geflohen. Einzig die Strukturen der Bekennen­den Kirche überlebten im Dienst an den Gemeinden und allen, die zu Tausenden in Not geraten waren.

MITWISSER DES HITLER-ATTENTATS

Lehndorff war sich der Situation und allem, was auf ihn zukommen würde, sehr bewusst. Sein Vetter Heinrich von Lehndorff hatte ihn noch kurz vor dem Attentat des 20. Juli 1944 eingeweiht und ihm das Versprechen abgenötigt, gegebenenfalls eine Auf­gabe zu übernehmen. „Und es fügte sich so, dass ich ihm meine Zusage gab.“ Nach dem misslungenen An­schlag war Heinrich ermordet wor­den, ohne dass auf Hans irgendein Verdacht fiel. „Und während alle, die irgendwie mit den Attentatsplänen in Beziehung ge­bracht werden konnten, dem gnadenlosesten aller Richter überantwortet wurden, fiel auf mich nicht einmal der Verdacht der Mitwisser­schaft – ein Vorzug, der mir damals im höchsten Grade beschämend erschien.

Die fol­genden Monate waren die qualvollsten, die ich in meinem bisherigen Leben durch­gemacht habe. … So setzte ich meine ganze Hoffnung auf das Wort Gottes, dass es in der Lage sein möchte, mich auch durch diese Not hindurchzutragen und mich zu einem Ver­ständnis dessen zu führen, was mir hier zugemutet wurde.“

Sein bewusst gelebter Glaube hat Graf Hans von Lehndorff dann durch alle Anfechtungen und Zweifel der Jahre 1945/46 hindurchgetragen. Das „Ostpreußisches Tagebuch“ ist nicht nur der Bericht eines Arztes, son­dern ein leuchtendes Glaubenszeug­nis aus schwerster Zeit, ein christli­ches Kleinod, das auch heute jedem Leser vermittelt, wie unter unvor­stellbaren Zuständen Trost gelebt  und vermittelt werden kann.

Noch vor der Eroberung Königsbergs tut Lehndorff Dienst in einem Feldlazarett, wo er bis zum Umfallen am Operationstisch steht. „Was gehen einem hier alles für Menschen durch die Hände! Und was für furchtbare Verwundungen! Das Recht auf Ge­sundheit ist vollständig zur Gnade geworden. … Was das chirurgische Handeln im Ganzen betrifft, so bietet sich täglich und stündlich Gelegenheit, zu erschrecken über das Maß an Verantwor­tung, welches einem auferlegt wird, und noch mehr über die Plötzlichkeit, mit der man schwerstwiegende Entscheidungen zu fällen, sich hat gewöhnen müssen. … Es kommt vor, dass ich hinterein­ander zehn Beine amputiere, die ich bis dahin erhalten zu können hoffte. … ohne den Glauben an die Verge­bung wüsste ich nicht, wie ich das alles überhaupt bestehen sollte. Die Leute sterben wie die Fliegen.“

In der Woche nach Ostern wird von der Roten Armee der Endkampf auf Königsberg eingeleitet. Pausenlo­se Fliegerangriffe setzen der Stadt zu. „Mehrere Hundert sind immer gleichzeitig in der Luft, werfen Bom­ben schweren Kalibers und schießen aus allen Rohren in die Straßen hin­unter. … Ich bemerke, dass Doktora singt; dann singen wir beide gemein­sam in das Toben hinein: ‚Lobe den Herren, o meine Seele, ich will ihn loben bis zum Tod. Weil ich noch Stunden auf Erden zähle, will ich lobsingen meinem Gott.‘ Wir leben ein glühendes Leben in diesen Ta­gen. Alle Gedanken kreisen um den einen unvergänglichen Mittelpunkt. Und aus dem Glauben ist schon fast ein Schauen geworden.“

GRENZENLOSES INFERNO

Als dann nach dem 9. April 1945 die Russen in der Stadt sind, übertrifft das Inferno alles Vor­stellbare: Verge­waltigungen aller Frauen und Kran­kenschwestern, sinnlose Zerstörun­gen von Lebensmittelvorräten und des Krankenhausinventars – das absolute Chaos. „Ich schleiche wie im Traum durch unsere Keller und suche zu begreifen, was Gott hier von mir fordert.“ Durch einen Mit­telsmann hat Lehndorff erfahren, dass vor Ablauf von sechs bis acht Tagen mit irgendeiner Ordnung nicht zu rechnen sei. Die Stadt sei den Soldaten zur Plünderung freigegeben worden.

Lehndorff fragt in seiner Not: „Ist es nicht so, dass wir die Verantwor­tung, die wir in der Belagerungszeit tragen durften, schon in Gottes Hand zurückgelegt haben, uns und die uns Anvertrauten Seiner Gnade befeh­lend? Nun wird sie uns in untragba­rer Gestalt wieder vor die Füße ge­worfen.“ Er hatte vermutet, dass ein wildes, rachsüchtiges Volk über alle hereinbrechen und alles vernichten würde, dass man gar nicht zum Nachdenken kommen würde. Nun aber geht der Zermürbungsprozess weiter. „Die endgültige Entscheidung über uns ist ausgeblieben. Ich bin so ausgelöscht, dass ich nicht einmal mehr beten kann.“

DIE FRATZE DES MENSCHEN

Gleichzeitig erwacht in ihm zu sei­nem eigenen Entsetzen eine Art von kalter Neugier. „Was ist das eigent­lich, so frage ich mich, was wir hier erleben? Hat das noch etwas mit natürlicher Wildheit zu tun oder mit Rache?“ Er beobachtet, wie halb­wüchsige Jugendliche sich wie Wölfe auf Frauen stürzen, ohne recht zu wissen, worum es eigentlich geht. „Das hat nichts mit Rußland zu tun, nichts mit einem bestimmten Volk oder einer Rasse – das ist der Mensch ohne Gott, die Fratze des Menschen. Sonst könnte mich dies alles nicht so peinlich berühren – wie eigene Schuld.“

Als Lehndorff am 11. April in den Operationssaal tritt, merkt es sofort, dass mit seiner Kollegin Doktora etwas nicht stimmt. „Diese Augen! Mein Gott! Ein Stachel bohrt sich in den Rest meiner Seele.“ Er schleicht sich fort und setzt sich auf ein Bett. „Nach einer Weile steht sie neben mir in ihrem zerrissenen Trainings­anzug, und ihre Hand sucht mich zu trösten. Hilfst du mir bitte meine Bibel suchen? Sie muss da auf dem Treppenabsatz irgendwo liegen. Man hat sie mir aus der Tasche gerissen.“ Er findet die Bibel und bringt sie ihr. Sie will, dass er weg­geht und sich nach dem Westen durchschlägt. „Du kannst hier doch nichts mehr tun. Ich habe meine Tabletten, und außerdem weiß ich, „dass Gott nichts Unmögliches verlangt.“ In ihren Aufzeichnungen fin­det Lehndorff später die Sätze: „Zum erstenmal in der ganzen Zeit befiel mich Angst. Ich wusste sofort, hier kommst du nicht durch.“

DAS DENNOCH DES GLAUBENS

Lehndorff bleibt zunächst; ihren Rat befolgt er erst später. Am 12. April wird er von mehreren bewaffneten Russen auf der Straße verhaftet und zu einem der Propagandamärsche gezwungen. „In dem Augenblick fällt mir ein schwerer Stein vom Herzen. Ich bin gefangen – frei. Das zweite Leben hat begonnen. Laut pfeifend ziehe ich meines Weges am Schluss des Zuges. Man sieht sich missbilli­gend nach mir um. Nein, ich kann jetzt beim besten Willen nicht traurig sein. Das Leben ist so ungeheuerlich. Es wäre schade, wenn man sich die Freude daran entgehen ließe. Und mein Gebet geht um nichts anderes mehr als um ein Fünkchen Humor und um ein offenes Auge für alles, was noch kommen mag.“

Später sitzt er bis Mitte Juni mit zweitausend Männern im berüchtig­ten Lager Rothenstein im Nordosten von Königsberg. „Nicht selten bricht einer vor Schwäche zusammen. Ein Leben gelebt zu haben, um hier an dieser Stelle zu verrecken, buchstäb­lich in der Scheiße! Unwillkürlich kommt mir dabei ein Lied in den Sinn: ‚Bis hierher hat mich Gott ge­bracht‘ – oder ist das eine Läste­rung? Aber wer hat es denn sonst getan? Nein, wem Er bis hierher beigestanden hat, dem muss Er auch weiterhelfen.“

In den Krankenzimmern der Frau­en atmet Lehndorff irgendwie auf. „Ihr Verhalten ist viel verständnisvol­ler, zweckmäßiger als das der Män­ner. … Sie geben nicht so schnell auf wie die Männer. Als ich mich verab­schiede, gibt die Schwester ein Zei­chen, und die ganze Zelle singt ein frohes Lied. Es ist immer wieder erstaunlich, was der Mensch vermag. Und wo innere Ordnung ist, da findet auch die Hilfe von außen einen An­satzpunkt. Hier ist das wenige, das wir tun können, nicht umsonst.“

LICHT IN DUNKELSTER NACHT

Nach der Plage des Tages, in der Dämmerung, wenn gerade noch die Schrift zu erkennen ist, geht Lehn­dorff zum Operationssaal, wo schon zwei Helfer auf ihn warten. „Wir lesen miteinander das Bibelwort des Tages nach den Losungen, die ich immer noch bei mir habe. Ins Dunkle hinein fallen dann hier und da noch ein paar Worte, die man am Tage verschweigt, Ausdruck des Suchens nach dem Sinn dessen, was wir hier miteinander erleben.“

Zu Pfingsten 1945 gelingt es, einen Gottesdienst im sonnendurchfluteten Operationssaal zu organisieren. Goldregen schmückt den Altartisch, sogar ein Kruzifix hat man gefun­den. Etwa hundert Menschen drän­gen sich in den Raum. Lieder wur­den auf Zettel geschrieben und ver­teilt. „Pfarrer Reiß, der sich nur mit Mühe aufrecht hält, hat die Liturgie übernommen, während Giese die Predigt hält. Für eine Stunde ist alle Erdenlast aufgehoben. Danach, als sich der Raum leert, sehe ich zufällig den Kommandanten draußen aus der Nähe unserer Fenster wegschleichen. Ob er wohl die ganze Zeit dort ge­standen hat? Was für ein armes Volk, diese Sieger!

Am Ende seines Zeugnisses fragt Lehndorff sich selbstkritisch: „Wird Gott in seiner Barmherzigkeit es fügen, dass mir und denen, die das gleiche erfahren haben, die Gnade zuteil wird, durch unser Leben etwas aussagen zu dürfen von dem, was wir gesehen und gehört haben?“

LEBEN AUS DEM GLAUBEN

Lehndorffs Schlüssel für alles, was er erlebte, war sein Glaube. Hass konnte da gar nicht aufkommen. Die sachliche Unmittelbarkeit und Drastik der Schilderung macht betroffen – auch heute noch – und sie beteiligt den Leser an dem Wissen, „dass es keinen Ort gibt, an dem der Christ nicht Anteil hat an der Herrlichkeit, die in allem nur so lange verborgen ist, als die Augen zu stumpf sind, um sie wahrzunehmen!“ So hat es der katholische Publizist Erich Kock (1925-2016) in einer Sendung des Süddeutschen Rundfunks über das „Ostpreußisches Tagebuch“ am 11. Juni (Pfingstmontag) 1962 treffend formuliert.

Gewachsen war dieser alle Schreck­nisse und Grausamkeiten überragen­de Glaube in Insterburg. Graf Lehn­dorff hat diese Zeit in seinem wohl wichtigsten Buch „Die Insterburger Jahre. Mein Weg zur Bekennenden Kirche“ (1969) geschildert. Der schmale Band ist deswegen so wichtig, weil er das Verständnis für die unge­heure Kraft öffnet, mit der Lehndorff später die Prüfungen durchgestanden hat, denen er ausgesetzt wurde. Er lernte in diesen Jahren, „dass der Glaube nicht dazu da ist, das Leben zu verbrämen, sondern dass er es zu Zeiten über­haupt erst möglich macht.“ Mit sei­nen Brüdern und Schwestern in der Bekennenden Kir­che war er der Auffassung, in einer solchen Zeit zu leben. Er nennt sie „Zeit des Unheils“, eine „vom Terror einer totalitären Macht beherrschte Zeit“, eine „furchtbare Zeit“. Aber im Gespräch und Gebet mit seinen Freunden, im Gottesdienst und beim Abendmahl, in der täglichen Lesung der Bibel und der Losungen kommt er zu der Überzeugung: „Es gab für mich keinen Zweifel daran, dass, was auch immer mit mir geschah, Gott seine Hand im Spiel hatte.“

ICH WEISS, DASS MEIN ERLÖSER LEBT

Die theologische Beschäftigung mit dem Attentat auf den Diktator bringt Lehndorff die letzte innere Festigkeit für das Kommende, von dem das „Ostpreußisches Tagebuch“ Zeugnis gibt. Hier erreichte er den Grad christlicher Reife, der ihn die Gebor­genheit in Gottes Trost finden ließ, was immer auch geschah. Darum ist sein „Ostpreußisches Tagebuch“ zum wichtigsten christlichen Dokument für jene Zeit geworden. Ihm zur Seite stehen Gerhard Fittkaus „Mein dreiunddreißigstes Jahr“ (1957), Willy Kramps „Brüder und Knechte“ (1965) und die beiden Bände von Hugo Linck „Königsberg 1945-1948“ (1952) und „Im Feuer geprüft“ (1973), Bücher, die aus dem gleichen Geist christlicher Zeitinterpretation heraus geschrieben wurden.

Graf Lehndorff hat nach dieser entscheidenden Phase seines Lebens nicht aufgehört, Zeugnis für sein Christsein abzulegen. Nach seiner Ankunft im Westen arbeitete er zu­nächst in den neubegründeten Evan­gelischen Akademien mit. Nach 1949 war er wieder als Arzt tätig. Von 1954 bis 1974 leitete er als Chefarzt das Viktoria-Hospital in Bad Godes­berg und stand seit 1970 zusätzlich im Dienst der Telefonseelsorge in Bonn und der Hilfe für Drogenabhän­gige und Drogengefährdete in Köln. Gerade den Menschen in besonders schweren Nöten galt seine Zuwen­dung. 1977 erschien sein Buch „Hu­manität im Krankenhaus“, in dem er seine ärztliche Ethik niederlegte.

Ausdruck der inneren Verbindung seines ärztlichen Wirkens mit dem christlichen Glauben war auch seine Mitgliedschaft im evangelischen Jo­hanniterorden (1852 von Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gestiftet), dessen Kommendator er über drei Jahrzehnte war. In dem Nachruf des Ordens vom 11. September 1987 findet sich folgender Absatz: „Wie Hiob hat Hans Lehndorff alle Höhen und Tie­fen des Lebens durchmessen: den Verlust der Heimat, den Tod von drei Brüdern und der Mutter an der Front und auf der Flucht sowie die Ermordung des Vetters durch die Machthaber des Dritten Reiches. Er hat Freunde, Kollegen und ihm An­vertraute unter schrecklichen Um­ständen sterben sehen. Als einziger Lehndorff seiner Generation überleb­te er die Katastrophe seines Vater­landes. Aber mit Hiob konnte er auch sagen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und er wird mich her­nach aus der Erde aufwecken “ – wie Luther übersetzte. Und er hat dann den Neubeginn durch Gottes Gnade erlebt: die Familiengründung, Frau und Söhne, die ihn bis zuletzt mit unendlicher Liebe durch die schwers­ten Zeiten begleitet und getragen, ja sich in diesem Dienst verzehrt haben.“

Bevor diese schwere Krankheit ihn befiel, hat Graf Lehndorff seinen Lebensabend noch genutzt, um den genannten Büchern noch zwei weite­re hinzuzufügen. 1980 erschienen seine Jugenderinnerungen unter dem Titel „Menschen, Pferde, weites Land“, und 1983 folgte schließlich noch ein kleiner Band mit Betrach­tungen unter dem schönen Titel „Le­bensdank“. So runden sich Leben und Werk dieser Persönlichkeit, de­ren gelebter Glaube zum Vermächt­nis geworden ist. Mehrere hundert Menschen folgten in Bad Godesberg seinem Sarge, getröstet durch einen Gottesdienst, der geprägt war von seiner Glaubenskraft: „Warum sollt ich mich denn grämen?“ sang die Gemeinde und: „Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht dankbar sein?“ Und die Predigt erschloss die weite Dimension dieses exemplarischen Lebens, das in der Taufe unter das Wort gestellt worden war: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz und laß deinen Augen meine Wege wohlgefallen“ (Sprüche 23, 26).

Hans Graf von Lehndorff ist die­sem Wort treu geblieben. Dem Be­trachter dieses Lebens bleibt nur die Haltung ehrfurchtsvoller Scheu und tiefer Dankbarkeit. Das gilt vor al­lem auch für die Vertriebenen und Flüchtlinge aus seinem geliebten Ostpreußen, denen er zeitlebens einen festen Weg gewiesen hat, mit dem Verlust der Heimat fertigzuwer­den und aus dem Geist der Liebe und Versöhnung zu leben.

Quelle: Confessio Augustana, Nr. 2, 2017, S. 97-106.

Hier der Text als pdf.

Hier Hans Graf von Lehndorffs Ostpreußisches Tagebuch als Buch.

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