Hans Steinacker über Joseph Wittig (1879-1949): „Der »Roman mit Gott«, erschienen 1950, ist das radikalste, persönlichste Buch Wittigs, geht es in diesen »Tagebuchblättern der Anfechtung« doch um die »Ge­schichte und den Ausgang meiner unglücklichen Liebe zu dem, was man Gott nennt«. So spricht Joseph Wittig als ein zeitge­nössischer Hiob: Von seiner Kirche verstoßen und der berufli­chen Existenz beraubt – trotz seiner vagen Wiederaufnahme –, hungernd und frierend, an Leib und Seele tödlich bedroht, harr­te er bis zum letzten Augenblick in der geliebten Heimat aus, um dann mit Frau und Kindern hinausgetrieben zu werden.“

Die angefochtene Gottesliebe des ökumenischen Grenzgängers Joseph Wittig (1879-1949)

Von Hans Steinacker

»Froh wollte ich alle Leser machen in dem Gedanken,
daß sie zum Volke Gottes gehören.« (Joseph Wittig)

Eine Einführung in Leben und Werk

Haben die Texte unseres Lesebuchs Sie neugierig gemacht auf Joseph Wittig? Das »beschädigte Leben« dieses Gottsuchers, Querdenkers, Wissenschaftlers, Pädagogen ist bis in unsere Tage von bewegender Dramatik. Vielleicht ist Joseph Wittig – in der Reihe von Caspar von Schwenckfeld, Jakob Böhme, Angelus Silesius und Jochen Klepper – der letzte der großen »schlesischen Gottesfreunde«.

Am 22. Januar 1879 in der kinderreichen Familie eines ka­tholischen Zimmermanns – seit dem Dreißigjährigen Krieg ging der Beruf vom Vater auf den Sohn über – im Dorf Schlegel in der Grafschaft Glatz, »dem Lande der Wunder, dem Lande Got­tes«, geboren, ermöglicht der Dorfpfarrer dem aufgeweckten Jungen, früh aus dem beschaulichen Waldwinkel seiner Heimat einen Weg zu nehmen, der nicht nur geographisch in die Weite führen sollte. Gymnasium in Breslau und Beginn einer außerge­wöhnlichen Karriere: Promotion summa cum laude zum Dr. theol.; 1903 Priesterweihe und anschließend zweijähriges Sti­pendium am Campo Santo in Rom; auf Drängen seines tod­kranken Hochschullehrers und väterlichen Freundes Max Sdralek 1909 Habilitation an der Universität Breslau als Professor für Alte Kirchengeschichte und als Nachfolger Sdraleks. Der weitere Lebensweg scheint vorgezeichnet zu sein.

Fast zur gleichen Zeit wird der »beamtete« Theologe als Schriftsteller von Erzählungen und Büchern bekannt. Sie kün­den von einem bodenständigen Jesus, der in der alltäglichen Le­benswirklichkeit einfacher Menschen erfahrbar und konkret wird: »In der Regel sehen die Heiligen, und sogar unser lieber Jesus in der heutigen kirchlichen Kunst so aus, als ob sie frisch vom Theaterfriseur kämen. Ach und die Augen! Immer so fromm wie bei ganz frommen Klosterschwestern. Und die Hän­de! Immer so fein und zart wie richtige Künstlerhände oder wie man sie beim Klavierspielen oder bei Häkelarbeiten bekommt. Ich sage aufrichtig: Das tut mir leid. Das ärgert mich. Das Hei­lige und Göttliche ist nun einmal nicht so.«

Das allein ist für Wittig eine helfende himmlische Botschaft von Erlösung, die auch in die Spinnstuben und Schlafstätten der kleinen Leute, der in Armut lebenden Tagelöhner dringt. Immer wieder neu erzählt er in seinem »Herrgottswissen an Wegrain und Straße« (1922) von Webern, Zimmerleuten, Dorfjungen und von der »Kirche im Waldwinkel« (1924).

Wittigs geistliche Botschaft wird letztlich in dem großen Ro­man »Leben Jesu in Palästina, Schlesien und anderswo« (1925) entfaltet. Es ist ein Anstoß erregender Jesus, der dem goldge­schnittenen Meßbuch entronnen zu sein scheint und der sich auf­gemacht hat, um auch auf den staubigen Landstraßen Schlesiens Menschen wie du und ich zu begegnen, Menschen, die offen sind für den Jubelruf der frohen Botschaft, die uns nicht erst am fernen Sankt-Nimmerleinstag als Belohnung zugedacht und alles andere als eine amtlich verwaltete Drohbotschaft ist – Glaube mit Boden­haftung für jedermann: »Gott, Jesus Christus, der Heilige Geist wohnen bei mir in meiner irdischen Heimat, bis ich wohnen darf bei ihnen in der himmlischen Heimat.«

Der christliche Glaubensinhalt von der Erlösung durch den Fleisch gewordenen Gott ist Wittig so unstrittig, daß er ihn er­zählend aus dem dichten Dornengestrüpp theologischer Begrifflichkeiten befreien und zum Leben erwecken will. Der »gar­stige Graben« zwischen blutarmer Lehre und prallem Leben in der Theologie ist ihm zu tief, um durch dogmatische Abstrak­tionen überbrückt zu werden. Er drückt das in einem Bild aus: »Und nun bittet mich meine Schreibmaschine, ich möchte sie ein einziges Mal meine Schwester nennen. Ich habe sie schon oft meine Orgel genannt, auf deren Tasten ich Loblieder auf Gott spielen durfte.«

Wie ein Befreiungsschlag für bekümmerte Seelen, aber auch als Keulenhieb für die Dogmenwächter wirkt dann sein 1922 in der Zeitschrift »Hochland« in der Osternummer veröffentlichter Aufsatz »Die Erlösten«, der die gesamte christliche Welt plötz­lich aufhorchen läßt. »Hochland« war die führende Zeitschrift der katholischen Intellektuellen, begründet 1913 von Prof. Dr. Carl Muth (1867-1944). Seit 1921 zählte auch Wittig zu den von Muth geschätzten Autoren des Blatts.

»Es sollte kein dogmatischer Aufsatz sein«, bekräftigt Wittig rückblickend. In der Tat liest sich sein Beitrag, als würde er die so­genannte »narrative Theologie« unserer Zeit vorwegnehmen. Wit­tig umreißt sein Thema folgendermaßen: »(…) wie ich die Tätig­keit des erlösenden und heilenden Christus in meinem Leben be­obachtet habe (…), wie sie hier da ist, dort fehlt, wie sie gehemmt wird, wie sie freien Lauf hat.« Er wählt die Form der Erzählung, wenn er sein Leben als Student, Kaplan und Hochschullehrer bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Erinnerung bringt.

Gerade weil Wittig von der göttlichen Erlösung bis in die letzte Faser seines Lebens durchdrungen ist, beklagt er die Vorschriften und Zwischeninstanzen, die den Zugang des Glaubenden zu Gott erschweren: »Der Katholik treibt sich sein ganzes Leben lang (…) in den Grenzgebieten des Reiches Gottes herum und fühlt sich stets von Strafen für Grenzüberschreitungen bedroht. (…) Er muß fortwährend an der Grenze Grenzverletzungsprozesse mit seiner Seele, mit seinem Beichtvater, mit seinem Herrgott durchfechten. (…) Manche von euch haben sich in der Türe geirrt und sind statt in die Schatzkammer in die Folterkammer geraten. Die Folterkam­mer, das war eine Beichtmoral, die alle Wechselfälle des Bösen bis ins einzelne kategorisiert hatte und die mehr Furcht und Skrupulo­sität verbreitete als Befreiung. Die Welt braucht keine andere Erlö­sung als richtige Liebe. Es muß ihr einer sagen können: ›Deine Sünden sind dir vergeben!‹ und: ›In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.‹ Mehr braucht die Welt nicht… O ihr Dogmatiker, zeigt mir das erlöste Volk! (…) Könnt ihr eure Erlösungslehre nicht so verkünden, daß das katholische Volk wirklich sich von der Sünde erlöst fühlt (…), daß es aufjubeln kann in der Erlösung?«

Der Eklat war da, der »Fall Wittig« geboren. Von herzlicher Zustimmung bis zu scharfer Ablehnung reichen die Reaktionen. Es ist ein Streit, der gar nicht so recht zu der zeitgleichen Fest­stellung Romano Guardinis vom »Erwachen der Kirche in den Seelen« paßt.

Als erstes erhält Wittig vom Breslauer Kardinal Bertram, der sich bisher lobend zu seinen Veröffentlichungen geäußert hatte, einen durchaus freundschaftlichen Brief mit dem Rat zu »größe­rer Vorsicht«, da er in seinem Aufsatz nicht die Wirklichkeit des Beichtverständnisses, sondern eine »Karikatur« davon gezeich­net habe. Doch bei dieser Mahnung bleibt es nicht. Zwei Mona­te später legt ihm Domprobst Nikel im Namen von Kardinal Bertram aus Mißtrauen gegen Wittigs Osterglauben nahe, »das Amt als Universitätsprediger freiwillig niederzulegen«. Für Wit­tig ist das der »Sprung im Kristallbecher« (so formuliert er es sieben Jahre später in seinem bewegenden Buch »Höregott«, dem »Buch vom Geist und vom Glauben«).

In einer Antwort an Kardinal Bertram berichtet Wittig von den vielen Menschen, die nach der Lektüre seiner Erzählung wieder Mut zum Empfang des Beichtsakraments erfahren ha­ben, und betont gleichfalls, daß er »auf festem religiösen Boden stehe. Denn was ich gesagt habe, ist die uralte Wahrheit der Vä­ter, und ich halte jenen Osteraufsatz für eine der lebendigsten Früchte meines Väterstudiums.« Selbstgewiß schreibt er am 31. Mai 1926 an Bertram: »Ich widerrufe selbstverständlich alle ›Errors‹, die das Heilige Officium als in meinen Büchern be­findlich nachweisen und mir genau bezeichnen wird. (…) Ich habe aber den Glauben, daß weder Feuer noch Wasser noch Ca­non 2314 (dort sind die Vergehen gegen den Glauben und die Einheit der Kirche beschrieben – H.S.) mich trennen kann von der Liebe Christi.«

Dennoch endet die Auseinandersetzung um »Die Erlösten« mit dem Verlust des Lehrstuhls und – weit folgenschwerer – der Exkommunikation am 12. Juni 1926 sowie der Indizierung von Wittigs literarischem Werk. Wittig ist aus der Kirche ausge­schlossen; seine Werke haben im Hause derer, für die er schreibt, deren religiöse Nöte ihm am Herzen liegen, nach offizieller ka­tholischer Auffassung nichts mehr zu suchen.

Wie sollte es weiter gehen? Wittig wird wohl oder übel freier Schriftsteller, um im Dienste seines Herrgotts dessen Fußspuren in der Geschichte seiner Heimat nachzugehen – ohne Heimattümelei und ohne sich auf das Niveau eines Erbauungsliteraten herabzubegeben. Haus und Heimat sind für Wittig die uns von Gott geschenkte zeitliche Behausung. Originell und brillant, mit fabulierendem Frohsinn, menschlichem Gespür und (zuweilen polemischem) Scharfsinn bewegt und beleuchtet er in franziska­nischem Ernst die Dinge um Gott und den Menschen: Unzähli­ge Aufsätze, Büchlein auf Büchlein mit begehrten Erzählungen, literarische Edelsteine, aber auch die Chronik der Stadt Neurode entstehen. Darüber hinaus wird Wittig immer öfter zu Lesun­gen und Vorträgen eingeladen, in katholischen und in evangeli­schen Kreisen.

Wittigs Werke werden nicht nur in kirchlichen Kreisen gele­sen. Die Faszination, die seine Erzählungen auf die damalige Le­sergeneration ausgeübt haben, wird vom Literaturkritiker Walter Benjamin (1892-1940) auf den Punkt gebracht, wenn er über Wittigs Aufsatz »Aus meiner letzten Schulklasse« schreibt: »Sehr merkwürdig, ich möchte sagen beunruhigend in der Wahrheit ihrer Fragestellungen und der Fragen, die sie erregen, ist die Ar­beit von Wittig. Ich glaube, es ist sehr lange her, daß man diese einfachen, aber unendlich schwer greifbaren Erfahrungen neu, evident hat aussprechen können.« Es ist dieser Zusammenhang von Sprache und Erfahrung, den Eugen Rosenstock-Huessy 1916 einmal als »neue Sprechweise« bezeichnet hat.

Auch private Veränderungen bringt diese Zeit mit sich: Wäh­rend die Amtskirche ihn verstößt, gewinnt Joseph Wittig die Zuneigung der Habelschwerdter Bürgermeistertochter Bianca Geisler, der Leiterin einer katholischen Mädchengruppe. Die erst 1998 im Alter von 99 Jahren verstorbene Witwe erinnert sich an diese Zeit: »Und er hat dann in Neusorge, auf einer Ecke des väterlichen Ackers, sich ein Haus gebaut. Und als das Haus fertig war, sind wir in das Haus eingezogen und haben geheira­tet, 1927. Und 1928 kam unser ältestes Kind zur Welt. Das mußte aber nach vier Tagen sterben …«

Auf den Hinteräckern des alten Freiguts Neusorge baut der praktisch begabte Zimmermannssohn nach eigenen Plänen sein »Haus am Erlengrund«, das er selbst mit kunstvollem Holzschnitz­werk und prächtiger Ausmalung gestaltet: »Der Mensch besteht nicht nur aus Leib und Seele, sondern aus Seele und Leib und Klei­dung und Haus. Das Kleid gehört zu ihm wie das Gefieder zum Vogel, und das Haus gehört zu ihm noch viel mehr als zur Schnecke, besonders zum Grafschafter Menschen (…) das alte Grafschafter Haus mit seinen hellweißen Wänden und seinen grauen Stroh- und Schindeldächern.« Und Wittig begreift, »daß die Summe der Kenntnis eines Handwerkers, zusammengezogen aus Jahrhunderte alten Erfahrungen und eigenen Erlebnissen, nicht viel geringer ist als die eines Universitätsprofessors.«

Wittigs »Grafschafter Haus«, das von seinen Erben und Freun­den zu seinem Gedächtnis restauriert wurde und bis heute erhalten wird, wurde bald zu einem Refugium, das wie ein Wallfahrtsort im­mer wieder Besucher beider Konfessionen anzog. »Alles in meinem Haus war voll Wahrheit und Liebe.« Für ihn, dem seit seiner Ex­kommunikation keine Kanzel, kein Katheder und kein Beichtstuhl zur Verfügung steht, wird das Briefe Schreiben zu einem wichtigen Mittel freundschaftlicher Seelsorge. Die Korrespondenz mit seiner zahlreichen Lesergemeinde und dem weit verzweigten Freundes­kreis wird auf fast 20 000 Briefe geschätzt.

Sie sind ein Zeugnis für die große Resonanz, auf die Wittigs Veröffentlichungen in Zeitschriften und Büchern auch nach dem Verlust der kirchlichen Druckerlaubnis stoßen, und für die Be­deutung, die Wittig dem Schreiben, gerade dem persönlichen Brief, zumaß: »Das Schreiben hat seine besondere Magie. Es macht das Geistige, das oft im Bereich des Unwirklichen bleibt, wirklicher.«

Die Exkommunikation führt Wittig auch zu einer Neuorientie­rung seines theologischen Schaffens. Der Kenner der Kirchengeschichte, ausgewiesen durch kompetente wissenschaftliche Wer­ke wie die Neubearbeitung von Gerhard Rauschens »Grundriß der Patrologie« (1921) oder »Das Papsttum« (1913), rückt ab von denen, die, wie er sagt, »lieber alte Vasenscherben zusam­menkleben als neue modellieren«. Er findet zu einem Kreis von Freunden, die sich um die Zeitschrift Die Kreatur sammeln, ei­nem Sprachrohr derer, die die Grenzen der Konfessionen über­schreitend den Dialog der Glaubenden angesichts einer sprach­los werdenden Zeit wagen wollen.

Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) stellt den Kontakt zu diesem Kreis her, zu dessen herausragenden Köpfen der jüdi­sche Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) gehören und, von protestantischer Seite, Professor Victor von Weizsäcker (1886-1957), Begründer der allgemeinen anthropologischen Medizin. Zusammen mit Wittig, dem Katholiken, bilden Buber und von Weizsäcker das Herausgeber-Dreigestirn der Zeitschrift Die Kreatur, die von 1926 bis 1930 erschien.

Das Programm der Zeitschrift wird von Martin Buber so umrissen: Durch das »Gespräch« oder die »Unterredung« sollen die konfessionellen Unterschiede, die sich im Verlauf der Ge­schichte verkrustet haben, relativiert werden, weil die gegenwär­tige »Sorge um die Kreatur« eher die Gemeinsamkeit der Men­schen über alle konfessionellen Grenzen hinweg als ihre Ver­schiedenheit betone.

Rosenstock-Huessy hat in einem »Rückblick auf ›Die Kreatur‹« beschrieben, was die drei Herausgeber vereinte: »Alle drei hatten im persönlichen Leben eine Geschehensweise entdeckt, an der sie bisher vorbei gegangen waren, die sie jetzt aber mit der Begriffsschärfe existentialen Denkens erfassen konnten, die das Gegenüber der Mitmenschen, des ›Bruders‹ gewährt. Wir bezeichnen sie durch die Kategorie des ›Offenen‹. (…) Die Kreatur Mensch konnte wieder wunderfähig werden.«

Es ist aber nicht nur das ökumenische Ziel, das die drei ver­bindet, sondern auch eine tiefe persönliche Verbundenheit, wie sie etwa in einem Brief von Weizsäckers an Buber zum Ausdruck kommt: »(…) möchte ich Ihnen aber noch mein Entzücken über die Persönlichkeit Wittigs bekennen. Wittig ist ein kritik- entwaffnender Mensch und er beschäftigt mich fortwährend. Er ist nur zu weit fort und dann ist mir bang bei dem Gedanken, er möchte auf einem Dorf immerfort sitzen. Er muß vom Bauer bis zum Papst wirken.«

Die schönste sichtbare Frucht dieser Freundschaft ist Rosenstock-Huessys und Wittigs gemeinsames Buch »Das Alter der Kirche« (1927), eine umfangreiche, einzigartige Darstellung der Kirchengeschichte von den ersten Anfängen unter besonderer Betonung der entscheidenden Brüche, Sprünge, Knoten, die neue Epochen einleiteten und bewegende Kräfte freisetzten. Der dritte Band, der sogenannte »Aktenband«, dokumentiert die un­menschlichen Einzelheiten des »Exkommunikationsprozesses Wittig« – eine bis heute spannend zu lesende und Schauder erweckende Darstellung der Abläufe, Entscheidungen und Be­gründungen in der Sache Wittig.

In ihrem Vorwort bekennen Wittig, der Vertreter gegen die »innerkirchliche Verhärtung«, und Rosenstock-Huessy, der Ver­treter gegen die »innerweltliche Verhärtung«, ihren gemeinsa­men Ausgangpunkt: »Wir haben beide an dem Tisch der Kirche gesessen, von der wir in diesem Buche reden. Der eine kam von außen, der andere von innen; jener wurde in das Innen geladen, dieser nach außen gestellt, so daß wir sie beide von innen und außen sehen konnten. An der Tür trafen wir uns und wußten so­gleich, daß wir Freunde seien; und das, was der eine von innen, der andere von außen gesehen hatte, klang zusammen in unserer Unterredung, so verschieden auch unsere Sprache war; es wurde eine Sprache.«

Rosenstock-Huessy und Wittig gingen auch ein Stück des wei­teren Lebenswegs gemeinsam. Rosenstock-Huessys Engagement in der Volks- und Erwachsenenbildung erreichte 1927-1931 seinen Höhepunkt. Im Auftrag der Deutschen Schule für Volksforschung ging es um eine praktische Zusammenarbeit zwischen Vertretern unterschiedlicher Gruppen, vom Unternehmer bis zum Gewerk­schaftssekretär, vom Arbeiter bis zum Landadeligen. Im schlesi­schen Notstandsgebiet von Waldenburg wurde dank des Auftretens des zwanzigjährigen Helmuth James Graf von Moltke (dem späte­ren Blutzeugen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus) die »Löwenburger Arbeitsgemeinschaft« gegründet.

Die Nationalsozialisten begegnen Wittig mit unverhohlenem (und berechtigten) Argwohn. Bereits 1933 findet eine Haus­durchsuchung nach verbotener Literatur statt. Aber von weltli­cher Herrschaft läßt sich Wittig genauso wenig einschüchtern wie von der geistlichen. Er setzt seine schriftstellerische und seelsorgerliche Arbeit und seine Vortragsreisen unbeirrt fort, auch wenn manches in der Schublade bleiben muß, was zur Veröf­fentlichung bestimmt war.

»Mitten im Walde, 35 Kilometer abseits von Welt, Kirche und Schule, ohne katholischen Geistlichen, ohne heilige Messe, ohne Sakrament« – so beschreibt Wittig das Forstamt Göhr­de in der Lüneburger Heide, das ihm mit seiner Frau und den drei Kin­dern 1946 nach der Vertreibung und achttägiger Fahrt im Vieh­wagen eine bescheidene Unterkunft geboten hatte. Schwere Krankheit, Operationen, seelische und körperliche Not und gro­ße Einsamkeit haben Wittigs Lebenskraft gebrochen. Er stirbt am 22. August 1949.

Er kann 1946 noch erleben, daß seine Exkommunikation ohne irgendwelche Bedingungen durch den Vatikan aufgehoben wird. Damit wird klargestellt, daß Wittig in seinem Handeln und seinen Schriften nicht von der Lehre der Kirche abgewichen ist. Auch wenn Wittig die Erlaubnis zur Teilnahme an der Kommunion er­hielt, ist Wittig nie öffentlich rehabilitiert worden. Auch die Indi­zierung seiner Bücher wurde nie aufgehoben – im Gegenteil: Der Münchner Kardinal Ratzinger hat noch 1978 in völliger Verkennung von Wittigs »Erlösten« zu Papier gebracht: »Das Empfinden steigt auf, daß wir eigentlich nicht durch das Christentum, sondern vom Christentum erlöst werden müßten …«

In einem Brief vom 9. Oktober 1946 an Rosenstock-Huessy schreibt Wittig: »Du aber willst noch wissen, wie es zu meiner Rekonziliation gekommen ist. (…) Leider wissen wir selbst nur weniges und nur Gerüchtehaftes von den letzten Vorgängen (…), wissen nur sicher, daß ich »frei von Exkommunikation« er­klärt wurde. Manche sagen, Kardinal Hlond von Posen habe die Sache in Rom geschmissen; andere: der polnische »Bischofsverweser‹, ein eleganter Weltmann, der den deutschen Klerus schneidet, habe es zum Tort des Kardinals Bertram und des deutschen Klerus gemacht, worüber der Grafschafter Klerus leb­haft erregt ist (»daß es ein Pole machen mußte«).«

Wittigs Vermächtnis ist ein zunächst zurückgehaltenes Ma­nuskript, zwischen 1944 und 1946 entstanden, im Krankenhaus begonnen, dann in seinem immer wieder von Überfällen und Plünderungen heimgesuchten Haus im schlesischen Neusorge abgeschlossen. Er hat es bei der Ausweisung noch über die Grenze bringen können, und nur die letzten Seiten sind später »in Ruhe« hinzugefügt worden. Es handelt sich um den »Roman mit Gott«, erschienen 1950.

Es ist das radikalste, persönlichste Buch Wittigs, geht es in diesen »Tagebuchblättern der Anfechtung« doch um die »Ge­schichte und den Ausgang meiner unglücklichen Liebe zu dem, was man Gott nennt«. So spricht Joseph Wittig als ein zeitge­nössischer Hiob: Von seiner Kirche verstoßen und der berufli­chen Existenz beraubt – trotz seiner vagen Wiederaufnahme –, hungernd und frierend, an Leib und Seele tödlich bedroht, harr­te er bis zum letzten Augenblick in der geliebten Heimat aus, um dann mit Frau und Kindern hinausgetrieben zu werden.

Dieses Buch ist mehr als eine Autobiographie, es ist ein Ver­mächtnis, ein bewegendes Zeugnis persönlichen Glaubens und Angefochtenseins und zugleich ein Dokument der Zeit- und Kir­chengeschichte. Wer könnte dem seelisch Geschundenen Töne der Verzagtheit verargen angesichts einer Lebensmelodie, die grund­sätzlich auf dankbare Gottesgewißheit ausgerichtet war?

Quelle: Das geleimte Jesuskind. Ein Joseph-Wittig-Lesebuch, hrsg. v. Hans Steinacker, Metzingen: Sternberg-Verlag, 2000, S. 134-143.

Hier der Text als pdf.

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