Joseph Addison (1672-1719) über die Träume: „Was ich hier bemerken möchte, ist die wunderbare Kraft in der Seele, bei diesen Gelegenheiten ihre eigene Gesellschaft herzustellen. Sie unterhält sich mit zahllosen Wesen ihrer eige­nen Schöpfung und lässt sich in zehntausende von Szenen ihrer eigenen Regie transportieren. Sie ist selbst Bühne, Schauspieler, Zuschauer.“

Über die Träume

Von Joseph Addison

… Cum prostrata sopore
Urget membra quies, et mens sine pondere ludit.
Petronius

Obwohl viele Autoren über Träume geschrieben haben, haben sie diese im allgemeinen nur als Offenbarungen von Ereignis­sen, die in fernen Teilen der Welt geschehen sind, oder von Begebenheiten, die sich in künftigen Zeitläuften ereignen wer­den, angesehen.

Ich werde diesen Gegenstand in einem anderen Licht be­trachten, da Träume uns eine Idee von der Erhabenheit einer menschlichen Seele zu geben vermögen, sowie einige Andeu­tungen über ihre Unabhängigkeit von der Materie.

Zunächst einmal sind unsere Träume große Beispiele jener Tätigkeit, die der menschlichen Seele natürlich ist, und welche der Schlaf weder abzutöten noch zu mindern vermag. Wenn der Mensch nach des Tages Mühen müde und erschöpft wirkt, so ist dieser aktive Teil in seinem Gefüge noch beschäftigt und unverbraucht. Wenn die Sinnesorgane ihre gebührende Ruhe und notwendige Erholung wünschen und der Körper nicht mehr imstande ist, mit der geistigen Substanz, mit der er vereint ist, Schritt zu halten, übt sich die Seele in ihren verschiedenen Fähigkeiten und bleibt aktiv, bis ihr Partner wieder in der Lage ist, ihr Gesellschaft zu leisten. In diesem Fall sehen Träume wie Erholungsspiele und Zerstreuungen der Seele aus, wenn sie von ihrer Maschine, ihren Übungen und Unterhaltungen befreit ist, wenn sie ihre Last zur Ruhe gelegt hat.

Zum zweiten sind Träume ein Beispiel von jener Agilität und Vollkommenheit, die den Fähigkeiten des Geistes natürlich ist, wenn sie vom Körper gelöst sind. Die Seele ist in ihren Wirk­samkeiten gehemmt und gehindert, wenn sie in Verbindung mit einem Gefährten handelt, der so schwer und unbeholfen in seinen Bewegungen ist. Aber in Träumen ist wunderbar zu beobachten, mit welcher Lebhaftigkeit und Munterkeit sie sich übt. Der zögernde Redner hält unvorbereitete Ansprachen oder unterhält sich fließend in Sprachen, mit denen er kaum vertraut ist. Der Ernste ergeht sich in Scherzhaftigkeiten, der Langweilige in Entgegnungen und witzigen Pointen. Es gibt keine mühsamere Handlung des Geistes als die Erfindung; in Träumen hingegen arbeitet er mit der Leichtigkeit und dem Tatendrang, die wir nicht bemerken, wenn diese Fähigkeit gebraucht wird. Ich glaube zum Beispiel, jedermann träumt hin und wieder, daß er Dokumente, Bücher oder Briefe liest, in welchem Fall die Erfindungsgabe so bereitwillig zur Stelle ist, daß der Geist, überwältigt, seine eigenen Eingebungen für die Kompositionen eines anderen hält.

Ich werde in dieser Hinsicht eine Stelle aus der Religio medici[1] zitieren, in welcher der erfinderische Verfasser einen Bericht über seine eigenen Gedanken im Träumen und Wachen liefert. »Wir sind im Schlaf gewissermaßen mehr als wir selbst, und der Schlummer des Körpers scheint nur der Wachzustand der Seele zu sein. Es ist das Gebundensein der Sinne, aber die Freiheit der Vernunft; und unsere wachen Vorstellungen entsprechen nicht den Phantasien unseres Schlafs … Und doch vermag ich in einem einzigen Traum eine ganze Komödie zu komponieren, die Handlung vor mir zu sehen, die Späße zu verstehen und mich über deren Einfälle wach zu lachen. Wäre mein Gedächt­nis so zuverlässig wie mein Verstand dann fruchtbar ist, würde ich immer nur in meinen Träumen studieren; und diese Zeit würde ich auch für meine Andachtsübungen wählen: aber unsere gröberen Erinnerungen haben so geringe Macht über unsere abstrakten Einsichten, daß sie die Geschichte vergessen und unseren erwachten Seelen nur einen wirren, bruchstück­haften Bericht von dem Geschehen liefern können. – So ist beobachtet worden, daß Menschen bisweilen in ihrer Todes­stunde über sich selbst hinaus sprechen und räsonieren; denn dann beginnt die Seele, im Begriff, von den Bindungen des Körpers befreit zu werden, selbst zu räsonieren und in einem Gedankenfluß jenseits der Sterblichkeit zu reden.«

Wir können außerdem, drittens beobachten, daß die Leiden­schaften den Geist mit größerer Stärke befallen, wenn wir schlafen, als wenn wir wachen. Freude und Kummer verleihen uns jetzt stärkere Empfindungen von Schmerz und Freude als zu jeder anderen Zeit. Auch die Frömmigkeit, wie der oben erwähnte vortreffliche Verfasser angedeutet hat, ist auf beson­dere Weise gesteigert und entflammt, wenn sie sich in der Seele zu einer Zeit erhebt, da der Körper sich zur Ruhe gelegt hat. Jeden wird seine Erfahrung darin unterrichten können, wenn dies auch wahrscheinlich in verschiedenen Konstitutionen auf verschiedene Weise geschehen mag.

Was ich hier bemerken möchte, ist die wunderbare Kraft in der Seele, bei diesen Gelegenheiten ihre eigene Gesellschaft herzustellen. Sie unterhält sich mit zahllosen Wesen ihrer eige­nen Schöpfung und läßt sich in zehntausende von Szenen ihrer eigenen Regie transportieren. Sie ist selbst Bühne, Schauspieler, Zuschauer. Das erinnert mich an einen Ausspruch, der mir unendlich gut gefällt und den Plutarch Heraklit zuschreibt: »Daß alle Menschen, solange sie wachen, in einer gemeinsamen Welt leben; daß aber jeder von ihnen, wenn er schläft, in einer ihm eigenen Welt lebt …«

Ich darf das aus Tertullians Werk zitierte Argument für die Vortrefflichkeit der Seele, nämlich ihr Vermögen, in Träumen zu weissagen, nicht auslassen. Daß mehrere derartige Weissa­gun­gen gemacht worden sind, kann niemand in Frage stellen, der den heiligen Schriften glaubt oder der den geringsten Grad eines gemeinsamen historischen Glaubens besitzt, da es zahllose Beispiele dieser Natur in mehreren alten und neuen, heiligen und weltlichen Verfassern gibt. Ob solch dunkle Voraussagen, solche Nachtgesichte, von einer verborgenen Kraft der Seele während diesem ihrem Zustand der Abgezogenheit herrührt oder von einer Kommunikation mit dem Höchsten Wesen, oder von einem Wirken untergeordneter Geister, hat unter den Ge­lehrten einen großen Streit ausgelöst; die Tatsache ist meiner Meinung nach unbestreitbar, sie ist auch von den größten Schriftstellern, die des Aberglaubens oder der leichtfertigen Begeisterung nie verdächtigt worden sind, so gesehen worden.

Ich vermute nicht, daß die Seele in diesen Augenblicken vom Körper völlig losgelöst und unbehindert ist: es genügt, wenn sie in der Materie nicht so tief versunken und eingetaucht, wenn sie in ihrem Wirken nicht mit solchen Bewegungen aus Blut und Geisteskräften verflochten und verwickelt ist als wenn sie die Maschine in ihren wachen Stunden betätigt. Die körperliche Vereinigung ist genügend gelockert, um dem Geist mehr Spiel­raum zu geben. Die Seele scheint in sich selbst versammelt zu sein und gewinnt die Feder wieder, die gesprungen und ge­schwächt ist, wenn sie mehr in Übereinstimmung mit dem Körper operiert.

Quelle: Joseph Addison, The Spectator, No. 487, London, den 18. September 1712.


[1] Religio medici: Die Religion eines Arztes (1643) von Thomas Browne (1605-1682); ein Jahr zuvor war ein mit Irrtümern gespickter Raubdruck erschienen. Es handelt sich um eine Reihe persönlicher Anmerkungen von großer geistiger und religiöser Einsicht, und einer Vielfalt von Themen, geschrieben im Jahre 1635. Vor der Drucklegung zirkulierte sie in Abschriften. Sie war ein Erfolg auf Englisch, Lateinisch, Französisch, Flämisch und Deutsch und erfreute sich der Wertschätzung des Doktor Johnson, und nach ihm von Lamb, Coleridge, Carlyle, Browning und anderen.

Hier der Text als pdf.

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