Über die Aufklärung im Licht des Evangeliums
Von Eberhard Jüngel
Schneidend wird die Differenz zwischen der im Lichte der Vernunft sich vollziehenden Aufklärung und der im Lichte des Evangeliums sich vollziehenden Daseinserhellung angesichts der christlichen Behauptung, dass der jenseitige Schöpfer sich mit einem im Stall geborenen und am Galgen exekutierten Menschen identifiziert hat. Das stört des aufgeklärten Himmels heiteres Blau. Seit Xenophanes vollzieht sich Kritik in Sachen Religion vor allem als Kritik an den anthropomorphen Gottesvorstellungen und der ihnen korrespondierenden menschlichen und allzu menschlichen Rede, mit der man das Göttliche ansagen und aussagen zu können meinte. Dem christlichen Glauben ist jedoch „Christi Geburt“, wie Kierkegaard pointensicher bemerkt hat, von allen Anthropomorphismen „der größte und der bedeutungsvollste“. Und für Nietzsche lief die neutestamentliche Verkündigung eines der angeblich in Lebenslügen verstrickten Menschheit die befreiende Wahrheit bringenden „Gottes am Kreuz“, wie der im Blick auf so etwas wie die Umwertung aller Werte besonders urteilsfähige Philosoph hellsichtig formulierte, auf die negatio hinaus: auf die Negation all dessen, was im Namen der Vernunft göttlich genannt zu werden verdient.
Dass in dieser Negation die Affirmation eines Gottes impliziert ist, der Schuld vergibt und dessen Allmacht in der Ohnmacht des Gekreuzigten erfahrbar wird, macht das Ganze eher noch ärgerlicher. Denn nun wird dem – auch theologisch uneingeschränkt zu bejahenden – Wahlspruch der Aufklärung Sapere aude!, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, die Absolution zur Seite gestellt, die den Mut voraussetzt, sich zu seinen eigenen Sünden zu bekennen. Denn zu der Wahrheit des Evangeliums, dass es tatsächlich ein agnus Dei gibt, qui tollit peccata mundi, gelangt man nur durch Vergebung der Schuld. Wer sie erlangt, dem wird jene Wahrheit dann, um auf Schiller zurückzukommen, überaus erfreulich sein.
Doch der aufgeklärte Mensch lebt nur zu gern, etsi peccatum non daretur, als ob ihn seine Sünde nichts anginge. Deshalb ermangelt es uns in der Neuzeit auch, wie der alte Ernst Bloch den Tübinger Theologen vorhielt, an einer Kategorientafel des Bösen. Gerade im Blick auf das Böse ist uns die sich selbst so nennende Aufklärung eine radikale Aufklärung schuldig geblieben. Auch die Theologie ist sie der Zeit bisher schuldig geblieben. Böse ist trotz der ungeheuren Exzesse von Bosheit, die das zu Ende gegangene Jahrhundert kennzeichnen, noch immer eine bourgeoise, einer verbürgerlichte und insofern auch schon verharmloste Kategorie. Mangelt es der christlichen Theologie an Mut zu jener „Umwertung aller Werte“, die sich im Lichte des Evangeliums vollzieht und ohne die die Abgründe des Bösen zwar erfahren und erlitten, nicht aber auf den Begriff gebracht und also auch nicht bekämpft, mit Gedanken, Worten und Werken erfolgreich bekämpft werden können?
Aufklärung im Lichte des Evangeliums nimmt die Welt anders wahr, als sie im Horizont alltäglicher Plausibilitäten wahrgenommen wird – so wie man ja auch mit der Macht anders umgeht, wenn man entdeckt, dass der harte Kern der göttlichen Allmacht die Liebe ist. Das ist zwar eine überaus vernünftige Einsicht. Doch man muss sie erst entdecken. Und mit der Vernünftigkeit der Vernunft verträgt sich die Vernünftigkeit der Entdeckungen des Glaubens nur dann, wenn das überhelle Licht der Vernunft den – eher dem Licht einer brennenden Kerze vergleichbaren – „neuen Schein“, den das ewige Licht in die Welt bringt, nicht überblendet. Andernfalls wäre es noch immer besser, wenn das lumen naturae das Licht der Gnade in den Schatten stellte. Denn dort sieht man es.
Auszug aus: Eberhard Jüngel, Natur des Himmels, F.A.Z. vom 18. Januar 2000.