Karl Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts (1963): „Das moderne historische Bewußtsein ist aber dadurch ausgezeichnet, dass es ganz und gar aus der Zukunft lebt und darum in Furcht und Hoffnung; die Erwartung der Zukunft ist das Element, in dem der Wille zum Fortschritt schwimmt. Die entscheiden­de Frage gegenüber unserer Besessenheit von der Zukunft wäre des­halb, ob die Zeit der Welt eine immerwährende oder ewige ist, im Unterschied zur end­lichen Zeit des Menschen.“

Das Verhängnis des Fortschritts (1963)

Von Karl Löwith

Der Begriff des Fortschritts geht oft unvermerkt über in den der Ent­wicklung. Wir sprechen von »unterentwickelten« Ländern und meinen damit solche, die sich erst noch entwickeln müssen, indem sie sich die Fortschritte der westlichen Zivilisation aneignen. Wir sprechen vom Fortschritt der Wissenschaft oder auch von ihrer Entwicklung. Hegel behauptet sogar, daß die Wahrheit selbst die Tendenz habe, »sich zu entwickeln«, d.h. sich in der Geschichte des Geistes zu entfalten. Weil aber diese Explikation zu immer reicheren und höheren Stufen führt, nennt Hegel das Prinzip der gesamten Geschichte des sich in der Welt entwickelnden Geistes einen »Fortschritt« im Bewußtsein der Freiheit. Beides, Entwicklung und Fortschritt, sind ihrer formalen Struktur nach ein Werden im Unterschied zu einem feststehenden Sein. Als ein Wer­den auf etwas hin sind Entwicklung und Fortschritt auf Zukunft gerich­tet. In einer Zeit ohne Zukunft, in einer ewig kreisenden Gegenwart, sind Entwicklung und Fortschritt auf­gehoben. Der Fortschritt ist also eine Bewegung des Werdens auf etwas Künftiges hin; aber nicht jedes Werden und nicht jede Entwicklung ist schon ein Fortschritt. Die Wassermassen eines Flußlaufes bewegen sich auf etwas hin, der Fluß macht aber keine Fortschritte. Alles organisch Lebendige bewegt sich entwickelnd auf etwas hin, es schreitet aber nicht fort. Ein Pflanzensa­me, der sich entwickelt, wächst heran und wird zum Baum; ein befruch­tetes Ei wird zum erwachsenen Tier; ein menschlicher Embryo wird zum erwachsenen Menschen und die Veränderungen in diesem Anders­werden sind meist so groß, daß man in dem, wozu ein Lebendiges schließlich wird, das, woraus es ursprünglich wurde, nicht mehr wie­dererkennt. Dieses natürliche Werden und Anderswerden geht aber nicht endlos weiter und weiter fort, zu immer neuen Veränderungen, sondern es hat, in jedem Exemplar seiner Gattung, ein bestimmtes Endziel. Ein Lebewesen, das sich voll entwickelt hat, ist am natürlichen Ende seines Werdens angelangt, es ist geworden, was es seiner Anlage nach von Anfang an war. Das Woraufhin des Werdens leitet und reguliert im voraus den ganzen Hervorgang, es erweckt auch die dazu erforderlichen Energien. Wenn ein bestimmter Pflanzensame nicht von vornherein darauf angelegt wäre, eine Buche zu werden, so würde er sich nicht in einer ganz bestimmten Folge so und nicht anders entwickeln.

Auch die Evolutionsgeschichte im großen und ganzen stellt nur dann einen Fortschritt dar, der vom einzelligen Lebewesen bis zum Menschen führt, wenn man die zunehmende Differenzie­rung der biolo­gischen Organisation und die Ausbildung eines zentralen Nervensy­stems mit Gehirn zum Maßstab des Fortschritts nimmt und also die vermutliche Aufeinanderfolge der Lebenserscheinungen teleologisch interpretiert, als ziele die gesamte Natur von Anfang an auf den Men­schen ab. Dieses entwicklungsgeschichtliche Schema ignoriert jedoch, daß schon viele hochdifferenzierte Tierarten ausgestorben sind und auch der Mensch aussterben wird, wenn sich die erdgeschichtlichen Lebensbedingungen ändern. Das Auftauchen des Menschen kann über­haupt nicht bruchlos aus seiner tierischen Herkunft verstanden werden, so wenig wie aus einer göttlichen Schöpfung. Der Mensch hat, im Unterschied zu allen außermenschlichen Lebewesen, die Möglichkeit, sich zu seinem natürlichen Dasein und Ableben selbst zu verhalten. Er kann das Faktum seines Daseins bloß hinnehmen, oder es annehmen und ablehnen. Er muß sein Leben selber wollen, weil er sich auch vernichten kann. Er kann sich darum auch nicht einfach entwickeln, sondern er muß, um als Mensch leben zu können, von früh auf eigene Schritte unternehmen. Die ersten, für unser Menschwerden entschei­denden Schritte und Fortschritte betreffen das Gehen- und Sprechenlernen und sodann, daß man arbeiten lernt und sich selber in der Bearbei­tung von etwas anderem bildet. Indem der Mensch, und nur er, die Natur kultiviert, kultiviert er sich selbst.

Zwar ist auch der Mensch ein Menschengewächs, das durch Wer­den zu dem ihm eigentümli­chen Sein kommt. Er wächst heran, vom befruchteten Ei bis zur Geburt und vom Säugling bis zur Pubertät, die das natürliche Ende des Wachstums ist, weshalb man ihn dann einen Erwachsenen nennt. Aber der biologisch Erwachsene ist nicht schon eo ipso ein voll entwickelter, reifer Mensch. Die meisten bleiben ihr Leben lang erwachsene Kinder, unreif, infantil. Es genügt also zum Mensch­werden offenbar nicht, daß wir uns von Natur aus entwickeln, es bedarf dazu eigener Schritte und Fortschritte. Der Fortschritt in der individuel­len Entwicklung des Menschen und in den allgemeinen Veränderungen der Menschengeschichte zeigt jedoch keine natürliche Vollendung. Er kommt nie ans Ziel, er geht immer noch weiter fort, und das Ende ist nicht abzusehen.

Diese ganze, unvollendbare Menschengeschichte beruht zunächst darauf, daß der Mensch die Natur nicht so läßt, wie sie ist, daß er die Erde durch Bearbeitung kultiviert und sie mithin denaturiert und wilde Tiere domestiziert. Aller Fortschritt ist ursprünglich ein Fortschritt in der Aneignung der Natur, durch die sie dem Menschen zu eigen wird. Die Kultur macht sich nicht, wie die physis, von selbst; tō automátō, sie ist ein Ergebnis des menschlichen Fortschreitens über die Natur hinaus und von ihr weg, und dieser Fortschritt in der Bearbeitung der Natur ist durch menschliches Können, durch Kunst vermittelt. Alles Künstliche ist aber dem Menschen so natürlich wie die automatischen Vorgänge des organischen Lebens, denn er kann gar nicht menschlich leben, ohne seine Umwelt und damit sich selber zu kultivieren. Der Unterschied zwischen der elementarsten Bearbeitung der Natur mittels primitiver Werkzeuge und der modernsten technischen Herstellung einer Apparatur mag noch so groß sein, er ist kein prinzipieller; denn der Schritt über die Natur hinaus und von ihr weg, dieser Fortschritt gehört von Anfang an zur Natur des Menschen. Die ursprüngliche Geschichte des Menschen, worin der Fortschritt zuhause ist, beginnt nicht erst mit der schriftlich dokumentierten Historie, sondern prae-historisch, in den Urzeiten der Menschwerdung. Lucrez hat diesen Fortschritt nicht anders beschrieben als Herder in seinen Ideen zur Geschichte der Menschheit. Fortschritte, sowie die auf sie relativen Rückschritte, gibt es nur in der Geschichte des menschlichen Lebens. Und wenn diese dem Menschen als Menschen natürlichen Fortschritte in der Kultivierung der Natur, und damit auch seiner selbst, an ihr Ziel kommen und ein relatives Ende erreichen, so spricht man von Vollen­dung oder Perfektion. Sie ist nicht absolut, sondern relativ und zwar in zweifacher Weise: erstens, weil die Maßstäbe für das Vollkommene je nach den Grundtendenzen einer Kultur verschieden sind, und zweitens, weil nur ein unvollkommenes Wesen wie der Mensch sich auch vervoll­kommnen kann. Ein absolut vollkommenes Wesen, als welches Gott gedacht wird, ist außerstande, sich fortschreitend zu vervollkommnen; wenn es das könnte, dann wäre es nicht vollkommen; aber auch ein natürliches Lebewesen, das einfach so wird, wie es ist und nicht anders sein kann, ist in seiner Art vollkommen.

Der Mensch ist, weil er so viel kann, unvollkommen, und so sind es auch seine Werke. Eine vom Menschen kunstvoll hergestellte Hänge­brücke kann immer noch fortschreitend verbes­sert und vervollkomm­net werden; der Faden, den eine Spinne seit Jahrmillionen in immer gleicher Weise aus ihrem Leib entläßt, um sich und ihr Netz daran aufzuhängen, ist nicht verbesserungsfähig und -bedürftig. Das Äußer­ste, was ein Werk der menschlichen Kunst erreichen kann, es sei ein Bauwerk oder ein Gedicht oder ein Bild, ist, daß es so scheint, als könnte es gar nicht anders sein, als sei es ein Werk von innerer, natürlicher Notwendigkeit, über das hinaus es keinen Fortschritt mehr gibt. Als ein Werk menschlichen Wollens und Könnens könnte es aber auch anders sein, es könnte überhaupt sowohl sein wie auch nicht sein. Alle Men­schenkunst bleibt insofern hinter der Natur zurück, gerade deshalb, weil alles menschliche Können dem Fortschritt unterliegt.

Die bis zu einer relativen Perfektion möglichen Fortschritte gehören also wesentlich zur Ge­schichte des menschlichen Lebens. Sie betreffen bestimmte, einzelne Fortschritte im Plural. Sie beruhen nicht auf einem Fortschrittsglauben und sind keine Illusion, sondern ein Phäno­men der Menschengeschichte. Sie besagen aber nicht, daß die Geschichte als solche und im Ganzen eine kontinuierliche Vorwärtsbewegung im Sinn eines zielvollen Fortschritts im Singular ist.

Lucrez stellt im fünften Buch De natura rerum, im Anschluß an die Naturgeschichte der Welt, die Entwicklungsgeschichte des irdischen Lebens und schließlich des Menschengeschlechts dar (925 ff.), denn auch der Mensch ist eine Hervorbringung der Erde und diese ist noch rela­tiv jung und so wenig wie der Himmel unveränderlich immer diesel­be, sondern einmal entstanden und darum auch wieder vergehend (324-79). Dieses höchste Gesetz des Entstehens und Vergehens umfaßt naturgemäß auch den zivilisatorischen Fortschritt des Menschenge­schlechts. Daß dieses im Laufe der Zeit allmählich fortgeschritten ist (paulatim progrediens) in der Kunst des Ackerbaus und der Schiff­fahrt, im Bau von Städten und in der Ausbildung von Gesetzen des Zusammenlebens, in der Verfeinerung der Annehmlichkeiten des Le­bens, in der Malerei und Dichtkunst, »bis man in allen Künsten zum höchsten Gipfel gelangt ist« (1457) — dieser Fortschritt in der Entwick­lung des Menschengeschlechts besagt für Lucrez aber nicht, daß die Verfassung des Menschen fortschreitend besser und besser wird. Denn alle neuen Errungenschaften bringen auch neue Gefahren und Übel mit sich (1418 ff.). Ergo homi­num genus incassum frustraque laborat: »So müht sich das Menschengeschlecht umsonst immerfort ab und verzehrt in den nichtigsten Sorgen sein Leben.« Denn es versteht nicht, der Habgier Schranken zu setzen und die Grenze einzuhalten, bis zu der sich wahre Lust steigern kann. »Dies ists, was mit der Zeit das Leben der Menschen aufs hohe Meer trieb und die mächtigen Wogen des Krieges erregte.«

Diese klassische Ansicht vom Fortschritt bewährt ihre nüchterne Wahrheit nicht zuletzt durch die das Lehrgedicht abschließende Schil­derung der Pest von Athen, in der alle Hoffnung auf weiteren Fort­schritt zunichte wird. Der Tod ist die absolute Grenze alles sterblichen Wesens, und Lucrez rechnet zu diesem auch Himmel und Erde, denn auch sie sind entstanden und werden einst in ihrer jetzigen Gestalt vergehen (325 ff.).

Eine Welt, die Welt der christlichen Überlieferung, trennt diese klassische Beschreibung des Fortschritts von allen nachchristlichen Ge­schichtsphilosophien, die auf eine Erfüllung und Vollendung abzielen. Friedrich Schlegel hat die christliche Herkunft unseres fortschrittlichen Denkens und Handelns treffend in dem Satz zusammengefaßt: »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt aller progressiven Bildung und der Anfang der modernen Ge­schichte.« Revolutionär ist der Wunsch, weil er den ursprünglich natür­lichen Sinn der re-volutiones, d.h. der regelmäßigen Umläufe der Him­melskörper, umkehrt, und progressiv ist alle nachchristliche Bildung, weil sie von Augustins procursus zum Gottesreich bis zu Hegels »Fort­schritt im Bewußtsein der Freiheit« und zu Marx’ Erwartung eines irdischen Reichs der Freiheit die Theologie der Geschichte fortschrei­tend verweltlicht hat. Wer aber das Geschehen der Geschichte von vornherein in der Perspektive der Zukunft und eines auf sie gerichteten Fortschritts, oder auch eines progressiven Verfalls sieht, der wird in dem, was bisher geschah, nur vorbereitende Vorstufen einer noch nicht an ihr Ziel gelangten Vorgeschichte erblicken. Wie das Alte Testament für die Kirchenväter eine praeparatio evangélica und ein Versprechen der Zukunft war, das sich erst in einem Neuen Testament erfüllt hat, so wird nun überhaupt die Ausdeutung der Vergangenheit zu einer rückwärts gewandten Prophetie: man versteht das Vergangene als eine sinnvolle Vorbereitung der Zukunft. Die christliche Zuversicht auf eine künftige Erfüllung ist zwar dem modernen Geschichtsbewußtsein abhanden gekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als solche und auf eine unbestimmte Erfüllung ist herrschend geblieben. Ein zu seiner Zeit weit verbreitet gewesenes Erbauungsbuch des 17. Jahrhunderts von John Bunyan beschreibt in allegorischer Form The Pilgrim’s Progress, nämlich »from this world to that which is to come«. Aber schon im gleichen Jahrhundert begann man unter der kommenden Welt nicht mehr ein Reich Gottes, jenseits der irdischen Welt und ihrer Geschichte zu verstehen, sondern ein Menschen­reich, eine bessere künftige Welt. Die überweltliche Bestimmung des Menschen wich einem innerweltli­chen Ziel. Man »transzendierte« nicht mehr zu Gott als dem summum bonum, sondern zu einer fortschreitend verbesserungsfähigen Men­schenwelt. Von der Zukunft her motiviert sind aber nicht nur die radikalen Fortschrittsphilosophien von Turgot und Condorcet, Saint Simon und Comte, deren gemeinsames Vorbild der Fortschritt in den »Wissenschaften«, d.i. der mathematischen Naturwissenschaft ist, sondern nicht minder ihr Umschlag in negativ fortschreitende Verfalls­theorien, wonach es so aussieht, als sei die ganze Geschichte Europas ein einziger, folgerichtiger Hervorgang des »Nihilismus«, der sich in einem »Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit« erfülle.

Die Idee des Fortschritts, an deren Leitfaden alles geschichtliche Denken des 18. und 19. Jahrhunderts entlang ging, ist zwar schon durch Rousseau (1749) prinzipiell in Frage gestellt und ein Jahrhundert später durch Leopardi, Flaubert und Baudelaire in unüberbietbarer Weise verhöhnt worden[1], aber im allgemeinen Bewußtsein ist der Fort­schrittsglaube doch erst seit dem Ersten Weltkrieg in Verruf gekom­men. Bis dahin war er der Stolz und die Hoffnung der zivilisierten Menschheit. Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erschienen zwei Bücher des französischen Soziologen und Philosophen Georges Sorel mit dem Titel Les illusions du pro­grès und Réflexions sur la violence. Beide Schriften waren ein Zeichen der Zeit, die meinte, durch den Fortschritt der Zivilisation die Gewalt hinter sich gelassen zu haben. Sorel war über diesen »bürgerlichen« Fortschrittsglauben hinwegge­schritten. Andererseits ist aber trotz dieses neuen Unglaubens an einen gewaltlosen Fortschritt der Zivilisation unbestreitbar, daß auch Sorel unter dem Eindruck der russischen Revolution über das Bestehende hinausgehen wollte und daß wir immer weitere Fortschritte machen, die sich in Weltausstellungen zur Schau stellen. Die unter den Gebilde­ten üblich gewordene Verhöhnung des Fortschrittsglaubens ist ebenso kurzsichtig, wie es die moralischen Erwartungen waren, die sich zuvor an den wissenschaftlichen Fortschritt geknüpft hatten. Denn so wenig wir noch diskutieren, ob die großen literarischen Werke der »Alten« durch die Werke der »Modernen« übertroffen werden, weil wir weder an die einen noch an die anderen als maßgeblich glauben, sondern beide in der Perspektive eines historisch verbildeten Denkens in gleicher Weise »Verstehen«, so wenig läßt sich doch bestreiten, daß mindestens die naturwissenschaftliche Technik und Medizin in den letzten hundert Jahren ungeheure Fortschritte gemacht hat und die Erwartungen, etwa von Bacon und Descartes im 17. Jahrhundert, von Turgot, Condorcet und Comte im 18. und 19. Jahrhundert, nicht nur erfüllt hat, sondern noch weit übertrifft. Die technisch entwickelte mathematische Natur­wissenschaft ist aber nicht eine beliebige Wissenschaft unter anderen, sondern diejenige, welche seit einem Jahrhundert das gesamte öffentli­che Leben der ganzen zivilisierten Menschheit geprägt hat und weiter bestimmt. Auch wer nicht mehr an den Fortschritt glaubt und aus dem Fortschrittsglauben eine Art Religion macht, macht doch ständig Ge­brauch von den faktischen Fortschritten und kann sie nicht mehr ent­behren oder sich ihnen entziehen. Es gibt keine glückseligen Inseln mehr, die der Fortschritt nicht erreichen könnte. In der Umkehrung des Satzes von Nestroy, »Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er noch viel größer ausschaut als er in Wirklichkeit ist«, könnte man sagen: »Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er in Wirklich­keit noch viel größer ist, als er ausschaut.« Aber wir sehen ihn kaum mehr, weil wir ihn alltäglich gewohnt sind.

Der Fortschrittsgedanke betraf zunächst die Fortschritte in den Wissenschaften und Künsten, und das Wort »progrès« wurde stets im Plural gebraucht. In Deutschland kam das Wort Fort­schritt, neben dem älteren »Fortgang«, als Lehnübersetzung um 1750 in Gebrauch. Und in der französischen Revolution wurde »progrès« gleichbedeutend mit »nouveauté«. Die berühmte literarische Querelle des anciens et des modernes, der Streit zwischen den Alten und den Modernen, an dem sich in Frankreich Fontenelle, in England Swift, in Italien Vico und in Deutschland Lessing beteiligten, wurde zugunsten der Modernen als der über die Alten hinaus und fort Geschrittenen entschieden. Frank­reich war lange Zeit das Land, das zuerst an der Spitze des Fortschritts marschierte. In unserer Zeit hat sich der Begriff des Westens und seiner fortschrittlichen Zivilisation nach Amerika verlegt, das jetzt, seitdem es die Vormachtstellung Europas übernommen hat, schlechthin als der Westen gilt. Der große Konkurrent Amerikas ist Rußland geworden, seitdem es sich mittels der wissenschaftlichen Technik industrialisiert und fortschrittlich modernisiert hat. Im amerikanischen Fortschritts­denken ist nach wie vor der wissenschaftliche Positivismus von Auguste Comte herrschend, im russischen der Marxismus als »wissenschaftli­cher Sozialismus«. Beide sind sich einig im positiv-wissenschaftlichen Fortschrittswillen und im Glauben an die Herstellbarkeit einer besseren Welt. In beiden Fällen liegt jedoch der geschichtliche Ursprung des Fortschrittswillens nicht in diesen Ländern selbst, sondern in Europa und den europäischen Geschichtsphilosophien. Wie entscheidend auch für das marxistische Denken der Glaube an den Fortschritt ist, zeigt sich schon daran, daß die marxistischen Kritiker der bürgerlichen Welt sämtliche literarischen Erscheinungen nach dem allzu einfachen Ge­sichtspunkt beurteilen und unterscheiden, ob sie »progressiv« oder »reaktionär« sind. Aber auch in Amerika ist das Wort »progressiv« schon an und für sich ein positives Werturteil. Diese positive Bewertung des Fortschritts ist von 1830 an, mit dem Beginn der Industrialisierung, allgemein geworden, denn nichts war offenkundiger als der Fortschritt, zum Beispiel in der sozialen Wohlfahrt und Sicherheit, in der Bekämp­fung von Seuchen, Krankheiten und früher Sterblichkeit, in der Verbrei­tung von Bildung und Wissen durch Schulzwang, Zeitschriften und Zeitungen[2]. Ein Land, dessen Bevölkerung noch einen großen Prozent­satz von Analphabeten hat und in dem hygienische Einrichtungen, Elektrizität, Telefon und dergleichen Fortschritte noch eine Seltenheit sind, gilt jetzt überall als zurückgeblieben. Die Anzahl der Schulen, in denen man lesen und schreiben lernt, die Massenauflagen der Tageszei­tungen, eine möglichst große Verbreitung von Radio- und Fernsehgerä­ten, die Riesenauflagen der Pocket- und Everymans-Library, der Ro­wohlt-Taschenbücher bei uns, das alles beweist einen Fortschritt in der erstrebten Verbreitung des Wissens und der Bildung. Das­selbe gilt für die Wirtschaft. Eine fortschreitend größere Zahl von Konsumgütern, die noch vor wenigen Generationen als Luxus für eine kleine Schicht von Reichen galten, sind allgemein zugänglich und allgemeines Bedürf­nis geworden. Was ursprünglich Luxus war, ist nun ein allgemeiner Bedarf, weil der Lebensstandard, d.h. die Ansprüche, die man stellt, stän­dig steigen, indem sie ständig voran- und hochgetrieben werden. Innerhalb dieses sehr weiten Bereichs, der die Bildung wie die Wirt­schaft umfaßt, ist der Fortschritt also keines­wegs eine veraltete Ideolo­gie oder eine Illusion, sondern eine geschichtliche Tatsache ersten Ranges.

Mit dem Eindringen der wissenschaftlichen Technik und Industrie und dem an sie gebunde­nen Fortschritt ändert sich nun alles sehr schnell auch in den ostasiatischen Ländern, und es ändert sich nicht zufällig unter der Führung des marxistischen Kommunismus, nämlich deshalb, weil der Marxismus in diesen Ländern die Funktion des wissenschaft­lich-technischen Fortschritts übernahm. Der »Kommunismus« bedeu­tet im Orient etwas ganz anderes als bei uns und ist höchstens vergleich­bar mit den revolutionären Anfängen der europäischen Arbei­terbewe­gung. Der Kommunismus ist im Osten die Inkarnation des Fortschritts, eine Art säkularer Fortschrittsreligion. Jahrhundertelang haben die Menschen in Indien, China, Afrika das radikale revolutionäre Fort­schrittsverlangen nicht gekannt. Wenn aber die Erfahrung des Fort­schritts einmal gemacht ist, kommt etwas in Bewegung, das nicht mehr aufzuhalten ist. Das Verlangen nach Fortschritt wird selbst progressiv. So war es im Westen, und so ist es nun auch im Osten. Nehru hat das klar erkannt, wenn er einmal äußerte, daß die fortschrittlichen sozialen Veränderungen schnell genug vor sich gehen müßten, um die an sie geknüpften Hoffnungen am Leben zu erhalten; je rascher das Tempo des Voranschreitens, desto besser für die Durchführung der Reformen. Also eine Art Wettlauf zwischen den faktischen Fortschritten und dem progressiven Verlangen danach. Der Fortschritt ist in sich selbst maßlos und unersättlich, denn je mehr erreicht wird, desto mehr wird gefordert und erstrebt. Wenn man von Frankfurt bis New York vor wenigen Jahren noch fünfundzwanzig Stunden Flugzeit brauchte und jetzt nur noch sechs, dann ist nicht einzusehen, weshalb man diese Strecke nicht schon sehr bald in noch viel kürzerer Zeit sollte bewältigen können. Und wenn die durchschnittliche Lebensdauer von vierzig auf sechzig Jahre verbessert wurde, dann wird man versuchen, von sechzig auf neunzig zu kommen. Und so ist es mit allem, worin man überhaupt fortschreiten kann.

Der Fortschritt, von dem in sinnvoller Weise gesprochen werden kann, weil er eine universale Tatsache ist, ist nicht an irgendeine Wis­senschaft gebunden, sondern an eine ganz bestimmte, an die neuzeitliehe Naturwissenschaft, wie sie im 17. Jahrhundert entstand und die bis ins 19. als die eigentliche Wissenschaft galt und es faktisch auch heute mehr denn je ist. Ihr methodi­sches Vorbild war Descartes’ Entwurf einer mathematischen Universalwissenschaft zum Zweck der Erklä­rung und Beherrschung der Naturkräfte. Desgleichen ist für Kant New­tons »Weltwissenschaft«, wie er dessen mathematische Physik nannte, die einzig wahre Wissenschaft. Und noch Comte hat die Wissenschaft von der sozialen Geschichte als »physique sociale« gedacht, und Pareto ist ihm in dieser naturwissenschaftlichen Orientierung nachgefolgt. Wenn dann im 19. Jahrhundert, nach dem Vorgang von Hegel und Marx, im Unterschied zu den Naturwissenschaften die Wissenschaften von der Geschichte als die umfassenderen und fundamentaleren be­hauptet wurden, so liegt diesem »historischen Materialismus«, oder auch Idealismus, überhaupt dem Historismus, die Erfahrung der Fran­zösischen Revolution zugrunde, d.h. die Erfahrung, daß sich der Mensch »auf den Kopf stellen« und die Welt nach seinem Willen verändern kann. Im Hinblick auf diese moderne revolutionäre Ge­schichte der Menschenwelt ist mit einem gewissen Recht von Gerhard Krüger[3] gesagt worden, daß die Geschichte für uns zum dringendsten, umfassendsten und größten Problem geworden sei. Diese vordringliche Bedeutung der Geschichte widerspricht aber nur scheinbar dem fakti­schen Vorrang der Naturwissenschaft; denn auch die Geschichte ist nur deshalb so vordringlich geworden, weil die Naturwissenschaften Fort­schritte gemacht haben, die all jene radikalen Veränderungen in unserer geschichtliches Leben brachten. Erst im letzten Jahrhundert hat sich die Geschichte so vorgedrängt, weil die wissenschaftliche Technik, nicht zuletzt die Kriegstechnik, in einem progressiven Tempo die menschli­chen Verhältnisse fortschreitend verändert hat. Die moderne Naturwis­senschaft ist eine traditionsverändernde und -zerstörende Macht. In­dem sie ständig fortschreitet, läßt sie nichts Bestehendes stehen. Die Geschichte ist für uns nicht mehr ein wechselvolles Geschehen inner­halb einer von Natur aus geordneten Welt, sondern alles, was für uns »Welt« ist, wird in diesen Prozeß der Geschichte einbezogen und in ihn hineingezogen. Und weil diese so umfassend und vordringlich geworde­ne Geschichte das Gegenteil alles Beständigen, Dauernden und Immer­währenden ist, weil ihr moderner Grundzug die radikal fortschreitende Veränderung alles Bestehenden ist, deshalb ist es unmöglich, in der Geschichte einen Standort zu finden und von ihr her irgend etwas für immer Feststehendes aussagen zu wollen.

Was heute eine kaum noch beachtete, weil alltägliche Realität des revolutionären Fortschritts ist, ist ursprünglich ein utopisches Pro­gramm gewesen. Der neuzeitliche Aufstand der wis­senschaftlichen Technik meldet sich aber bereits bei einigen weit vorausblickenden Denkern des späten Mittelalters an, vor allem bei Roger Bacon, einem Franziskanermönch des 13. Jahr­hunderts, in dessen Gedanken Magie, Alchemie und Astrologie eine merkwürdige Verbindung mit der Ma­thematik eingingen[4]. Beides, Magie und mathematische Naturwissen­schaft sollten dazu dienen, die Kräfte der Natur zu manipulieren und sie unter die Herrschaft des Menschen zu bringen. Roger Bacon hat bereits eine Art Experimentalwissenschaft entworfen, durch die das Wissen zum Zweck der Verwandlung und Beherrschung der elementaren Na­turkräfte praktisch anwendbar werden sollte. Das Wort »Experiment« bedeutete damals eine magische Handlung, durch die man Macht über Menschen und Umwelt gewinnt. In Bacon lebte bereits die neuzeitliche Forschersucht, die experimentierend alles versucht, was sich nur über­haupt ausdenken und machen läßt. Er dachte sich zum Beispiel automa­tische Schiffe, Flugzeuge und Unterseeboote aus, um die Macht des Menschen zu steigern und die verborgenen Naturkräfte zu befreien, nämlich zum Zweck der Nützlichkeit für den Menschen. Die Wissen­schaft ist für ihn nicht mehr eine aristotelische »Theoria«, d.h. ein Wissenwollen um des Wissens willen, sondern ihres praktischen Nut­zens wegen zu pflegen, analog dem alchemistischen Experiment, Gold zum Nutzen der Menschen zu erzeugen. Die Fortschrittsidee, die seiner Experimentalwissenschaft zugrunde lag, ist noch alchemistischen Ur­sprungs, aber ihrer Tendenz nach ist sie bereits modern, denn sie begründet die damals noch völlig revolutionäre Überordnung der Pro­fanwissenschaften über die theologischen Wissenschaften, und zwar mit dem Argument, daß nur die Profanwissenschaften praktische Ver­besserungen und Fortschritte erzielen können. Das alles geschah bei Roger Bacon im Dienste und zum Nutzen der Kirche, und er hatte den Auftrag dazu von Papst Clemens IV. bekommen. Seine neue Experi­mentalwissenschaft sollte der Weltherrschaft des Papstes dienen, in einer kritischen Zeit der Kirche, als mongolische Horden in das christli­che Abendland eingebrochen waren. Ein christlicher Weltstaat ließ sich nach Bacons Überzeugung nur noch mittels einer neuen wissenschaft­lich-technischen Weltbeherrschung begründen. Er schlug dem Papst vor, die hergebrachte Heidenmission durch Predigt durch die Mission der Wissenschaft zu ersetzen; denn nur sie könne die Menschen noch zur Annahme der Glaubenswahrheiten bringen. Zu seiner Vision einer sol­chen wissenschaftlichen Weltbeherrschung gehörten auch neue Ver­nichtungsmittel: das Schießpulver, dessen Herstellung er schon kannte, und die Erfindung von Verbrennungsspie­geln, die auf größte Entfer­nung hin jedes feindliche Heer verbrennen sollten. Er dachte sich auch schon besondere Materien aus, die durch Gift und Ansteckungsstoffe den unchristlichen Gegner vernichten sollten. Zugleich sorgte er in seinen Entwürfen dafür, daß diese Vernichtungsmittel von mirabilis utilitas das Blut der Rechtgläubigen schonen. Ludwig der Heilige, meinte er, könne sich seine Kreuzzüge ersparen, wenn er mit solchen Verbrennungsspiegeln und einigen Fachleuten das Heilige Land betre­ten würde. Und er begründete seine Experimentalwissenschaft mit einem Bibelwort aus dem Ersten Buch Moses, daß Gott den Menschen als sein Ebenbild geschaffen habe, damit er sich die Erde untertan mache. Zugleich bezieht er sich aber auch auf den Prometheus-Mythos und nennt Prometheus einen »Forscher« und »Philosophen«.

Eine andere Erscheinung eines prometheischen Menschen christli­chen Glaubens war im 15. Jahrhundert Christoph Kolumbus. Auch er lebte noch innerhalb der aus dem Mittelalter überkommenen, magisch-hermetischen Sphäre, in der Angst vor dem hereinbrechenden Jüngsten Tag und zugleich in der leidenschaftlichen Sucht nach dem Gold der neuen Welt, das er in der Nähe von Japan vermutete. Seine Gewißheit, Ostindien auf dem Seeweg zu erreichen, wobei er irrtümlicher Weise Amerika entdeckte, gründete er auf gewisse Argumente von Roger Bacon und auf die Prophetie des Jesaias vom neuen Himmel und der neuen Erde. Er hat seine tollkühne Unternehmung als eine christliche Mission aufgefaßt. Die Kehrseite seines missionarischen Bewußtseins war, daß er schon am zweiten Tag nach der Entdeckung des neuen Kontinents dem König von Spanien die Versklavung der Eingeborenen und ihre Verschlep­pung nach Spanien versprach, zugleich mit der An­kündigung der Entdeckung des Goldes. Zwei Jahre hernach erließ Papst Alexander VI. ein Edikt, das eine Linie vom Nordpol bis zum Südpol zog, um die Interessensphären von Spanien und Portugal zu verteilen.

Ein Jahrhundert später hat der Philosoph und Staatsmann Francis Bacon die Utopie Nova Atlantis verfaßt und den Fortschritt der Wissen­schaft (advancement of learning) zum Zweck der »proficiency« metho­disch zum Programm gemacht. Das Motto seines Entwurfs heißt: »Scientia et potentia in idem coincidunt«, Wissen und Macht gehen zusammen. Je mehr man weiß, desto fortgeschrittener wird man in der Beherrschung der Natur. Mit diesem Motto gab Bacon das Schlüssel­wort für die neuzeitliche Entwicklung bis zum heutigen Tag. Die Wis­senschaft ist nur zum Teil theoretisch-spekulativ, und was Bacon for­derte, war, daß sie immer mehr praktisch-operativ werde zum Zwecke des Nutzens »for the kingdom of man«. Der Mensch müsse die Natur durch Wissenschaft zu Verwandlungen zwingen zum Zweck der Welt­veränderung im Sinne einer fortschreitenden Verbesserung. Bacon hat sich in dieser Hinsicht mit Kolumbus verglichen, wie schon der Titel Nova Atlantis zeigt. Sein programma­tisch formuliertes Ziel ist: »Mög­lichst alle Dinge bewerkstelligen zu können«, z.B. durch Umwandlung der Elemente, durch Erzeugung künstlicher Stoffe, nicht zuletzt des Lebenselixiers. Was sich Bacon ausgedacht hat, ist inzwischen fast alles Realität geworden: Beschleunigung des Blühens von Pflanzen, Steige­rung der Größe von Früchten und Tieren, Züchtung neuer Arten, Verwandlung verschiedener Arten ineinander, Tierversuche mit Vivi­sektion und Giftstoffen, künstliche Abtötung und Wiederbelebung, Verriesung und Verzwergung, Fruchtbarmachen und Unfruchtbarma­chen, Züchtung künstlicher Mißgeburten. In den wissenschaftlichen Industrieanlagen seiner Utopie gibt es bereits Wetterstationen, Kühl­häuser, Klimakammern zur Krankenbehandlung, Wasserkraftwerke, Wolkenkratzer, Heizmaschinen, sogar künstliche Mittel gegen Fett­sucht und Magersucht.

Zu einer selbständigen mathematischen Naturwissenschaft wurde diese von Bacon entworfene operative Wissenschaft im 17. Jahrhun­dert durch Descartes, Galilei, und abschließend durch Newton. Das Wesentliche an dieser Epoche ist die endgültige Verselbständigung der mathema­tischen Naturwissenschaft, d.h. ihre Loslösung von allem, was nicht mechanisch und quantitativ bestimmbar ist, also die Abtren­nung der Naturwissenschaft vom Leben des Kosmos und von sämtli­chen Fragen der Theologie und Moral. Erst jetzt wird die natürliche Welt aus einem Gegenüber zu einem Objekt, das man berechnend und experimentierend zum Zweck der utilitas und der potentia manipulie­ren kann.

Diese neue Lage, die durch die moderne Naturwissenschaft geschaf­fen wurde, hat in der Philosophie als erster Kant klar durchdacht. Er hat die Eroberung der Welt durch objektivie­rende Wissenschaft ohne Vor­behalt anerkannt. Er hat aber auch ihre Unverbindlichkeit für alle Lebenserscheinungen und für den Menschen als moralische Person durchschaut und deshalb die theoretische Vernunft von der praktischen getrennt und die eigentliche menschliche Sphäre nicht auf das theoreti­sche Wissen der Wissenschaft, sondern auf moralische Postulate ge­stellt. Der einzige, der sich gegen diese Zerspaltung von Mensch und Natur und gegen die moderne Physik gewendet hat, ist Goethe gewesen. Er hat auch wie kein anderer die Problematik des prometheischen Willens zur technischen Weltbeherrschung im Faust zum Thema ge­macht, weil er voraussah, daß mit dem 19. Jahrhundert eine Epoche beginnt, in der das leitende Ziel der Fortschritt zu immer mehr Macht, Reichtum und Schnelligkeit ist, was Goethe das »Veloziferische« nann­te. Er schrieb in einem Brief vom 7. Juni 1825 an Zelter: »Alles […] ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet […] Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann in diesem Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist es, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, […] Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja das Resultat der Allge­meinheit, daß eine mittlere Kultur gemein werde […] Eigentlich ist es das Jahrhundert für […] leicht fassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zu dem Höchsten begabt sind.« Und an den Schluß seiner Ausgabe letzter Hand hat Goethe das Gedicht Pandora gestellt, worin Prometheus und Epimetheus den Zwiespalt der kommenden Zeit versinnbildlichen. Epimetheus als Ur­bild des Schauenden, Sinnenden, Entsagenden, der die Welt noch als Kosmos schaut, und ihm gegenüber Prometheus als das Urbild des Faust, der rastlos Planende, unentwegt Tätige, alles Nutzende, der »homo faber«, der alles Machen-Könnende[5].

Das Verhängnis in dieser fortschrittlichen Entwicklung liegt aber nun gerade in dem, was sie scheinbar rechtfertigt: ihrem ungeheuren Erfolg. Von der kinetischen Gastheorie bis zur Dampfmaschine, von der Quantentheorie bis zur Atomkernspaltung führte der Weg jener Umwälzung, die nun die Erde mit einer technischen Überwelt von Industrie- und Verkehrsanlagen überzieht, die Bevölkerungszahl fort­schreitend vervielfacht, und die es nun möglich macht, in einem Augenblick um den ganzen Erdkreis herumzuhören, herumzureden, herumzu­sehen und herumzusausen. Die wissenschaftlichen Utopien von Jules Verne – Reise um die Erde in achtzig Tagen, Tiefsee-Expeditionen, bemannte Raketen zum Mond – sind, mit vorläufiger Ausnahme der letzteren, bereits überholt. Durch diese ungeheuren Erfolge des wissen­schaftlichen Fortschritts nimmt nun der Physiker die Stelle des Theolo­gen ein: der planbare Fortschritt hat die Funktion der Vorsehung übernommen. Die Vision des Franziskanermönchs Bacon von der christlichen Weltmission der Naturwissenschaft ist auf eine unchristli­che Weise in Erfüllung gegangen, aber so, daß an die Stelle des Fort­schrittsoptimismus von einst ein Fortschrittsfatalismus trat. Zwei Welt­kriege haben innerhalb einer Generation die Selbstsicherheit des Fort­schrittsglaubens des 18. und 19. Jahrhunderts erschüttert und das Be­wußtsein erweckt, daß inmitten der rationalen Planung und Durchsich­tigkeit dieser technischen Überwelt zwangsläufige Vorgänge wirksam sind. Der Entdecker der Kernspaltung, Otto Hahn, hat die Verwandt­schaft der Atomphysik mit der elementaren magischen Sphäre empfun­den und in einer Schrift dargestellt, der er den bezeichnenden Titel Moderne Alchemie gab. Darin heißt es: »Wenn wir auch heute noch unter Alchemie die künstliche Umwandlung eines Elements in ein anderes verstehen, dann können vielleicht erst die Naturwissenschaftler unseres Jahrhunderts als die wahren Alchemisten bezeichnet werden.« Die moderne Physik betreibt in der Tat nicht nur die künstliche Um­wandlung von Elementen in andere Elemente, sondern auch schon die synthetische Neuerzeugung von Elementen, die die Natur gar nicht kennt. Zu dieser, noch vor einem Menschenalter unvorstellbaren Ent­deckung gesellen sich Vorstöße in den Bereich des unermeßlich Kleinen und Großen, die weit über das alte Fortschrittsprogramm hinausgehen, denn sie machen nicht nur eine gegebene Natur dem Menschen nutzbar, sondern sie erschaffen eine künstliche Kräftewelt. Dieser wissenschaft­lich fortschreitenden Entwicklung geht parallel die fortschreitende Ver­änderung und Auflösung der alteuropäischen Traditionen in religiöser und moralischer, sozialer und politischer Hinsicht. Die beiden Welt­kriege haben neue Erfindungen angeregt, die dann ihrerseits auf die Politik zurückwirkten. Die Utopien von einst sind realisierbar gewor­den, und das Problem scheint »nur noch« zu sein, auch den Menschen so umzubauen, daß er es mit seinen eigenen Erfin­dungen aufnehmen kann. Die von Nietzsche und noch heute erhobene Klage, daß der moderne Mensch heimatlos sei, ist gegenstandslos geworden. Wir sind nirgends mehr zuhause, weil wir es überall sein können, seitdem sich der Mensch mittels der Wissenschaft selbst in einer Metallkapsel so einrichten kann, daß er darin die Erde in einer Stunde umkreist.

Der prometheische Mensch hat nun aber erfahren, daß es besonde­rer und radikaler Veran­staltungen bedarf, um nicht an den entfesselten Produktionskräften zugrunde zu gehen. Aus dieser Einsicht entsprang schon vor hundert Jahren das zentrale Problem von Marx unter dem Titel »Selbstentfremdung«. Im Gegensatz zu dessen klarer Einsicht in den antireligiösen Charakter des modernen wissenschaftlichen Fort­schritts, versuchen sowohl katholische wie protestantische Theologen sich und ihren Hörern einzureden, daß diese fortschrittliche Entwick­lung von Gott gewollt sei und daß der Rundfunksender des Vatikans so etwas wie das pfingstliche Sprachwunder erneuere. Das nun beginnen­de Stadium der Nutzbarmachung der Naturkräfte durch technische Wissenschaft ist der Eintritt in das Atomzeitalter, und seit dem Abwurf der ersten Atombombe kann sich niemand mehr dem Dilemma des Fortschritts entziehen. Innerhalb der atomaren Kriegsrüstung wirkt sich der wissenschaftliche Fortschritt dahin aus, daß jeder vom anderen als einem möglichen Feind ebenso schnelle oder noch schnellere Fort­schritte befürchtet, so daß eine wechselseitige Progression des Fortschreitenmüssens erzwungen wird. Die Geschichte der Atomwaffen­produktion, die in dem Buch von Robert Jungk, Heller als tausend Sonnen, dargestellt ist, ist dafür sehr aufschlußreich, nämlich für die Bewußtseinsspaltung der verantwortlichen Forscher und Politiker. Die Physiker, welche diese Wunderwaffe erfunden hatten, schoben nach dem ersten Einsatz der Atombombe in Japan die Verantwortung für die Anwendung ihrer Erfindung auf die Politiker, während die Techniker und Militärs, die den Einsatz vollzogen haben, die Physiker für die Erfindung verantwortlich machten. Nach einer vorübergehenden Ge­wissensangst kehrten die meisten Atomphysiker Amerikas an die staat­lichen Forschungsstätten zurück und experimentierten weiter mit den Milliarden, die sie für diese Zwecke vom Staat, vom Heer und von der Marine bekamen.

Aber auch diese Geschichte ist nicht so neu, wie sie scheint, denn der Prototyp dieser Bewußt­seinsspaltung ist bereits Alfred Nobel gewesen, der Erfinder des damals furchtbarsten Vernichtungsstoffes. Nobel hatte gehofft, mit der Herstellung des Dynamits zu erreichen, daß man künf­tig auf Kriege verzichten werde. Nach dem Scheitern dieser Hoffnung ging er in eine selbstgewählte Verbannung und stiftete kurz vor seinem Tod den Nobelpreis, dessen einer Teil Bemühungen um den Weltfrie­den honoriert, während der andere Teil die wissenschaftli­chen Verdien­ste belohnt, welche die modernsten Vernichtungswaffen ermöglichen.

In dem Dilemma zwischen Fortschritt und Vernichtung haben 1955 achtzehn Nobelpreisträger aus aller Welt sich einerseits zum »Dienst an der Wissenschaft« bekannt, und andererseits ihre Ratlosigkeit bezüg­lich der möglichen Folgen dieser immer weiter fortschreitenden Wissen­schaft eingestanden. Und wie im Äschylus-Drama die Promethiden die ihnen versagte Vor­ausschau des Kommenden eintauschen für die trüge­rischste aller Prometheusgaben, die blinde Hoffnung, so lebt auch dieser Appell der Atomphysiker von der Hoffnung, daß sich alle Natio­nen freiwillig zum Verzicht auf Gewalt entschließen werden. Die Furcht vor dem Ende wird aber überdeckt durch die Aussicht auf ungeheure friedliche Fortschritte und Ge­winne. Eine unheimliche Koinzidenz von Fatalismus und Fortschrittswille kennzeichnet jetzt alles Denken über den Fortgang der Geschichte. Der Fortschritt ist nun über uns ver­hängt, er ist uns zum Verhängnis geworden.

Die Frage ist: Gibt es für uns noch eine Instanz, die den an sich maßlosen Fortschritt be­gren­zen könnte, oder ist es unaufhaltsam, daß der Mensch alles machen wird, was er machen kann? Gibt es noch ein Maß für die Freiheit zu allem wie nichts? An diesem entscheidenden Punkt scheidet sich das moderne, nachchristliche Denken, das zwar nicht mehr im biblischen Sinne gläubig ist, aber doch weiterhin meint, daß die Welt um des Menschen willen geschaffen ist, von dem Denken der Griechen, wie es sich im Prometheusmythos ausgesprochen hat.

Wenn man die Prometheussagen[6] überblickt, so zeigt sich etwas sehr Aufschlußreiches: Der Mensch empfängt die Gaben des Prome­theus – und es sind das die Gaben des Menschen schlechthin, die ihn von Tieren und Göttern unterscheiden – zusammen mit ihren Gefah­ren. Eine nackte Verherrlichung des technischen Könnens hat es im Griechentum nie gegeben. Prometheus befreit zwar die Menschen durch seine den Göttern gestohlene Gabe, er erlöst sie aber nicht, vielmehr wird er selber von Zeus gefesselt und bestraft. Und wir selber, die wir nun am Ende dieser ursprünglichen Geschichte stehen, einem Ende, das wir den Beginn des Atomzeitalters nennen, sind auch sowohl befreit wie gefesselt durch unser Können. Daß die Befreiung fesseln kann, hatte der Fortschrittsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts nicht vorausgesehen. Und wenn Comte vor hundert Jahren glaubte voraussagen zu können, daß der Fortschritt der Wissenschaft und Industrie große vernichtende Kriege in Zukunft unmöglich machen werde, so sind wir umgekehrt aus Fortschrittsoptimisten zu Fort­schrittsfatalisten geworden. Er selbst, der Fortschritt, schreitet nun unaufhaltsam fort, wir können ihn nicht mehr aufhalten und umkeh­ren, was ein merkwürdiges Licht auf Hegels These wirft, daß die Geschichte eine Geschichte der fortschreitenden Freiheit sein soll.

Die Griechen haben im Prometheuskult den Raub des Himmelsfeu­ers im Mythos des ge­fesselten Prometheus gesühnt, weil sie ein tiefes Gefühl dafür hatten, daß dieser Raub des Feuers den Menschen mit einer Macht versah, die der stärksten Bindung bedurfte, um den Men­schen nicht zum Verderben zu werden. In diesem Mythos bekundet sich eine heilige Scheu vor jedem Eingriff in die Mächte der Natur, in den physischen Kosmos, den die Grie­chen, im Unterschied zu den Gemäch­ten des Menschen, als etwas Göttliches empfanden. Jetzt scheint jede Scheu verschwunden zu sein. Man lebt in einem Gemisch von Bewunde­rung der technischen Fortschritte und der Angst vor den eigenen Erfol­gen. Man experimentiert darauf los, man berechnet, was sich berech­nen läßt, und man macht auch alles, was sich machen läßt. Von der mythischen Vorzeit bis zum Ende des Mittelalters hatte man jeden solchen erfinderischen Eingriff mit religiösen Kulten und Opfern beglei­tet, um die Mächte zu bannen, die man herauf­rief, so bei jeder griechi­schen Stadtgründung, welche die heilige Erde verletzte, bei jedem Schiff, das ins Meer stach. Ein letzter, meist unbegriffener Rest solcher Opfersitten ist die Flasche, die man am Bug eines seefertigen Schiffes zertrümmert oder der Bänderstrauß auf dem Dachfirst eines neugebau­ten Hauses. Und doch kann man nicht einmal sagen, daß das Verhalten der modernen Naturwissenschaft zur Natur ein Sakrileg sei, weil es ohne Scheu ist. Ein Sakrileg würde voraussetzen, daß die Welt der Natur, der physische Kosmos, etwas Übermenschliches, Heiliges, Gött­liches ist und nicht nur ein in mathematischen Gleichungen darstellba­res Beziehungssystem von Energiequanten. Und solange wir nicht unser gesamtes Verhältnis zur Welt, und damit zur Zeit, von Grund aus revidieren, sondern mit der biblischen Schöpfungsgeschichte und den christlichen Begründern der modernen Naturwissenschaft vorausset­zen, daß die Welt der Natur für den Menschen da ist, ist nicht abzuse­hen, wie sich an dem Dilemma des Fortschritts etwas ändern sollte.

Fortschritt, wurde anfangs gesagt, kann es nur geben in einer Zeit, die wesentlich Zukunft ist. In einer ewigen Gegenwart sind Entwick­lung und Fortschritt aufgehoben. Das moderne historische Bewußtsein ist aber dadurch ausgezeichnet, daß es – entgegen dem klassischen und wörtlichen Sinn von »Historie« – ganz und gar aus der Zukunft lebt und darum in Furcht und Hoffnung; die Erwartung der Zukunft ist das Element, in dem der Wille zum Fortschritt schwimmt. Die entscheiden­de Frage gegenüber unserer Besessenheit von der Zukunft wäre des­halb, ob die Zeit der Welt eine immerwährende oder ewige ist, im Unterschied zur end­lichen Zeit des Menschen. Aber auch von der endlichen Zeit läßt sich nicht sinnvoll sprechen, wenn man die Möglich­keit einer ewigen ausschließt. Nur wenn es so etwas wie eine immer­währende Weltzeit gibt, in der immer wieder Neues entsteht und Altes vergeht, würde auch der Fortschritt das unverhältnismäßige Gewicht verlieren, das er zur Zeit für uns hat, weil wir nichts Bleibendes kennen.

Quelle: Karl Löwith, Der Mensch inmitten der Geschichte. Philosophische Bilanz des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Bernd Lutz, Stuttgart: Metzler, 1990, S. 320-338.


[1] Siehe dazu Weltgeschichte und Heilsgeschehen, in diesem Band S. 115 ff.

[2] Siehe dazu Wilhelm Mühlmann, Okzident und Orient, Gestern und Heute: Idee und Problematik des Fortschritts, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswis­senschaft, 1957, Heft 1.

[3] Gerhard Krüger, Grundfragen der Philosophie: Geschichte, Wahrheit, Wis­senschaft, 1958.

[4] Fritz Wagner, Wissenschaft in unserer Zeit, 1957. Von dieser Schrift wird im folgenden dankbar Gebrauch gemacht.

[5] Ein Jahrhundert später (1929) hat Valéry in Regards sur le monde actuel. Oeuvres, II, S. 1022 ff., zusammen­gefaßt, was man unter Fortschritt zu verste­hen hat, wenn man von allen moralischen, politischen und ästheti­schen Überlegungen absieht. Er reduziert sich dann auf zwei Dinge: die rapide Zunahme von nutzbarer (mechanischer) Macht und die gesteigerte Präzision in der planenden Voraussicht ihrer möglichen Verwendung. Niemand kann bezweifeln, daß sich Macht und präzise Berechnung seit einem Jahrhundert perfektioniert haben. Ein Übermaß an verfügbaren Mitteln bestimmt immer mehr auch schon die möglichen Zwecke, »peutêtre quel­que observateur assez lointain, considérant notre état de civilisation, songerait-il que la grande guerre ne fût qu’une conséquence tres funeste, mais directe et inevitable du développement de nos moyens? L’éten­due, la durée, l’intensité, et méme l’atrocité de cette guerre répondirent á l’ordre de grandeur de nos puissances. Elle fut à l’échelle de nos ressources et de nos industries du temps de paix; aussi différente par ses proportions des guerres antérieures que nos instruments d’action, nos ressources materielles, notre sur­abondance l’exigeaient.« (S. 1026)

[6] Karl Kerényi, Prometheus, 1959.

Hier der Text als pdf.

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