Zur Kritik des sakramentalen Verständnisses der Taufe. Thesen
Von Eberhard Jüngel
I. Was hat die Taufe mit dem Begriff Sakrament zu tun?
Die These, die ich vorausschicke, lautet:
These 1:
Jesus Christus ist das einzige Sakrament der Kirche.
These 1,1:
Die Bezeichnung der Taufe als Sakrament ist nicht biblischer Sprachgebrauch.
These 1,2 und die Untergliederungen:
Unter „Sakrament“ wurde in der westlichen Theologie bei aller Verschiedenheit der Bedeutung in der Regel immer ein „Zeichen“ verstanden, entweder
These 1,21:
ein Zeichen (Taufen mit Wasser), das etwas anderes (Gnade) bezeichnet und das Bezeichnete beim Empfänger des Zeichens auch bewirkt (signum efficax gratiae); wobei das Bewirken auf verschiedene Weise vorgestellt werden kann, aber immer so, daß zu einem natürlichen Element (Wasser bzw. Begießen mit Wasser) ein zur Offenbarung gehörendes Wort (Taufformel) hinzutritt; oder
These 1,22:
ein mit einer Verheißung fest verbundenes Zeichen, das auf Grund der Verheißung das Verheißene bezeichnet und bewirkt, wenn man, weil man oder damit man der Verheißung glaubt; oder
These 1,23:
ein Zeichen, das etwas anderes bezeichnet und einprägt, aber das Bezeichnete beim Empfänger des Zeichens nicht bewirkt, sei es, weil der Empfänger das bezeichnete – im Glauben – schon hat, sei es, weil er es erst – mit dem Glauben – bekommen wird; oder
These 1,24:
ein Bekenntniszeichen, mit dem Glaubende sich untereinander und gegenüber den Nichtglaubenden zu erkennen geben.
These 1,3:
Es gibt einen reformatorischen Anhalt für die dem Schriftgebrauch entsprechende exklusiv christologische Verwendung des Sakramentsbegriffs, dessen Wahrheit die gegenwärtige Kirche veranlassen sollte, Jesus Christus als das einzige Sakrament der Kirche zu behaupten.
II. Was hat die Taufe mit der Sünde zu tun?
These 2:
Das einzige Sachkriterium für eine den Zusammenhang von Taufe und Sünde sachgerecht zur Geltung bringende Tauflehre ist die Rechtfertigungslehre – allerdings nur, insofern diese selbst nicht als ein für sich bestehendes fixes Theologumenon, sondern vielmehr als ein Jeweils zu erarbeitender und zu verantwortender Zusammenhang theologischen Denkens in Betracht kommt.
These 2,1:
Der aus Glauben gerechtfertigte und deshalb auch getaufte Mensch wird im Neuen Testament auf sein Gerechtfertigtsein und Getauftsein so angesprochen, daß er auf seine Taufe und auf die ihm vergebenen Sünden gleichermaßen zurückblickt; daraus folgt jedoch nicht, daß Taufe und Rechtfertigung (Sündenvergebung) identisch sind.
These 2,2:
Die bestehende Taufpraxis kann nicht selbst als Sachkriterium für eine den Zusammenhang von Taufe und Sünde sachgerecht zur Geltung bringende Tauflehre sein.
These 2,3:
Die Confessio Augustana enthält eine in sich unausgeglichene Lehre von der Sünde, der Taufe und den Sakramenten, so daß weder die Confessio Augustana noch eine andere mit ihr zusammen als geltend anerkannte, aber durch die Unausgeglichenheit der Confessio Augustana in dieser Lehre von vornherein problematisierte Bekenntnisschrift ein eindeutiges Sachkriterium für die Bestimmung des Zusammenhanges von Taufe und Sünde zu geben vermag.
These 2,4:
Die Bekenntnisschriften verweisen uns selbst auf die Rechtfertigungslehre als das einzige Sachkriterium für eine den Zusammenhang von Taufe und Sünde sachgerecht bestimmende Tauflehre.
These 2,5:
Die Rechtfertigungslehre – im Sinne eines jeweils zu erarbeitenden und zu verantwortenden Zusammenhanges – hat die hermeneutische Funktion, das exegetische Nebeneinander der verschiedensten neutestamentlichen Taufaussagen zugunsten einer konzinnen Theologie der Taufe kritisch zu interpretieren.
These 2,51:
Eine zu erarbeitende Theologie der Taufe steht vor der systematischen Schwierigkeit, der Vielzahl verschiedener und durchaus unterschiedlicher Taufaussagen im Neuen Testament kritisch zu entsprechen.
These 2,52:
Eine zu erarbeitende Theologie der Taufe steht vor der systematischen Schwierigkeit, sowohl den neutestamentlichen Aussagen über die Taufe als auch dem im Vollzug sich selber und andere Ereignisse auslegenden Ereignis der Taufe kritisch zu entsprechen.
These 2,53:
Eine zu erarbeitende Theologie der Taufe hat in der paulinischen Rechtfertigungslehre einen historischen Anhalt für die als systematisches Sachkriterium zur Bestimmung des Verhältnisses von Taufe und Sünde ebenfalls erst zu erarbeitende Rechtfertigungslehre.
III. Die Gnade Jesu Christi als Grund des Glaubens und deshalb auch der Taufe
These 3:
Eine an der Rechtfertigungslehre orientierte evangelische Lehre von der Taufe müßte mit dem sakramentalen Verständnis der Taufe auch die Alternative zwischen lutherischem und reformiertem Taufverständnis überwinden. Sie hätte davon auszugehen, daß die Notwendigkeit der Taufe nicht die Notwendigkeit eines Mittels (necessitas medii), sondern allein die Notwendigkeit eines gnädigen Gebotes (necessitas praecepti) ist, das zu befolgen allein für den Glaubenden möglich und sinnvoll ist.
These 3,1:
Die Taufe gibt und wirkt nichts anderes als das, was Jesus Christus durch den Heiligen Geist im Wort der Verkündigung mit dem Glauben gibt und wirkt: aber sie gibt und wirkt dasselbe anders.
These 3,2:
Das Besondere der Taufe besteht darin, daß sich der Täufling in der Taufe auf seinen Glauben und damit auf Jesus Christus als den Gegenstand und Grund des Glaubens so festlegen läßt, daß er mit der taufenden Gemeinde unwiderruflich zu dem einen Leib Christi geeint ist.
These 3,3:
Der Glaubende ist durch die Taufe unwiderruflich von der Sünde getrennt, von der er allein durch seinen Glauben getrennt wird.
These 3,4:
In der Taufe ereignet sich die Unwiderruflichkeit christlichen Seins als Unerläßlichkeit christlichen Tuns.
These 3, 5 – eine Anmerkung:
Der Glaube an ein das christliche Tun beurteilendes Gericht nach den Werken ist ein eschatologischer Vorbehalt gegen ein sakramentales Verständnis der Taufe.
Für einen Vortrag vor der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden, die vom 14. bis 18. April 1969 tagte.
Quelle: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, 96. Jahrgang, hrsg. v. Joachim Beckmann, Gütersloh 1971, S. 28-30.