Friedrich Wilhelm Hopf, Wer war Hermann Sasse?: „Im August 1949 wanderte er mit seiner Familie nach Australien aus, wohin ihn die dortige Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche an ihr Theologisches Seminar in North Adelaide berufen hatte. Hinter dem Abschied von Erlangen stand Sasses Protest gegen den Anschluß der Evangelisch-Lutherischen Kiche in Bayern an die von ihm als unionistisch abgelehnte „Evangelische Kirche in Deutschland“ (1948). Von Australien aus hat er vor allem durch seine „Briefe an lutherische Pastoren“ wie auch durch eine umfangreiche Korrespondenz das kirchliche Gesche­hen in Deutschland bis zu seinem Heimgang am 9. August 1976 mit innerster Teilnahme begleitet.“

Wer war Hermann Sasse?

Von Friedrich Wilhelm Hopf

Im Frühjahr des Revolutionsjahres 1933 wurde er Professor an der Universität Erlangen, deren Theologische Fakultät damals noch durch ihren auch staatlich anerkannten lutherischen Cha­rakter geprägt war. Sasses Lehrauftrag umfaßte Kirchen- und Dogmengeschichte sowie das weite Gebiet der Konfessionskunde. Im August 1949 wanderte er mit seiner Familie nach Australien aus, wohin ihn die dortige Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche an ihr Theologisches Seminar in North Adelaide berufen hatte. Hinter dem Abschied von Erlangen stand Sasses Protest gegen den Anschluß der Evangelisch-Lutherischen Kiche in Bayern an die von ihm als unionistisch abgelehnte „Evangelische Kirche in Deutschland“ (1948). Von Australien aus hat er vor allem durch seine „Briefe an lutherische Pastoren“ wie auch durch eine umfangreiche Korrespondenz das kirchliche Gesche­hen in Deutschland bis zu seinem Heimgang am 9. August 1976 mit innerster Teilnahme begleitet.

Der am 17. Juli 1895 zu Sonnewalde (Kreis Luckau/Nieder­lausitz) als Sohn eines Apothekenbesitzers Geborene brachte schon in sein Erlanger Lehramt den reichen Ertrag entscheidungs­voller Jahre mit. An der Universität Berlin hatte er sich als hoch­begabter Schüler berühmter Gelehrter ausgezeichnet, u. a. durch eine Promotion (1923), der die Habilitation auf dem Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft folgen sollte. An der Westfront des Ersten Weltkrieges, durch den sein Studium unterbrochen wurde, hatte er unter tiefgreifenden Erfahrungen — wie er spä­ter oft betonte – die grundlegende Erkenntnis Martin Luthers gewonnen, „daß es mit dem Menschen nichts ist und er also ler­ne, an sich selbst zu verzagen und auf Christum zu hoffen.“ „Karl Barths machtvoller Ruf von der subjektiven Religion zum objek­tiven Worte Gottes“ packte auch ihn, als der aus dem Krieg Heimgekehrte ins geistliche Amt ging mit der Frage: Was soll ich predigen? „Mit dem Worte Gottes aber wurde das Bekenntnis der Kirche lebendig, und die Männer wurden wiederentdeckt, die in der Erweckung des 19. Jahrhunderts die Wendung zu Schrift und Bekenntnis erlebt hatten, darunter die Großen, die in der Kirche ihrer Zeit einsame Männer blieben wie August Vilmar und Wil­helm Löhe“.

Sasses innerer Werdegang vollzog sich bei stets intensiv fort­gesetzten wissenschaftlichen Studien und Forschungen im leben­digen Kontakt mit seiner Umgebung in Kirche und Welt. Dazu gehörte sein gewissenhafter Dienst im Gemeindepfarramt zu­nächst in Templin, seit 1921 in Oranienburg, seit 1928 in Berlin an der St. Marienkirche. Ein Studienjahr in den Vereinigten Staa­ten (1925/26) vermittelte ihm tiefe Einblicke in amerikanisches Kirchentum. Die Teilnahme an der ersten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung (Lausanne 1927) als Mitglied der deutschen Delegation, bei deren Verhandlungen er Dolmetscher in Englisch wie in Französisch war, deren deutschen amtlichen Bericht er herausgab und deren Fortsetzungsausschuß er angehör­te, führte ihn für viele Jahre in den starken Strom internationaler Verbindungen und verantwortlicher ökumenischer Zusammenar­beit.

Als Berliner Sozialpfarrer wurde er gleichzeitig ein scharfer Beobachter der geistigen, politischen und sozialen Mächte der Zeit. Die wenigen von ihm herausgegebenen Bände des „Kirchli­chen Jahrbuchs für die evangelischen Kirchen Deutschlands“ (1931—1934) zeigen seine Meisterschaft, die „Kirchliche Zeit­lage“ auch im Blick auf die politischen Mächte der Zeit darzu­stellen und zu beurteilen.

Professor Sasse kam nach Erlangen als bewußter Lutheraner aus dem Kirchendienst der altpreußischen Union. Ihre Überwin­dung durch eine echte konfessionelle Erneuerung war je länger desto mehr eins seiner größten Anliegen geworden. Ein Kirchen­tum, das einander widersprechende Bekenntnisse ebenso umfaßt wie gegensätzliche „Richtungen“ und kirchenpolitische Parteien, hat Sasse immer schärfer kritisiert und immer entschiedener be­kämpft. Gleichzeitig ist er aber stets eingetreten für eine echte, „denkbar engste Konföderation der aus der Geschichte der Re­formation erwachsenen Konfessionen, ohne daß diese Konfessio­nen aufgehört haben, Bekenntniskirchen zu sein.“

Wie in Deutschland so ging es ihm auch in der Ökumene um eine „auf den Grundsätzen strengster Wahrhaftigkeit aufgebau­te Konföderation“. Alle seine durch dieses große Anliegen be­herrschten wissenschaftlichen Arbeiten waren ebenso wie seine Kämpfe an vielen Fronten zutiefst seelsorgerlich begründet. Sein ganzes Lebenswerk galt der Bezeugung des seligmachenden Evan­geliums und der heiligen Sakramente in unverkürzter biblischer Reinheit.

Im Rückblick auf das theologisch-kirchliche Lebenswerk die­ses Mannes erkennt man drei Schwerpunkte, die aus der fast unübersehbaren Fülle seiner Forschungen und dem nahezu unbegrenzten Umfang seiner Kenntnisse hervorragen. An erster Stelle steht bei Sasse das große Ringen um die Bedeutung des 7. Artikels der Confessio Augustana von der wahren Einigkeit der Einen Heiligen Christlichen Kirche. Wie ihm persönlich ge­rade dieses Zeugnis zu einem hochtröstlichen Artikel seines Glau­bens geworden war und allezeit geblieben ist, so fand er hier die biblisch begründete Wegweisung für ganz konkrete Folgerungen und Forderungen sowohl in allen konfessionellen Auseinander­setzungen wie in vielen Beiträgen zur ökumenischen Bewegung, wobei der römisch-katholischen Kirche sein besonderes Inter­esse galt.

Weil sich für Sasse aus dem Zeugnis von der Einheit der Kir­che das Ringen um ihre wahre Einigung und der Kampf gegen falsche Unionen ergaben, wurde das heilige Altarsakrament der zweite beherrschende Schwerpunkt seiner Frömmigkeit, seiner neutestamentlichen Forschungen, seines Studiums der Kirchen- und Dogmengeschichte, ausgedehnt auf vielfache Feststellungen gottesdienstlich-liturgischer Zusammenhänge, angewendet auf die aktuellen Fragen nach Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft und in der Abwehr fragwürdiger neuer Konkordienversuche.

Der dritte Schwerpunkt, der Sasses theologische Arbeit vor allem in den letzten Jahrzehnten seines Lebens stark bestimmt hat, liegt in seinen leider unvollendet gebliebenen Studien zur Lehre von der Heiligen Schrift, bei denen ihn das göttliche Ge­heimnis ihrer Eingebung durch den Heiligen Geist ebenso be­schäftigte wie ihr geschichtlicher Charakter als Menschenwort, in dessen Grenzen das ewige Gotteswort eingegangen ist — wie der wahrhaftige Gottessohn für uns nur in den Grenzen seiner wahren Menschheit zu finden und zu fassen ist.

Im Gesamtbild des lutherischen Theologen und Kirchenman­nes Hermann Sasse würde ein charakteristischer Zug fehlen, wollten wir nicht beachten, wie scharf er das politische Gesche­hen in aller Welt ständig beobachtete und kritisch beurteilte. Die großen Lebensfragen der Kirche in Geschichte und Gegen­wart erkannte er stets auf dem Hintergrund entscheidender Be­wegungen und Herausforderungen im Leben der Völker, be­sonders unter dem Eindruck revolutionärer Umwälzungen. Seine berühmte Kritik am Nationalsozialismus ist hierfür das be­kannteste Beispiel (Kirchliches Jahrbuch 1932!). Der Artikel 24 des Parteiprogramms machte nach Sasses scharfsichtigem Urteil „jede Diskussion mit einer Kirche unmöglich“ — weil darin das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse zum Maß­stab für die Duldung der Kirche im Dritten Reich gemacht wird und weil andererseits die Lehre der Kirche — insbesondere die evangelische Lehre von der Erbsünde — eine permanente Belei­digung dieses Sittlichkeits- und Moralgefühls ist. Man muß diese Konfrontierung der biblisch-lutherischen Lehre mit der durch die Revolution von 1933 zur Herrschaft gekommenen Weltan­schauung vor Augen haben, um die im vorliegenden Band zu­sammengestellten Zeugnisse aus den Jahren nach 1933 in ihrer sowohl zeitgebundenen wie bleibend wegweisenden Bedeutung erkennen zu können. Hier steht der ökumenische Lutheraner Sasse im seelsorgerlichen Ringen um die Menschen seines eigenen Volkes, im Erleben und Erleiden einer revolutionären Zeiten­wende. Hinter allen aufregenden Ereignissen der politischen Tagesgeschichte und den tiefen Erschütterungen im Kampf be­kennender Kirchen stand in jenen Jahren für den Prediger Sasse stets die bange Frage nach der Entscheidung Gottes über das deutsche Volk. Schon im Frühjahr 1933 schrieb er:

„Die Völker werden von Gott gerufen. Sein Ruf, der die bis dahin geschichtslos Lebenden zur Geschichte beruft, macht das Nicht-Volk zu einem Volk. Er ruft die Philister und die Aramäer, die Assyrer und die Babylonier, die Ägypter und die Perser auf den Schauplatz der Weltgeschichte. Er hat die Völker der Urzeit gerufen zu den Anfängen menschlicher Geschichte, und er wird die Völker der Endzeit rufen zu der letzten, furchtbarsten Ge­schichte, die unsere Erde erleben wird. Er hat Israel, sein eigenes Volk, gerufen zu einer besonderen Geschichte, zum Heil und zur Warnung für alle Völker der Erde. Er ruft jedes Volk zu seiner besonderen Sendung, die Er allein kennt. Und wie sein Ruf zu dieser Sendung der Anfang einer Volksgeschichte ist, so bedeu­tet sein Verwerfungsurteil das Ende dieser Geschichte. Ist dieses Urteil über ein Volk gesprochen, dann vermag weder die Höhe seiner Kultur noch die Reinheit seiner Rasse den Untergang aufzuhalten, der am Ende jeder Volksgeschichte steht wie der Tod am Ende des Menschenlebens. Das ist nach christlichem Glauben das Geheimnis der Völker, ihres Werdens und ihres Vergehens…“

Und weiter:

„Es ist immer das größte Ereignis in der Geschichte eines Volkes, wenn ihm zum ersten Male das Evangelium gepredigt wird. Denn das bedeutet ja nicht nur, daß ihm eine neue Reli­gion gebracht wird, die sich als ein neues Einheitsband um die Glieder dieses Volkes schlingen kann — der Bußruf des Evan­geliums kann und muß sich auch in der Scheidung der Geister auswirken, ja, er kann sogar, wie die Geschichte mancher Aus­wanderungen um des Evangeliums willen zeigt, im äußersten Grenzfall zu einer Zerreißung des völkischen Zusammenhangs führen — , sondern es bedeutet, daß der Ruf Gottes wiederholt wird, daß Gott dies Volk an seinen vergessenen ,Beruf1 erinnert und daß er die Menschen auch dieses Volkes zu dem wahren, ewi­gen Gottesvolk beruft, das er aus allen Völkern der Erde sam­melt und das echtes, wirkliches Volk ist in einem viel höheren Sinne als jedes geschichtliche Volk, weil in ihm das Wesensgesetz des echten Volkes erfüllt ist: Ihr sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein“.

„Von hier aus wird klar, was das Dasein der Kirche in einem Volke bedeutet. Es bedeutet nicht, daß eine Institution da sei, die neben anderen nützlichen Kulturinstituten sich der Pflege des Innenlebens und der Erweckung der tiefsten seelischen Kräfte in diesem Volkstum annimmt. In ihr geht es nicht um die Erhö­hung und Verinnerlichung einer Volkskultur, sondern um die Existenz eines Volkes als Volk. Denn wenn das Dasein eines Vol­kes auf dem Rufe Gottes beruht, dann hängt Sein und Nicht­sein, Leben und Sterben des Volkes davon ab, daß dieser Ruf erneuert und gehört wird. Der Ort, wo das geschieht, ist die Kir­che. Und es ist buchstäblich eine Lebensfrage für jedes Volk, das einmal das Evangelium gehört hat, daß in seiner Mitte, verbor­gen vor den Augen der Welt und doch erkennbar an der Verkün­digung des reinen Evangeliums, die Kirche Christi sei, das Volk Gottes.“ (Jahrbuch „Auslanddeutschtum und evangelische Kir­chen“ 1933, abgedruckt als Heft 20 der Schriftenreihe „Be­kennende Kirche“, 1934).

Daß die im Nachlaß des Heimgegangenen unvermutet aufge­fundenen Manuskripte seiner Erlanger Predigten aus den Jahren nach 1933 hier in wortgetreuer Vollständigkeit vorgelegt wer­den können, ist vor allem den Bemühungen des treuen Sasse-Schülers Pfarrer Hans-Siegfried Huß in Würzburg zu verdanken. Es mag sein, daß einige Predigten fehlen, wie auch leider keine Predigten aus den Jahren 1945 — 1948 erhalten zu sein scheinen. Unsere Sammlung wurde ergänzt durch zwei gedruckt vorliegen­de Predigten und eine Reihe von Vorträgen vor Gemeinden. Als Herausgeber danke ich dem Martin Luther-Verlag für seine Be­reitschaft, der für viele verschollenen Stimme des Predigers Sasse erneut Gehör zu verschaffen. Zu danken ist besonders denen, die als Förderer dieses Buches ungenannt bleiben wollen. Gedankt sei Herrn Landesbischof D. Hermann Dietzfelbinger für das durch sein Geleitwort erneut bekundete tiefe Verständnis des ein­samen Confessors der lutherischen Kirche.

Wir hoffen auf Leser unter Predigern und Hörern des göttli­chen Wortes, die für die Verkündigung jenen Maßstab gelten las­sen, den Hermann Sasse vor 45 Jahren (im Kirchlichen Jahrbuch 1934, S. 15) zum Ausdruck brachte, als er schrieb: „Das Volk will, daß man ihm die Wahrheit sage über Gott und über den Men­schen und seine Sünde, über das Gericht und die Erlösung, über Tod und Leben. Es will die Wahrheit hören, die ganze, unge­schminkte, nicht hinter einer blumenreichen Rhetorik verhüll­te Wahrheit. Es verlangt vom Pfarrer, daß er mit seiner Person, mit seinem Leben dafür einsteht, daß das wahr ist, was er sagt. Es hat ein sehr feines, den Gebildeten, auch uns Theologen viel­fach abhanden gekommenes Gefühl dafür, ob der Mann, der da redet, wirklich glaubt, oder ob er nur zu glauben glaubt. Es ist erstaunlich, mit welchem Ernst das deutsche Volk, das echte, noch nicht zur Masse der Großstadt gewordene Volk, der Bauer, der Arbeiter an seine Kirche und an seinen Pfarrerstand die Frage nach der Wahrheit richtet. Solange aber aus dem Herzen des Vol­kes die letzten Fragen aufsteigen: die Fragen nach Gott und sei­nem Willen, nach seinem Gericht und seiner Vergebung, nach dem Erlöser, der auch die Sünde des nordischen Menschen und des deutschen Volkes am Stamme des Kreuzes getragen hat, nach der Gemeinschaft der Heiligen, die alle Volksgemeinschaft übersteigt, nach der Auferstehung des Fleisches, ohne die alle Rassetheorien im Materialismus enden müssen, und solange unser Volk auf diese Fragen nicht schöne, erbauliche Redensar­ten, sondern die Wahrheit hören will, so lange sage man uns nicht, das Volk habe an dogmatischen Fragen kein Interesse. Es versteht allerdings die Theologie nicht. Die soll es und braucht es auch nicht zu verstehen. Und es hat auch kein Interesse am Streit. Aber es hat alles Interesse an der Wahrheit, und es will nicht, daß die Kirche die Wahrheit, die sie zu verkünden hat, verrate und aufgebe.“

Quelle: Hermann Sasse, Zeugnisse. Erlanger Predigten und Vorträge vor Gemeinden 1933-1944, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Hopf, Erlangen: Martin-Luther-Verlag, 1979, S. 15-22.

Hier der Text als pdf.

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