Am Sarge Hans von Sodens. Traueransprache zu 1. Korinther 4,1-4
Von Rudolf Bultmann
Da verstirbt Hans von Soden am 2. Oktober 1945, als er sich im Gespräch mit Rudolf Bultmann befindet. Und dieser hält sechs Tage später die Trauerrede am Sarg.
So spricht der Herr: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von Dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen!“ (Jes. 54,10).
„Es spricht eine Stimme: ‚Predige!‘“ Und er sprach: ‚Was soll ich predigen?‘ Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras ist verdorret, die Blume verwelkt, denn des Herrn Geist bläst darin . . . das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unsres Gottes bleibt ewiglich!“ (Jes. 40,6-8).
So laßt uns denn, liebe Trauergemeinde, unser Leid unter das Wort unsres Gottes stellen. Wir wollen uns leiten lassen durch Worte des Apostels Paulus, denen einst auch die Gedanken des Entschlafenen gewidmet waren, 1. Korinther 4,1-4:
„Dafür halte uns jedermann, nämlich für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden.
Mir aber ist es ein Geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage.
Auch richte ich mich selbst nicht.
Ich bin mir wohl nichts bewußt, aber darinnen bin ich nicht gerechtfertigt.
Der Herr ist es aber, der mich richtet.“
Im Sinne des Entschlafenen, um dessen Sarg wir trauernd versammelt sind, wäre es nicht, wollten wir ausführlich vom Gang seines Lebens und von seinem Wirken reden. Wohl aber dürfen wir uns das Bild seines Wesens vergegenwärtigen. Dazu drängt uns der Schmerz um das, was wir mit ihm verloren haben und was wir doch festhalten möchten, indem wir es uns zum Bewußtsein bringen. Dazu drängt uns aber auch die Dankbarkeit für das, was uns in ihm geschenkt war und was, wenn unser Dank lebendig bleibt, auch als ein innerer Besitz lebendig bleiben wird.
Unser Dank! In tiefer Dankbarkeit denken wir seiner; wir alle, – seine Familie im engen wie im weiteren Kreise! Ihr galt seine liebende Sorge und Treue. – Seine Freunde! An ihren Schicksalen, ihren Freuden und Sorgen nahm er in immer lebendiger Güte und nie versagender Hülfe teil. – Seine Kollegen in Fakultät und Universität! An ihm hatten sie, solange und soweit seine Kraft reichte, einen Mitarbeiter von seltener Energie und steter Arbeitsfreudigkeit. – Seine Schüler! Ihnen war er ein väterlicher Lehrer, spendend aus dem Reichtum seines Wissens, seiner Bildung und Erfahrung. – Unsere hessische Landeskirche! Ihr geistiges Leben und ihre Ordnung lag ihm besonders am Herzen; ihr hat er viel Kraft geopfert, und ihre Aufbauarbeit beschäftigte ihn in der letzten Zeit noch besonders lebhaft und erfüllte ihn, wie wir sagen dürfen, noch mit besonderer Freude.
So stehen wir alle dankerfüllt an seinem Sarge. Aber unsere Dankbarkeit gilt nicht nur ihm, sondern soll sich darüber hinaus auf Gott, den Herrn richten, der ihn uns gab und der ihn wieder von uns nimmt. So erst gedenken wir seiner in seinem eigenen Sinne, wenn wir sprechen können: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!“ Denn für sich selbst wollte er nichts sein. Von sich selbst würde er unsern Blick weglenken auf den, in dessen Dienst er sich wußte.
„Dafür halte uns jedermann, nämlich für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse.“ Wir dürfen es dankbar als eine Gnade Gottes verstehen, daß wir dieses Wort des Paulus, mit dem der Apostel sich selbst charakterisiert, als eine Charakteristik des Entschlafenen hören können. Nichts anderes wollte er ja sein als „Christi Diener“. Wer ihn kannte, der weiß, wie sehr ihm jede Eitelkeit, jedes Streben, eine Rolle zu spielen, etwas aus sich zu machen, fern lag und seiner Vornehmheit als widerwärtig erschien. Sein Leben war Dienst, und zwar war er Christi Diener als „Haushalter über Gottes Geheimnisse“, d.h. Theologe. Daß er Theologe war, gab seinem Wesen das Gepräge. Er war Theologe, in dem sich der Gehorsam gegen die Forderung freier und rücksichtslos ehrlicher Wissenschaft mit der Liebe und Sorge für die Kirche, ihre Verkündigung und rechte Ordnung zu einer festen Einheit verband. Wie er Forscher und Lehrer war, so war er auch Prediger. Von dieser Linie wich er keinen Schritt in den Zeiten der Gefährdung und Bedrängnis, kampfbereit ebenso gegen irrige kirchliche Machtansprüche wie gegen antikirchliche und antichristliche Zeitströmungen. Ein stets schlagfertiger und frohgemuter Kämpfer und ein unermüdlicher Arbeiter, der von Schonung nichts wissen wollte und schwer darunter litt, als sein Leiden ihn zwang, den Umfang seiner Tätigkeit zu verkleinern. Aber so sehr das Kämpferische in seiner Natur ausgeprägt war, – er war sich bewußt, daß es die Geheimnisse Gottes sind, die der Theologe als Haushalter zu verwalten hat. Sein Kämpfertum war nicht Rechthaberei, die die eigene Meinung durchsetzen will, sondern es war getragen von der Ehrfurcht gegenüber den Geheimnissen Gottes und d. h. zugleich von dem Wissen um die Begrenztheit der eigenen Ansichten und deshalb von der Achtung der Ansichten anderer und von der Bereitschaft, von ihnen zu lernen. Nur wo er Unechtheit und den Versuch, die Freiheit zu fesseln und sich der offenen Diskussion nicht zu stellen, verspürte, war er scharf und unerbittlich.
„Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden.“ Er brauchte, so dürfen wir wiederum dankend sagen, solche Prüfung nicht zu scheuen. Denn Treue, absolute Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit – wir sahen sie in ihm vorbildlich verkörpert.
„Mir aber ist es ein Geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage“ – ein Wort, das ebenso von der größten Rücksichtslosigkeit des Apostels gegen sich selbst wie von größtem Stolze zeugt. Paulus redet so zu den Korinthern angesichts der Anklagen, die von gewissen Leuten gegen ihn erhoben werden, die ihn als Apostel verdächtigen und seine Ehre angreifen. Das Urteil der Gemeinde, das Urteil überhaupt eines menschlichen Gerichtstages ist ihm gleichgültig. Er leistet seinen Dienst in Treue, unbekümmert um Lob und Tadel, ob sein Weg dabei auch in schmerzliche Verkennung und bittere Stunden führt. „Denn“, sagt er, „wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesum Christum, daß er sei der Herr, wir aber eure Knechte um Jesu willen“ (2. Kor. 4,5). Die gleiche Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, den gleichen Stolz, die gleiche Erhabenheit über Lob und Tadel – wir sagen es dankend – kannten wir am Entschlafenen. Unbekümmert ging er seinen Weg im theologischen Streit und in den kirchlichen Kämpfen. Natürlich schmerzte ihn verkennende Kritik und erfreute ihn verständnisvolle Anerkennung. Aber er machte sich nicht abhängig davon und ging seinen geraden Weg ohne Rücksicht auf sich, ohne Rücksicht auf Menschen.
„Auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir wohl nichts bewußt; aber darinnen bin ich nicht gerechtfertigt. Der Herr ist es aber, der mich richtet.“ Des echten Stolzes Kehrseite ist die Demut. Die Erhabenheit über fremden Tadel und fremdes Lob bedeutet nicht Selbstrechtfertigung, hochmütige Einbildung eigener Vollkommenheit.
„Ich richte mich selber nicht“ – d.h., ich maße mir kein Urteil über mich selbst an, kein verdammendes, kein bestätigendes; ich lege das Urteil über mich in eine andere Hand, in die des Herrn. Das ist der Geist der Sachlichkeit und der Adel der Gesinnung, die wir – wir sagen es dankend – am Entschlafenen verspürten. Er war ein Mann fern allen Minderwertigkeitsgefühlen, sicher in seinem Auftreten, getragen vom Bewußtsein seiner Aufgabe und des ihm durch sie verliehenen Wertes, in der inneren Freiheit, die das gute Gewissen gibt. Er war der zugleich schlichte und vornehme Mann, der es nicht nötig hat, sich seiner selbst dadurch zu versichern, daß er sich ständig im Spiegel, sei es fremder Urteile, sei es eigener Reflexion, sehen muß, sondern der seine Sicherheit dadurch gewinnt, daß er auf den Herrn schaut, der ihn befreit und zu seinem Dienst berufen hat.
„Ich bin mir wohl nichts bewußt; aber darinnen bin ich nicht gerechtfertigt.“ Das ist die echte Demut des Menschen, der sich nicht einbildet, daß, wenn er sich nichts vorzuwerfen hat, Gott ihm seine Anerkennung nicht vorenthalten könne.
„Der Herr ist es aber, der mich richtet.“ Das ist echte Größe, sich vor Gott beugen zu können, und das ist echte Frömmigkeit, in Ruhe, ohne Hochmut und ohne Angst so sprechen zu können: „Der Herr ist es aber, der mich richtet.“ Aus dieser Quelle kam die gelassene Heiterkeit des Entschlafenen. Sie leuchtete nicht nur in seinen gesunden Jahren als ein belebender Humor oder als die offene Freude am Schönen in Kunst und Natur, und sie strahlte so besonders ergreifend in den letzten Jahren aus seinem Wesen. Wie schwer mußte gerade ein so aktives Temperament wie das seine an den Fesseln tragen, die ihm das Leiden auferlegte! Wie schwer mußte es ihm sein, seine Lehrtätigkeit und seine wissenschaftliche Forscherarbeit immer mehr einzuschränken und auf die Ausführung von Plänen zu verzichten, die einst zu dem Bilde seines Lebenswerkes, wie es ihm vorschwebte, gehört hatten! In diesen schweren Jahren verklärte die aus der Tiefe quellende Heiterkeit sein Wesen. Und wenn er es im Gespräch mit dem Freunde auch nicht verschwieg, daß ihm der Verzicht schwer wurde, – nie mischte sich in das Wort der Klage ein Ton der Bitterkeit. „Der Herr ist es aber, der mich richtet“ — das ließ er auch in dem Sinne gelten: Der Herr ist es, der mir nach seinem Urteil das Maß des Lebens und Wirkens zumißt.
Mit seiner Heiterkeit ging Hand in Hand seine große Güte, demselben Grunde entspringend. Auch in den Jahren des Leidens war die Geduld und Freundlichkeit, mit der er die Bitten oder Klagen anderer anhörte und in seinem Herzen trug, die gleiche wie einst in den gesunden Jahren. Und die gleiche war die immer rege Hilfsbereitschaft. Viel Zeit und Kraft, die eigener Arbeit hätte zugute kommen können, stellte er in den Dienst anderer.
So ist sein Bild in uns lebendig. Auch wir sollen freilich bedenken, daß wir am Sarge eines Mitmenschen, und sei es der uns vertrauteste gewesen, nicht zum richterlichen Urteil berufen sind. Der Herr ist es, der ihn richtet. Aber wir wollten uns ja auch nur zum Bewußtsein bringen, was wir an ihm hatten, und wir wollten danken! Und erkennen wir mit solchem Dank nicht gerade das Wort an, daß der Herr es ist, der ihn richtet? Denn wenn wir dankend uns sein Bild vergegenwärtigen, vergegenwärtigen wir uns damit nicht den Segen, mit dem der Herr sein Leben gesegnet hat?
„Dafür halte uns jedermann, nämlich für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden.
Mir aber ist es ein Geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage.
Auch richte ich mich selbst nicht.
Ich bin mir wohl nichts bewußt, aber darinnen bin ich nicht gerechtfertigt.
Der Herr ist es aber, der mich richtet.“
Wenn wir jetzt diese Worte als von dem Entschlafenen gültig noch einmal hören, dürfen wir dann nicht gleichsam als bestätigende Antwort jenes alte Gotteswort als über ihn gesprochen hören: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!“?
„Du sollst ein Segen sein!“ Das wird sich erfüllen durch manches gesprochene und geschriebene Wort des Entschlafenen, das weiter wirkt. In einer Taufpredigt hat er vor Jahren einmal das rührende Vertrauen des kleinen Kindes so charakterisiert, daß man deutlich versteht: Er will damit indirekt das Vertrauen des Christen beschreiben. Es ist ein Vertrauen, „das anmutet wie ein geheimes Wissen um eine höhere Macht und eine stärkere Liebe, als wir sie ihm bei aller Anstrengung, Hingabe und Zucht gewähren können, – wie eine stille Erinnerung an eine ewige Heimat, die ihm unverloren bleibt, während es seine Wanderung über die Erde antritt.“
Und er schließt mit Worten, die wir nun auf ihn selbst beziehen dürfen:
„Ja, welchem Leben bist du wohl gestorben, als du in das unsrige geboren wurdest, und welchem Leben wirst du einst geboren werden, wenn du einmal das irdische vollenden wirst?
Weiß nicht, woher ich bin gekommen,
Weiß nicht, wohin ich werd’ genommen, –
Doch weiß ich fest, daß ob mir ist
Eine Liebe, die mich nie vergißt.
Es ist nur Einer ewig und an allen Enden,
Und wir in seinen Händen.“
Amen.
Gehalten am 8. Oktober 1945.
Quelle: Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933-1945, hrsg. von Erich Dinkler und Erika Dinkler-von Schubert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984, S. 347-351.