Martin Luther über das Wort der Wahrheit (Sermo praescriptus praeposito in Litzka, 1512): „Mag einer noch so keusch sein, so menschlich, so gelehrt, mag er Er­folge haben mit Rücktritten zur Kirche, mag er Häuser bauen, seine Gewalt ausbreiten, ja mag er Wunder tun, Tote auferwecken, Dämonen austreiben: Jener allein ist ein Priester und Pastor, der ein Bote des Herrn der Heerscharen ist, d.h. ein Bote Gottes, der mit dem Worte Gottes dem Volke vorangeht, ihm dient zu dieser göttlichen Geburt.“

Über das Wort der Wahrheit (Sermo praescriptus praeposito in Litzka, 1512)

Anlässlich einer Bezirkssynode des Bistums Brandenburg zum 22. Juni 1512 (21. Mai 1515?) in das bischöfliche Schloss Ziesar einberufen, erbat Georg Maskov, Propst des Leitzkauer Prämonstratenserklosters, vom Wittenberger Augustiner und Theologieprofessor Martin Luther eine Predigt.

Von Martin Luther

Die größte und erste aller Sorge ist die — daß ich es doch mit Flammenschrift in eure Herzen schreiben könnte —, daß die Geistlichen zunächst vor allem das Wort der Wahrheit reichlich bringen. Der Erdkreis ist erfüllt, ja erfüllt bis zum Überfluß mit allem möglichen Unflat von Lehren, das Volk wird mit so viel Gesetzen, mit so viel Meinungen von Menschen, ja geradezu abergläubischem Zeug, überschüttet, gelehrt kann man schon nicht mehr sagen, daß das Wort der Wahrheit kaum noch leise wispert, ja an vielen Orten kaum nicht einmal mehr das. Und was kann da geboren werden, wo gezeugt wird mit Menschenwort, nicht mit Gotteswort! Wie das Wort, so die Geburt; wie die Geburt, so das Volk. Wir pflegen uns zu wundern, daß im Volke Christi so viel Zwist herrscht, Streit, Neid, Stolz, Ungehorsam, Aus­schweifung, Schlemmerei, und daß die Liebe ganz erkaltet, der Glaube erloschen, die Hoffnung entleert ist. Gebt es bitte auf, euch zu wundern. Das ist nicht verwunderlich, das ist unsere Schuld, Schuld der Prälaten und Geistlichen. Darüber sollte man sich vielmehr wundern, daß sie so blind sind, so pflichtvergessen, daß dieselben Leute, die mit dem Wort der Wahrheit zu dieser Geburt verhelfen sollten, mit anderem beschäf­tigt, mit Sorgen um die zeitlichen Güter überhäuft, dies eine ganz unter­lassen. Denn die Mehrzahl lehrt Fabeln und von Menschen Erdichtetes. Und da wundem wir uns noch, daß aus solchen Predigten solch ein Volk entsteht!

Wo gibt es heute einen Geistlichen, der nicht der Meinung wäre, es sei eine größere Sünde, wenn er der Fleischessünde verfiele, oder nicht genug betete, oder sich versieht beim Meßkanon, als wenn er das Wort der Wahrheit überginge oder nicht richtig auslegte! Denn diese Leute, mögen sie sonst gute und fromme Männer sein, irren sich. Sie meinen, es sei allein das Wort der Wahrheit, worin sie nicht sündigen könnten, während es doch geradezu das einzige ist, worin der Priester als Priester sündigt. In den übrigen Dingen fehlt er als ein Mensch; hier, wenn er das Wort unter­schlägt oder verfälscht, sündigt er wider sein Amt und als Geistlicher, das ist weit schrecklicher denn als Mensch. Was ist das für ein Schmerz! Hart und gefühllos gehen die Priester heute umher in ihrer Sicherheit, nicht nur, daß sie schweigen, sondern was sie auch immer aus ihren Backen auf das Volk herausblasen, das nennen sie Predigt und Lehre, geben sich keine Rechenschaft darüber, sind nicht von Furcht bewegt, ob es auch das Wort der Wahrheit ist, zur göttlichen Geburt bestimmt, oder nicht. Und sind doch allein um des willen, was sie sind: Priester und Geistlichkeit. Denn zu allem anderen braucht man keine Geistlichen.

Mag einer noch so keusch sein, so menschlich, so gelehrt, mag er Er­folge haben mit Rücktritten zur Kirche, mag er Häuser bauen, seine Gewalt ausbreiten, ja mag er Wunder tun, Tote auferwecken, Dämonen austreiben: Jener allein ist ein Priester und Pastor, der ein Bote des Herrn der Heerscharen ist, d.h. ein Bote Gottes, der mit dem Worte Gottes dem Volke vorangeht, ihm dient zu dieser göttlichen Geburt.

Darum, wenn ihr auf dieser hochwürdigen Synode vielerlei anordnet, wenn ihr alles gut regelt, aber hier nicht Hand anlegt, daß den Geist­lichen als den Lehrern des Volkes der Auftrag zuteil wird, daß sie das substanzlose Fabulieren lassen und sich mit dem reinen Evangelium und den heiligen Auslegern der Evangelien befassen, darauf bedacht sind und dem Volk mit Furcht und Zittern das Wort der Wahrheit verkündigen, schließlich auch die menschlichen Meinungen beiseite lassen oder sie wenigstens in sparsamer Auswahl beibringen und so treue Mitarbeiter Gottes werden bei dem Werke der göttlichen Geburt – wenn ihr, sage ich, das nicht mit größtem Fleiß betreibt, darum betet mit beständigem Ernst, dann kann ich euch frei im voraus sagen, daß alles andere nichts ist, daß wir vergeblich zusammengekommen, daß wir keinen Schritt vorangekommen sind. Denn hier geht es ums Ganze, hier fällt die Ent­scheidung über die rechtmäßige Reformation der Kirche, hier ist die Grundlage alles frommen Lebens.

So möge denn diese These feststehen: daß die Kirche nicht geboren wird und nicht bestehen kann nach ihrem Wesen, es sei denn aus und durch das Wort Gottes. Denn so heißt es: „Er hat uns gezeugt mit dem Wort der Wahrheit.“ (Jak 1,18)

Maxima et prima omnium cura est — atque utinam flammantibus atque ardentibus verbis id possem in corda vestra pertonare … —, ut sacerdotes primo omni verbo veritatis abundent. Scatet totus orbis, imo inundat hodie multis et variis doctrinarum sordibus: tot legibus, tot opinionibus hominum, tot denique superstitionibus passim populus obruitur magis quam docetur, ut verbum veritatis vix tenuiter micet, in multis vero locis ne scintillet quidem aliquando. Et quae potest esse nativitas, ubi verbo hominum, non Dei generatur? quale verbum, talis et partus: qualis partus, talis populus. Mirari nos solemus, tantam in populo Christi regnare discordiam, iram, invidiam, superbiam, inobedientiam, libidinem, gulam, penitusque frigere charitatem, fidem extingui, spem evacuari: desistite, quaeso, mirari. Non sunt ista mirabilia. Nostra haec Praelatorum et sacerdotum culpa est. Hi potius admirandi sunt, tarn eos esse, coecos, tarn sui officii oblitos, ut, qui verbo veritatis huic nativitati servire debuerant, aliis intenti rerumque temporalium curis suffocati penitus illud omittant: maior vero pars fabulas (ut dixi) docet et humana commenta. Et adhuc miramur, talibus verbis talem populum fieri?

… Quotusquisque sacerdotum est hodie, qui non maius peccatum dicat, si lapsus sit in peccatum camis, si non oraverit, si titubaverit in Canone, quam si verbum veritatis omiserit aut non recte tractaverit? Nam hi, alias boni et sancti viri, gravissime errant. Solum verbum veritatis est, in quo putant se non posse peccare, cum pene solum sit, in quo sacerdos peccet ut sacerdos. In ceteris sane peccat ut homo: hic, si verbum omittit aut adulteratur, in officium suum et ut sacerdos, i.e. longe horribilius quam homo, peccat. Adeo, proh dolor! dure et insensate Pontifices hodie securi sunt, ut non modo tacuerint, sed quicquid tandem e bucca in populum spiraverint, hoc praedicasse ac docuisse appellitent, nullam prorsus rationem habentes, nullo timore commoti, an sit verbum veritatis, ad nativitatem divinam appositum, nec ne: pro quo tarnen solo sunt quicquid sunt, h.e. sacerdotes et clerus. nam in ceteris Omnibus non est opus sacerdotibus. … Sit alias castus, sit humanus, sit doctus, augeat redi- tus, aedificet domus, dilatet ditionem, denique faciat miracula, suscitet mortuos, eiiciat daemones: Ille sacerdos solum est et pastor, qui angelus Domini exercituum est, i.e. nuncius dei, h.e. qui verbo veritatis populo praeest, servit ad nativitatem hanc divinam … . Quare etiamsi in hac venerabili Synodo multa statueritis, si omnia bene ordinaveritis, et huc manum mator non apposueritis, ut sacerdotibus populi doctoribus mandetur, quatenus recisis fabulis, quae auctorem non habent, puro euangelio sanctisque euangeliorum interpretibus incumbant, Intendant populoque cum timore et reverentia verbum veritatis pronuncient, denique et doctrinas quascunque humanas omittant aut parce cum exposita diversitate earum admisceant, et sic ad nativitatem divinam cooperati fideliter fuerint: si, inquam, haec non curaveritis Studio summo, piis precibus, constanti serio, ego liberrime pronuncio, cetera omnia nil esse, frustra nos convenisse, nihil profecisse. Nam hic rerum cardo est, hic legitimae reformationis summa, hic totius pietatis substantia. … Stat fixa sententia, ecclesiam non nasci nec subsistere in natura sua, nisi verbo Dei. „Genuit“, inquit, „nos verbo veritatis“.

WA 1,12,11-13,40 (Sermo praescriptus praeposito in Litzka, 1512)

Übersetzung von Hans Joachim Iwand.

Quelle: Hans Joachim Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, TEH 75, München: Chr. Kaiser, 1941, S. 8-10.

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