Von Karl Barth
«Unsterblich» ist ein solches Wesen, das darum nicht sterben wird, weil es nach seiner besonderen Art gar nicht sterben kann, also auch nicht sterben muß. «Unsterblich» ist ein Wesen, das vom Tode nicht einmal berührt, geschweige denn ihm unterworfen ist. Die Frage, auf die ich hier kurz zu antworten habe, ist doch wohl die: ob und in welchem Sinn sich der Mensch als ein solches unsterbliches Wesen zu verstehen hat.
Daß ich hier auftragsgemäß «als protestantischer Theologe» reden soll, bedeutet, daß ich mich bei meiner Antwort an der Bibel zu orientieren habe. Und das bringt es mit sich, daß ich, soll ich hier mit gutem Gewissen reden, einiges aussprechen muß, was vielen von Ihnen, weil es manchen gewohnten Anschauungen zuwiderläuft, überraschend klingen mag.
Ob es Ihnen bekannt ist, daß das Wort «Unsterblichkeit» im Alten Testament überhaupt nicht, im Neuen nur zweimal vorkommt? Schon das ist doch sehr auffallend. Und der Sinn, in welchem es an diesen zwei Stellen gebraucht wird, ist es noch viel mehr. Es wird nämlich 1. Tim. 6,16 nicht vom Menschen, sondern von Gott gesagt, daß er Unsterblichkeit habe, und zwar daß er, der alleinige Machthaber, allein Unsterblichkeit habe. Gemeint ist offenbar: der Mensch hat sie nicht — weder als Ganzer noch in einem Teil seines Wesens, weder von Haus aus, noch daß er sie sich so oder so verschaffen könnte. Auch unsterbliche Ideen und Werke des Menschen oder unsterbliche Nachwirkungen besonderer Menschen sind da offenbar nicht vorgesehen. Unsterblichkeit könnte dem Menschen (jedem Menschen!) gerade nur als ein Neues und Unverdientes zukommen: als ein freies Geschenk dessen, der sie allein hat, der allein wesenhaft unsterblich ist. Davon redet die andere in Frage kommende Stelle: 1. Kor. 15, 53. Von der Auferweckung der Toten als von einer neuen, freien Tat Gottes an allen Menschen ist dort die Rede, in deren Kraft ihr «Sterbliches» (sie selbst als die ganz und gar Sterblichen, die sie sind) Unsterblichkeit als ein ihnen vorher und an sich gar nicht eigenes Kleid «anziehen» werden.
Wir müssen der Tatsache ins Gesicht sehen: der Mensch an sich und als solcher ist mit allem, was er ist und ausrichtet, nach dem Zeugnis der Bibel sterblich und also gerade nicht unsterblich. «Sterblich» heißt: er existiert innerhalb, nicht außerhalb der ihm gesetzten zeitlichen Frist: wie nicht vorher, so auch nicht nachher, nicht über das ihm gesteckte Ziel hinaus, das in seinem Sterben sichtbar wird. Über sein Sterben hinaus ist wohl der unsterbliche Gott — aber eben dieser ganz allein des Menschen Jenseits, seine Zukunft, seine Hoffnung. Wäre Gott nicht auch in seinem Sterben und also in seinem Ende vor ihm, so hätte er gar nichts mehr vor sich, so wäre es, indem er stirbt, nur eben aus mit ihm. Daß alles Fleisch wie verdorrendes Gras und seine ganze Pracht wie die welkende Blume des Feldes ist, wäre dann das Letzte, was von ihm zu sagen ist. Aber auch, was Gott dann, wenn seine zeitliche Frist abgelaufen ist, für ihn sein wird, wird sich haargenau eben auf sein Dasein innerhalb dieser Frist beziehen. Gott wird dann das Jenseits seines Diesseits sein: die Zukunft eben dessen, was er in dieser seiner Gegenwart jetzt und hier ist, dann aber, wenn er stirbt, nur noch gewesen sein wird — die Hoffnung, die über diesem seinem befristeten, nun abgeschlossenen Dasein als solchem leuchtet. Es wird dann von Gott her darum und nur darum gehen, daß dieses sein Sterbliches Unsterblichkeit anziehe.
Man hat diese klare, harte und — wenn man sie recht versteht — sehr tröstliche Sicht auch in der christlichen Kirche schon in alter Zeit damit abschwächen wollen, daß man des Menschen Sterblichkeit auf seine physische Natur, auf seinen Leib beschränkte, seiner Seele aber Unsterblichkeit zuschrieb, das Sterben geradezu als die Befreiung der im Leib als in ihrem Kerker gefangengehaltenen Seele verstehen zu müssen meinte. Die hohe Denkwürdigkeit des von Plato unter dieser Voraussetzung so triumphal beschriebenen Todes des Sokrates steht außer Frage. Sie ist aber kein Grund, daran vorbeizusehen, daß die Bibel, wenn sie vom sterblichen Menschen (auch wenn sie von dessen Dasein vor seinem Tode spricht), den einen, ganzen Menschen vor Augen hat: seine Seele, d. h. sein besonderes Leben als dieser und dieser Mensch, das von seinem Leib wohl zu unterscheiden, aber gerade nicht zu trennen, wie denn auch sein Leib von seiner Seele wohl zu unterscheiden, aber nicht zu trennen ist. Die Bibel denkt und redet gewiß nicht materialistisch, aber auch nicht idealistisch, sondern, wenn man so will, realistisch. Gewiß interessiert sie sich aufs nachdrücklichste für des Menschen Seele — aber für die Seele des leiblich essenden und trinkenden, wachen und schlafenden, arbeitenden und kämpfenden, leidenden und sich freuenden, des leiblich jungen und alten Menschen: für sein Seelenleben, das aber gerade als solches das Leben seines Leibes ist. Eben in dieser Einheit und Ganzheit sieht sie ihn nun auch sterben, d. h. zum Ziel seines zeitlichen Daseins kommen, über das hinaus Gott allein sein Jenseits, seine Zukunft, seine Hoffnung ist. Nicht eine leiblos werdende Seele trennt sich da von einem seelenlos werdenden Leibe, sondern der eine ganze Mensch, der die Seele seines Leibes, aber auch der Leib seiner Seele ist (im Tode nur noch war!)steht jetzt an der Grenze, über die hinaus ihm keine Zeit und die zu überschreiten ihm kein Vermögen gegeben ist, kein leibliches, aber auch kein seelisches. Mit dem einen ganzen Menschen könnte es jetzt nur eben aus sein. Es wäre denn, daß jetzt der unsterbliche Gott für ihn, nämlich für sein nun abgeschlossenes Sein und Wirken in seiner Zeit, wäre und einträte! Es wäre denn, daß dieses Eintreten Gottes ihm Errettung aus dem Tode, ewiges Leben bringen und bedeuten sollte: nicht eine Verlängerung, sondern die Verewigung eben seines diesseitigen Lebens in seiner Einheit und Ganzheit, die Bekleidung des ganz und gar Sterblichen mit Unsterblichkeit.
Ich kann Ihnen aber, liebe Hörerinnen und Hörer, auch das nicht ersparen, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß sich nach der biblischen Sicht dieser Dinge gerade das durchaus nicht von selbst versteht, daß der unsterbliche Gott nicht nur des in seiner Einheit und Ganzheit sterblichen Menschen Jenseits und Zukunft, sondern eben auch seine Hoffnung ist, daß dieser Gott in seinem Tode für ihn eintreten, daß ihm also die ihm im Sterben allein bevorstehende Begegnung mit Gott Errettung aus dem Tode, ewiges Leben bringen und bedeuten wird. Nach dem biblischen, dem christlichen — einem auch in dieser Hinsicht realistischen — Verständnis des Menschen ist nämlich die Beziehung des Menschen zu Gott eine durch seine Überheblichkeit, Faulheit und Unwahrhaftigkeit (an der jeder Einzelne von uns seinen vollen Anteil hat) gebrochene, und zwar von uns her unwiderruflich und unwiederherstellbar gebrochene Beziehung. Ob der Mensch gut ist? In seinem Verhältnis zu Gott und damit notwendig auch in seinem Verhältnis zu seinem Nächsten bestimmt nicht! Wie werden wir da, wenn einmal nur eben Gott (der auch der Gott unseres Nächsten ist) unser Jenseits sein wird, mit unserem, dann endgültig abgeschlossenen Diesseits dastehen? Wie mit unserer Gegenwart, wenn nur noch er unsere Zukunft sein wird? Wird uns die uns dann allein bevorstehende Begegnung mit Ihm etwas anderes bringen und bedeuten können als die erschreckende Feststellung, daß wir uns in der uns gewährten zeitlichen Frist samt und sonders als unnütze Gesellen, ja als Gottes Feinde erwiesen haben, die als solche auch ihren Mitmenschen gegenüber nur versagen konnten? Wird Gott als unser einziges Jenseits, unsere einzige Zukunft da nicht selbstverständlich gegen uns sein? Und wird das nicht heißen, daß wir da von ihm verworfen, mit allem, was wir waren und taten, verloren sein, in und mit unserem Sterben als dem Ende unseres zeitlichen Daseins einem ewigen Tod verfallen werden? Plato hat es nicht so gesagt und so mancher andere ernste und tiefe Denker auch nicht. Ich kann aber nichts daran ändern und kann hier auch das nicht verschweigen, daß die Bibel es so sagt: daß des Menschen Sterblichkeit auch diese furchtbare Bedrohung — seine Bedrohung gerade von Gott als seinem Richter her — in sich schließt.
Was haben wir ihr entgegenzustellen? Von uns aus gar nichts! Ihr ist aber — ich halte mich nun auch darin an das Zeugnis der Bibel — von dem unsterblichen Gott selbst das entgegengestellt, daß er längst als der gehandelt und sich offenbart hat, der nicht gegen, sondern für den sterblichen Menschen ist: der in Jesus Christus selbst ein sterblicher Mensch geworden, in dessen Gehorsam als solcher den Bruch in des Menschen Beziehung zu ihm geheilt, in seinem Sterben als solcher des Menschen Schuld und ihre Folge: des Menschen, aller Menschen ewigen Tod auf sich genommen, von uns weggenommen, der den Menschen, diesen unnützen Gesellen, ja seinen Feind in dem allem geliebt, und zwar tätig, kräftig geliebt hat. Dieser ist der unsterbliche Gott: der eine, mit dem der Mensch es im Sterben zu tun bekommt. Dieser ist der Richter, dem er sein abgeschlossenes Dasein in seiner befristeten Zeit vorzuweisen hat. Dieser ist das Jenseits seines Diesseits, die Zukunft seiner Gegenwart. Dieser aber ist offenbar als sein Jenseits, als seine Zukunft, auch eines jeden Menschen Hoffnung. In dem einen Menschen Jesus Christus hat er ja auch ihn nicht verworfen, sondern erwählt, ist er ja gerecht und barmherzig auch für ihn eingetreten, hat er ja auch ihn schon vom Tode errettet, hat er ja auch sein Sterbliches, wie es auch war, angenommen und mit Unsterblichkeit bekleidet, hat er ja auch ihm ewiges Leben geschenkt — alles in freier unverdienter Gnade, aber alles in vollkommener und unerschütterlicher Wirklichkeit. Das ist die Position des unsterblichen Gottes dem sterblichen Menschen — und das bestimmt die Position des sterblichen Menschen dem unsterblichen Gott gegenüber. Es bestimmt sie zur Position der ganz erschrockenen, aber auch ganz zuversichtlichen, ganz ernsten, aber auch ganz freudigen Hoffnung: nicht auf unser unsterbliches Sein und Tun, wohl aber auf den, der allein Unsterblichkeit hat und zu vergeben hat, von dem sie uns aber auch schon zugesprochen, ja in dem Einen, der sein Sohn und unser aller Bruder ist, schon geschenkt ist.
Liebe Hörerinnen und Hörer, ich habe es in diesen letzten Sätzen versucht, Ihnen in Beantwortung der mir gestellten Frage in größter Kürze das Evangelium, d. h. die frohe Nachricht von dem zu bestellen, der eben als der Sohn Gottes und als unser aller Bruder von sich gesagt hat: «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.» Ob Sie etwas mit dieser Nachricht anfangen können? Eines ist sicher, daß eben der, der der Inhalt und Gegenstand des Zeugnisses der ganzen Bibel ist, an das ich mich hier halten wollte, etwas mit Ihnen anfangen kann, und wenn die rechte Stunde kommen wird, auch anfangen wird. «Als protestantischer Theologe», als der ich hier zu Ihnen reden sollte, hätte ich Ihnen diese Nachricht gewiß besser, als ich es jetzt getan — hätte ich Ihnen aber eine bessere Nachricht als diese auch zu dem Thema «Unsterblichkeit» nicht geben können. Nicht das Wort irgendeiner Theologie, wohl aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.
Rundfunkvortrag im Rahmen der Sendereihe „Unsterblichkeit“ des Radio-Studio Basel, gesendet am Montag, 8. April 1957.
Quelle: Norbert M. Luyten/Adolf Portmann/Karl Jaspers/Karl Barth, Unsterblichkeit, Basel: Friedrich Reinhardt o.J. [1957], S. 43-51.