Warum führt man den Kampf nicht auf der ganzen Linie? Der Fall Dehn und die ‚dialektische‘ Theologie
Von Karl Barth
Als im vergangenen Herbst die sogen. Deutsche Studentenschaft in Halle die Berufung Dehns auf den Lehrstuhl für praktische Theologie mit einem Exodus nach Jena oder Leipzig zu beantworten drohte, habe ich in den „Theol. Blättern“ (Nr. 12, 1931) zusammen mit dem Herausgeber K. L. Schmidt und einigen anderen Kollegen die Erklärung abgegeben, daß ich „mit D. Dehn persönlich und sachlich solidarisch“ sei. Ich habe bis jetzt gezögert, mich an der weiteren öffentlichen Aussprache über die Angelegenheit zu beteiligen: sie hat von Anfang an eine politische, um nicht zu sagen hochpolitische Note gehabt und ich muß mit der verständlichen — wenn auch vielleicht nicht letztlich verständigen — Empfindlichkeit derer rechnen, die einen geborenen Schweizer, sobald die deutschen politischen Dinge zur Diskussion stehen, jedenfalls wenn er nicht ihrer Ansicht ist, von vornherein unwillig anzuhören geneigt sind. Aber der Fall Dehn hat eine Entwicklung genommen, die mich veranlaßt, diese Hemmung fallen zu lassen und jene frühere Erklärung hiermit in aller Form zu wiederholen und kurz zu kommentieren. Mein inzwischen entstandenes Anliegen gegenüber den sämtlichen Gegnern Dehns: Von den in der gallischen Universitätszeitung“ schreibenden, dichtenden und Karikaturen zeichnenden Kommilitonen bis zu den dieser Jugend (in der D. A. Z. vom 31. Januar 1932) geradezu ihre Dankbarkeit erklärenden Theologieprofessoren Hirsch und Dörries in Göttingen, ist kurz gesagt dieses:
1. Sollten sie ihren Streit, wenn sie denn meinen streiten zu müssen, nicht auf viel breiterer Front führen, d. h. aus dem tumultuarischen und in seinen Einzelheiten nachgerade immer unwürdigeren Streit gegen den einen Dehn einen Streit gegen die „irgendwie“ hinter ihm stehende sogen, „dialektische“ Theologie werden lassen?
2. Müßten sie diesen wesentlichen Streit, den Streit um die ernsthaft zur Diskussion stehende Sache nicht auch wesentlich anders führen, als dies bis jetzt von hoch und niedrig geschehen ist, d. h. müßte er nicht von allen, denen es Ernst ist mit ihrem Streit, dort geführt werden, wo er entsprungen ist und wo er auch allein zum Austrag kommen kann: auf dem Boden der theologischen Wissenschaft?
Ich hoffe immer noch, daß man auch dem geborenen Schweizer — er ist nun immerhin auch zehn Jahre lang dabei gewesen — wenigstens diese Fragen erlauben wird.
Erstens: Der Feind heißt nicht nur Günther Dehn
Der Magdeburger Vortrag von D. Dehn deckte sich, wie Dehn sofort bei der ersten Drucklegung sichtbar gemacht hat, in wichtigen Bestandteilen sachlich und ein Stück weit sogar wörtlich mit Ausführungen, die ich in meiner Vorlesung über theologische Ethik zuerst im Sommersemester 1928 in Münster, dann im Sommersemester 1930 hier in Bonn vor einem zahlreichen Auditorium vorgetragen hatte. Gerade die in Dehns Vortrag am schmerzlichsten ausgefallenen Äußerungen über den Zusammenhang zwischen Mord, Todesstrafe, Notwehrtötung und Krieg sind (als Teilstück einer Erörterung über die Problematik der Lebenserhaltung und Lebenszerstörung) auch bei mir (und so zuerst bei mir) gefallen. Merkwürdigerweise hat sich in den betreffenden Kollegstunden (die Vorlesung wurde hier in Bonn vor rund 250 Zuhörern gehalten, unter denen sich, wie ich weiß, auch genug Nationalsozialisten und ähnlich Gesinnte befanden) kein Fuß gerührt, und auch nachher ist keinerlei Protest zu meinen Ohren gedrungen. Warum in Magdeburg und seither in Heidelberg und Halle und nun in halb oder ganz Deutschland die Aufregung über Dehn, der ja erst noch allerhand möglicherweise Provozierendes, das sich in meinem Manuskript fand (z. B. eine Erwägung über das „Gebet von Leuthen“), nicht vorgebracht und aus Eigenem so harmlose Dinge wie z. B. die doch gewiß diskutierbare Sache mit den kirchlichen Kriegergedächtnistafeln hinzugetan hatte? Es ist doch klar, daß Dehn, was er gesagt hat, aus einem bestimmten theologischen Gedankengang heraus gesagt hat, und zwar, wie ja jeder Kundige wissen kann, aus dem theologischen Gedankengang, der im Entscheidenden auch der meinige ist. Der wirklich nicht in freundlicher Absicht geschriebene und massenhaft verbreitete Artikel von Dehns Amtsvorgänger Geheimrat Eger in Halle (Preuß. Kirchenzeitung, Nr. 24, 1931) und ein speziell gegen mich sehr aggressiver Vortrag, den der Philologe Professor Otto Hoffmann in Münster am 14. Januar gehalten hat (vgl. „Westfäl. Landeszeitung“ Nr. 15, 1932, und „Münstersche Zeitung“ Nr. 15, 1932) haben jedenfalls das Gute, den Finger auf den Punkt gelegt zu haben, auf den es zunächst ankommt: es geht und es muß gehen um die von Dehn vertretene Theologie, für die sich erfreulicher- oder unerfreulicherweise neben einigen anderen der Spitzname der „dialektischen“ oder der „Theologie der Krisis“ nun einmal durchgesetzt hat. Es handelt sich, wie hier nicht ausführlicher dargelegt werden kann, um den Versuch, Kirche und Evangelium im Gegensatz zu den beiden bisher maßgebenden Richtungen evangelischer Theologie von ihrem in der heiligen Schrift dokumentierten Grund und Gegenstand statt von der christlichen oder sonstigen Frömmigkeit der jeweiligen Gegenwart her zu verstehen. In den Kreis dieses Versuches gehört auch Dehns Magdeburger Vortrag; von da und nur von da aus sind auch seine vielen so anstößigen Einzelheiten zu verstehen. Nicht jeder auf diesem Boden stehende Theologe wäre in der Lage, alles gerade so zu sagen, wie Dehn es dort gesagt hat. Man kann aber als Theologe nicht auf diesem Boden stehen, ohne, wie man auch Dehns Vortrag im einzelnen wissenschaftlich beurteilen möge, bekennen zu müßen, daß Dehn nichts gesagt hat, was nicht für uns alle mindestens erwägenswert wäre, daß man mindestens seinen entscheidenden Voraussetzungen, aus denen er in seiner Weise die Folgerungen gezogen hat, zustimmen muß.
Die Dinge liegen also so, daß es schlechterdings keinen Sinn hat, gegen Dehn als einen doch vielleicht kleineren Dieb in der Weise, wie es geschehen ist und immer wieder geschieht, vorzugehen, alle anderen aber und besonders die in Betracht kommenden großen Diebe laufen zu lasten, nur weil sie das Glück haben, nun nicht gerade diesen Dehnschen Magdeburger Vortrag gehalten zu haben. Wer in das „Burschen heraus!“ gegen Dehn einstimmt, der soll sich, wozu er ja nun auch durch Geheimrat Eger und Professor Hoffmann aufgefordert ist, klar machen, daß der Feind, den er meint und gegen den er schlagen muß, nicht nur Günther Dehn heißt, sondern landauf, landab auf allerlei Kanzeln und Kathedern mehr oder weniger typisch vorhanden ist.
Es ist, wie mir scheint, auch von den Gegnern Dehns her gesehen, wenig sinnvoll und, man darf wohl auch sagen: nicht gerade ritterlich, sich immer wieder auf den einen Mann zu stürzen. Warum führt man den Kampf nicht, wie es sich gehört, auf der ganzen Linie?
Warum hat man mich in Münster und Bonn explizite (und teilweise sogar urbildlich) dasselbe sagen lassen, was Dehn sagte, ohne an die Veranstaltung solcher Szenen, wie man sie ihm bereitet hat, auch nur zu denken?
Ich möchte ja die Hallenser Aufgeregten wirklich nicht geradezu einladen, ihren Wirkungskreis im Sommer zur Abwechslung nach Bonn zu verlegen. Ich möchte aber wohl wissen, wie viele von ihnen sich über die von Geheimrat Eger angedeuteten und von mir hiermit offen anerkannten Zusammenhänge im klaren sind und welches nun eigentlich die Pointe ihres Kampfes gegen Dehn ist, wenn sie sich sagen müssen, daß Dehn vielleicht gar nicht am schlimmsten das ist, was sie mit ihrem Kampf treffen wollen?
Die Frage richtet sich aber doch auch an die der Jugend so dankbaren Göttinger: Warum machen sie, die es wissen müßten, diese ihre Parteijugend nicht aufmerksam auf die Tragweite, auf den ihr verborgenen Sinn ihres kriegerischen Unternehmens? Wie ist es möglich, daß auch sie, die doch selber Theologen sind, wie gebannt auf ein paar Sätze von Dehn Hinschauen und losschlagen können, als wüßten sie nicht, daß Dehn unter Voraussetzung seiner Theologie ungefähr so reden muß, wie er redet, und daß darum dec einzig würdige Gegenstand solch schwerer Angriffe, wie auch sie sie führen, eben diese Voraussetzung sein müßte?
Zweitens: Sei es denn leidenschaftlich, aber wissenschaftlich!
Wenn die alten und jungen Gegner Dehns diese meine erste an sie zu richtende Bitte erfüllen würden, dann müßten sie gewiß von selber offen werden auch für meine zweite Frage. Wenn der im Falle Dehn gemeinte, aber eben bloß gemeinte Kampf zu einem Kampf gegen die „dialektische“ Theologie werden würde, dann müßten sich die Streiter doch wohl — und geschähe es auch noch so dilettantisch — aufrichtig bemüht auf das Gebiet der theologischen Wissenschaft begeben. Das will sagen: es müßten dann die inkriminierten Sätze Dehns, z. B. seine Lehre von dem Zusammenhang zwischen Notwehr und Krieg oder der in seiner Verteidigungsbroschüre getane Ausspruch vou der „dämonisierten“ Jugend oder sein schrecklicher Vorschlag: Kriegergedächtnistafeln besser anderswo als gerade in Kirchen anzu- bringen, einmal auf ihren Sinnzusammenhang in Dehns Vortrag selber, sodann auf ihre Gründung in der ihm eigentümlichen Theologie, und es müßte endlich diese Theologie als solche auf ihren Wahrheitsanspruch geprüft werden. Nur auf diesem Umwege gewonnen, könnte ein negatives Urteil über Dehns Vortrag oder Broschüre den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Von den mir bekannten, negativen Beurteilungen Dehns iss keine—ich sage mit Bedacht keine und meine also auch die Voten der Professoren Eger, Hirsch und Dörries — auf diesem Umwege gewonnen. Haben sich etwa die ersten über Dehn Entrüsteten, jene Damen und Herren in Magdeburg, auch nur im Geringsten, auch nur um den Sinnzusammenhang von Dehns Vortrag bemüht? Der damalige Streit ging nachweislich von Anfang bis zu Ende um einige aus dem Zusammenhang gerissene Schlagworte. Das Fatale war, daß die Sache genau so weiterging: mit der Erinnerung an jene Schlagworte hat Gottfried Traub in seinen „Eisernen Blättern“ den Heidelberger Fall Dehn in Szene gesetzt, mit ihnen und nur mit ihnen ist dann auch in Heidelberg gearbeitet und Dehns Berufung hintertrieben worden, von ihnen nährte sich die schon in den Herbstferien einsetzende Opposition der Hallenser Studenten, auf Schlagworte, und nur auf Schlagworte ist endlich auch Dehns Verteidigungsbroschüre abgesucht und aufs neue gegen ihn verwendet worden.
Es liegt ein Rauhreif von Barbarei über diesem ganzen Schlachtfeld. Muß das so sein?
In der eingangs erwähnten Halleschen Universitätszeitung (Nr. 4) sendet sich u. a. ein Stück „Aus einer Rede an deutsche Studenten“ (!) von Adolf Hitler. Sie endigt wörtlich wie folgt:
„Wenn der Theoretiker sagt, die NSDAP, sei eine oberflächliche Partei, dann kann ich ihm nur antworten: Sie sind eben nur Theoretiker. Es handelt sich im Augenblick um eine Feldschlacht und nicht um das Betreiben kriegswissenschaftlicher Studien. Da haben wir unsererseits keine Zeit, Menschen zu erziehen, die geistig hoch gebildet sind. Wir wollen die Überzeugung erwecken, daß der deutsche Freiheitsgedanke herrscht. Das ist unsere Aufgabe, nicht: Hinsetzen, um gerade jetzt geistige Vertiefung zu betreiben. Später ja, wenn wir im Besitz der Macht sind. Jetzt muß unsere Sorge sein, daß uns niemand die Macht nimmt. Da haben wir für theoretische Probleme kein Zeit. Die hatte das 19. Jahrhundert. Allerdings hat dieses Jahrhundert dann auch auf den Erfolg verzichten müssen.“ (Sperrungen nach Vorlage).
Nun, wenn die Ebene, auf der die Hallenser Studenten und ihre professoralen Verteidiger den Fall Dehn austragen wollen, wirklich diese sein sollte, so muß ich mich als auf den Mund geschlagen bekennen. Es muß dann wirklich so sein, daß es auch an der Universität, auch in der Theologie, an der Zeit ist, alle Argumente fahren zu lassen, alle Diskussionen abzubrechen und sich nach irgendwelcher mechanischen Bewaffnung umzusehen. Aber ich kann mir wirklich nicht denken, daß dies die Meinung der gegen Dehn streitenden Studenten und Professoren im Ernst sein sollte. Sie kann es nicht sein, wenn sie, was ich bis auf bessere Belehrung von jedem von ihnen annehmen möchte, als Theologen und Akademiker trotz Hitler noch einige andere Sorgen haben als die, „daß uns niemand die Macht nimmt“. Sie kann es nicht sein, wenn sie willens sind, dem Ärgernis, das sie an Dehn genommen haben, auf den Grund zu gehen und also sachlich zu werden, d. h. aber ihrem Zugriff theologischen Gehalt und wissenschaftliche Gestalt zu geben.
Und nun scheint es mir unmöglich, daß dieser anders, nämlich anders als ein Machtkampf zu führende wissenschaftliche Kampf gegen Dehn bzw. gegen die „dialektische“ Theologie nicht auch bei voller Lebendigkeit des uns gegenüber offenbar angebrachten Pathos von selbst ein Kampf um den Frieden, weil ein nicht nur gegen, sondern auch gemeinsam mit dem befehdeten Gegner geführter Kampf werden müßte. Wer sich bei seinem Streit gegen Dehn auch nur im geringsten und im Ergebnis noch so dilettantisch die Mühe gäbe, sei es denn leidenschaftlich, aber wissenschaftlich zu verfahren, der würde wohl bald merken, daß man auch in der Theologie nicht so von heute auf morgen ernsthaft mitreden und Schwarz von Weiß unterscheiden kann, wie es sich mancher Nicht-Theologe und mancher junge Theologe einbildet, daß es keine kleine Sache ist, einen zu recht oder unrecht nun einmal von Etlichen begangenen theologischen Gedankengang als Irrgang zu erweisen. Er müßte sicher bald zugeben, daß man sich dazu nun eben doch „gerade jetzt“ ein wenig „hinsetzen“ und zwar — nur schon um ihn zu verstehen — auch ein wenig zum Gegner „hinsetzen“ muß. Und er würde sicher mit der Zeit mindestens etwas stiller kämpfen in der Einsicht, wie schwierig es ist, z. B. für oder gegen die von Dehn vertretenen Sätze auch nur ein wirklich verständiges Wort zu sagen.
Ich darf noch einmal an die Tatsache erinnern, daß ich vor den Ohren auch von nationalsozialistischen Studenten ungestört und ohne in einen „Fall“ verwickelt zu werden, dasselbe gesagt habe wie Dehn. Kann diese Tatsache einen anderen Grund haben als den, daß es meinen Zuhörern — sie sind sicher auch nicht alle „dialektische“ Theologen geworden — offenbar wie mir selbst nicht um die Schlagworte, ohne die es ja auch nicht abging, nicht um meine deutlichen oder undeutlichen, angenehm oder unangenehm berührenden Stellungnahmen, sondern um das wahrhaftig schwere, wahrhaftig mit keinem Geschrei zu erledigende Studium der theologischen Ethik ging. Wir waren eben, so gut wir es konnten und verstanden an der theologischen Arbeit, eine Situation, die sowohl meine wie meiner Zuhörer politische Stellung nicht aufhob, wohl aber für den Augenblick zu einer weniger wichtigen Angelegenheit machte. Dürfte es nicht möglich sein, daß man auch zur Fortführung des Falles Dehn nun allseitig an die theologische Arbeit ginge und daß dabei aus der Fortführung eine Erledigung werden könnte? Dürfte nicht sogar der in dieser Sache offenbar besonders grimmige Kollege Hirsch in Göttingen mit mir einig darin werden, daß es an der Zeit wäre, diesen Streit aus dem Bereich der Straße auf ein unser aller und vor allem der evangelischen Theologie würdiges Niveau zu erheben? Ich fürchte, daß er und ich uns weder theologisch noch politisch je verständigen werden. Ich hoffe aber, daß sein und mein primäres Interesse der Theologie und nicht der Politik gehört.
Quelle: Frankfurter Zeitung, Nr. 122 vom 15. Februar 1932, S. 6.