Karl Barth über die Armut: „Der Reichtum ist nicht die Chiffre des Himmelreichs, nicht der Spiegel des ewigen Heils. Die Armut ist es. Denn Christus, in welchem das ewige Heil zu denen gekommen ist, die jetzt Reiche oder Arme sind, ist der arme Christus für uns arme, uns wahrhaft unvermögende und entbehrende Menschen: gerade so der Sieger, der alle Armen reich macht, aber nur so! In tiefer Herablassung ist Gott in der Höhe des Menschen Gott geworden. Der Mensch wird dieser seiner Herablassung schon folgen, er wird sich als Armer bekennen müssen, um in ihm reich zu werden.“

Armut

Von Karl Barth

Armut ist im bekanntesten Sinn dieses Wortes ein soziologischer Begriff. Er beschreibt den Zustand des Menschen, der aus diesem oder jenem Grund wirt­schaftlich schwach oder gar ohnmächtig ist und der darum, auf den freiwilligen oder sonstigen Beistand, anderer angewiesen, vieles, vielleicht auch Nötigstes von dem entbehren muß, was ihm, wäre er wirtschaft­lich stark, verfügbar wäre. Es gibt aber, immer noch auf demselben Vordergrund der Bühne menschlicher Existenz, auch noch anderes derartiges Unvermögen und Entbehren. Auch ein Reicher kann ein armer Kranker sein. Er kann auch an geistiger Armut leiden, im Verhältnis zu der dann wohl mancher wirtschaftlich Arme ein reicher Mann sein mag. Er kann in seinem seelischen Haushalt und im Verhältnis zu seiner Um­gebung bei allem Reichtum ein Armer sein, verglichen mit dem mancher wirtschaftlich Arme ein wahrer Krösus zu nennen wäre.

Ich bin hier nicht nach meiner, sondern nach der christlichen Ansicht von dieser Sache gefragt, schlage also die Bibel auf und stoße zunächst auf die fast ver­blüffend gleichmütige Feststellung, daß es Armut be­sonders in jenem gewöhnlichen soziologischen Sinn des Wortes auf jenem Vordergrund menschlicher Existenz, im menschlichen Leben jetzt und hier, immer gegeben hat und auch immer geben wird, wobei es allerdings in der Bibel auch an Bildern von solchem wirtschaftlichem Reichtum nicht fehlt, in dessen Besitzern und Ge­nießern man auf den ersten Blick in Wirklichkeit doch sehr «arme Leute» erkennt. Aber daß es hier in diesem oder jenem Sinn Reiche und Arme gibt, das erscheint in der Bibel durchweg als eine Art göttlicher Disposi­tion, von deren Bestand alles weitere Nachdenken je­denfalls auszugehen hat. Gerade wie hier auch mit dem Vorkommen von Krankheit, Krieg und anderer mensch­licher Gewalttat sehr nüchtern und ohne Erweckung von Vorstellungen einer wesentlich «besseren Zu­kunft» gerechnet wird. Man freue oder man ärgere sich nicht zu früh! Aber das ist der Ausgangspunkt, ohne den man hier nichts verstehen kann.

Um so mehr fällt das andere auf, was das Bild nun doch viel stärker beherrscht, nämlich die im Alten und im Neuen Testament gar nicht zu verkennende offene und scharfe Parteinahme für die Armut und für die Menschen, die in diesem Leben unter jener göttlichen Disposition so oder so, aber gerade und vor allem auch „wirtschaftlich Arme sind. Gibt es nach Gottes Ordnung auch Reiche, kann zu seinem Segen besonders nach dem Alten Testament auch dies gehören, daß er einem Menschen Reichtum verleiht, so steht er doch keines­wegs neutral zwischen den Reichen und den Armen. Er hält es — die Reichen mögen zusehen, was aus ihnen wird — mit den Armen.

Es gibt erstens keine Stelle in der Bibel, wo so etwas wie ein Recht des Reichen als solchen proklamiert, wo Gott als der Patron und Erretter der Reichen und ihres Reichtums erschiene, wo die Armen dazu aufgefordert würden, die Reichen bei ihrem Reichtum zu erhalten, zugunsten der Reichen nun eben Arme zu sein. Es gibt aber sehr viele biblische Stellen, wo das Recht der Armen proklamiert wird, wo Gott sich selber als Ga­rant und Rächer dieses Rechts erklärt, wo die Reichen dazu aufgefordert werden, das Recht der Armen nur ja nicht zu vergessen, zu beugen, zu brechen, wo ihnen gerade das zugemutet wird, nur zugunsten, zum Bei­stand der Armen Reiche zu sein. Die Grundsätzlich­keit, der Radikalismus der Bibel ist nach beiden Seiten unverkennbar.

Und es gibt zweitens keine Stelle in der Bibel, in der so etwas wie ein Lob des Reichtums angestimmt, in der die Reichen als solche als geborgen und erhoben erscheinen würden. Es gibt, aber sehr viele, in denen die Armen als solche selig gepriesen, Gottes Erwählte genannt, in denen «die Armen» gleichbedeutend ist mit «die Gerechten». Den Armen wird das Evangelium verkündigt, während umgekehrt die Reichen als solche oft genug in bedenklicher Nähe der mächtigen Un­rechttäter auftauchen, deren Hochmut nahe vor dem Fall ist. Sie sind durch ihren Reichtum mindestens schwer gefährdet. Gerade in ihrer Eigenschaft als Reiche werden sie (bekanntlich so wenig wie das Kamel durchs Nadelöhr!) auf keinen Fall ins Himmelreich kommen, sondern gerade dazu müssen sie selbst erst alles verkaufen und also Arme werden. Die Entschei­dung, die in der Bibel fällt, ist auch in dieser Hinsicht messerscharf: Dem Stand der seligen Armut steht wirklich kein Stand des seligen Reichtums gegenüber.

Das ist die Parteinahme der Bibel für die in diesem Leben Armen, Unvermögenden und Entbehrenden. Sie ist die Parteinahme dessen, der in der Bibel «Gott» heißt. Die christliche Stellungnahme zur Armut kann also schon nur in der entsprechenden Parteinahme be­stehen. Aber sie ist doch nur der Reflex, das Gleichnis, die Bezeugung einer viel umfassenderen Entscheidung. Man kann diese nicht erkennen und nicht an ihr teil­nehmen, wenn man sich etwa jener Parteinahme ent­ziehen wollte. Aber diese ist in der Tat nur die Be­zeugung einer umfassenderen Entscheidung. Wir ver­standen — und auch die Bibel versteht in den angedeu­teten Zusammenhängen — unter «Armut» das, was sich in diesem Leben, im Vordergrund der mensch­lichen Existenz, als wirtschaftliche oder sonstige Armut darstellt. Warum steht sie hier in jenem Licht, der Reichtum in jenem Schatten? — Man muß hier eine doppelte Antwort geben:

Einmal darum, weil die Armut vom Hintergrund der menschlichen Existenz, nämlich von Gottes kommendem Reich und vom künftigen Leben in ihm her gesehen, nicht zum natürlichen Bestand, sondern zum Übel dieses unseres gegenwärtigen Lebens gehört. Sie ist die vielleicht eklatanteste Folge der menschlichen Sünde. Gottes Disposition, auf Grund derer es jetzt und hier Reiche und Arme nebeneinander gibt, ist eine vorläufige Disposition. Sein kommendes Reich wird auch der Armut ein Ende machen. Wie sollte also, wo Gottes Wort jetzt und hier laut wird, dieses Ende nicht schon jetzt und hier angekündigt werden? Wie sollte Gott sich nicht schon jetzt und hier zu denen bekennen und stellen, die unter diesem Übel, das zum Verschwinden verurteilt ist, zu leiden haben? Wie sollte er den Armen nicht einfach darum, weil sie die jetzt und liier Armen sind, tröstend und ermutigend zu verstehen geben, daß gerade ihr Recht der Spiegel seiner ewigen Gerechtig­keit ist? Und was sollte er den jetzt und liier Reichen anderes zu verstehen geben als dies, daß ihnen das Recht der Armen, der jetzt und hier Unvermögenden und Entbehrenden heilig — um seines gerechten Gerichtes, um der kommenden Aufhebung der Armut willen heilig sein soll?

Die andere Seite dieser Sache ist diese: daß jetzt und hier, im Vordergrund der menschlichen Existenz nicht der Reichtum, sondern die Armut die Chiffre der Ge­genwart, des den Reichen wie den Armen verheißenen kommenden Reiches ist. Es ist ja nicht nur künftig, sondern auch schon gekommen. Christus ist ja geboren: des ewig reichen Gottes Sohn und in ihm gegen­wärtig die Fülle des Lebens für alle. Aber das Reich ist in Armut gekommen, gerade weil es wirklich zu uns Menschen gekommen ist, die wir — als Reiche oder Arme — im Verhältnis zu seiner Fülle alle arme, arme Menschen sind. Christus ist in der Armut des Stalles von Bethlehem geboren und, nackt ans Holz geschlagen, in der äußersten Armut gestorben. Er ist also der in dieser Welt Reichen, sondern der in dieser Welt Armen Genosse geworden. Darum preist er sie und nicht die Reichen selig. Darum ist er jetzt und hier immer bei den Hungernden, den Heimatlosen, den Nackten, den Kranken, den Gefangenen zu finden. Darum müssen sich die Reichen aller Art schon an die Armen halten, wenn auch sie sich zu ihm halten. Darum müssen sie, um selbst selig zu werden, selbst Arme werden, sich ihres Reichtums mindestens allen Ernstes schämen, dürfen sie sich nicht im geringe wundern, entsetzen und wehren, wenn sie ihn allmählich oder plötzlich sollten hergeben müssen. Der Reichtum ist nicht die Chiffre des Himmelreichs, nicht der Spiegel des ewigen Heils. Die Armut ist es. Denn Christus, in welchem das ewige Heil zu denen gekommen ist, die jetzt Reiche oder Arme sind, ist der arme Christus für uns arme, uns wahrhaft unvermögende und entbehrende Menschen: gerade so der Sieger, der alle Armen reich macht, aber nur so! In tiefer Herablassung ist Gott in der Höhe des Menschen Gott geworden. Der Mensch wird dieser seiner Herablassung schon folgen, er wird sich als Armer bekennen müssen, um in ihm reich zu werden.

Ein Wort des Paulus mag das alles zusammenfassen: «Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, daß er, obwohl er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet.» [2.Korinther 8,9] Das ist was christlich in Kürze zur Armut zu sagen ist.

Quelle: Atlantis – Länder, Völker, Reisen, 21. Jahrgang, Nr. 12, 1949, S. 501f.

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