Wie kein anderer „Vorfall“ war der Vortrag Günther Dehns „Kirche und Völkerversöhnung“ vom 6. November 1928 in der Ulrichskirche zu Magdeburg und der daran anschließende „Fall Dehn“ ein Seismograph für die nationalistische bzw. völkische Stimmung im deutschen Protestantismus vor Beginn der NS-Diktatur:
Kirche und Völkerversöhnung (Auszüge)
Von Günther Dehn
Wenn ich hier in dieser Versammlung, in einer Kirche, vor evangelischen Männern und Frauen ein Wort sprechen darf über Kirche und Völkerversöhnung, so darf ich voraussetzen, daß man von mir erwartet, daß ich über diese Dinge eben nur von christlichen Gesichtspunkten aus reden will. Man kann über Krieg und Frieden ja von den verschiedensten Standpunkten aus sprechen, vom kapitalistischen und proletarischen aus, vom nationalen und internationalen, man kann als Idealist sprechen und als Materialist, als Altruist oder als Utilitarist. Man kann auch von einem Mischmasch von Standpunkten her reden und mit einer Fülle von Argumenten, die von allen Ecken der Erde hergenommen sind, seinen Gegner zuzudecken versuchen. Das soll nicht geschehen, sondern es soll einfach so sein: wir alle sind doch, so verschieden wir im einzelnen denken mögen, in dem einen einig: wir möchten gern in der Gestaltung unseres Lebens den Willen Gottes erfüllen, wie er uns deutlich geworden ist in Jesus Christus. Das soll auch gelten in bezug auf die Frage, die uns hier vorgelegt ist. …
Jesus rechnet auch ohne Frage damit, daß Kriege sein werden bis zum Ende der Welt, das geht aus seinen Reden über den Weltuntergang deutlich hervor, aber freilich, wer spürt nicht die völlig andere Lebenssphäre, in der er und die Seinen leben? Wer will es wagen, Jesus und die Maschinengewehre zusammenzubringen, den Weg der Gewalt und ihn, der in völliger Gewaltlosigkeit durch das Leben ging, der sich wie ein Schaf zur Schlachtbank führen ließ, der nicht schalt, da er gescholten wurde? …
Wir werden den Schluß ziehen müssen, daß der Krieg in die Welt Gottes nicht mit hineingehört. Das ist jedenfalls die Meinung der Bibel.
Aber nun freilich erhebt sich eine andere Frage: Wie trifft uns diese Botschaft der Versöhnung, diese Botschaft des Friedens?
Die Botschaft Gottes trifft uns als Sünder. Wir sind Menschen, die tief hinein verflochten sind in eine Welt, die nicht die Welt Gottes ist, sondern die ihren eigenen Gesetzen folgt. Das sind aber die Gesetze einer von Gott gelösten, ganz auf sich und ihren eigenen Willen gestellten Welt. …
Das ist unsere Lage, in der Gegenwart tausendfach verschärft durch die ganze Welt der modernen Zeit. Alle Nationen sind heute beherrscht von einem gegen früher ins Vielfache gesteigerten Nationalgefühl. Fast überall sind die Söldnertruppen abgelöst durch die Volksbewaffnung, die auf der allgemeinen Wehrpflicht beruht. Das bedeutet Hineintragen des kriegerischen Geistes in alle Schichten des Volkes. Überall sind große Kreise der Industrie beteiligt am Wehrgeschäft und darum an der Aufrechterhaltung dieses kriegerischen Geistes. Und an allen Orten ist Überbevölkerung, ist es eine Lebensfrage der Nationen, sich Absatzgebiete zu verschaffen, Kolonien zu erwerben, Einflußsphären zu gewinnen, um die überschießenden Volkskräfte sinngemäß verwerten zu können und nicht zugrunde gehen lassen zu müssen. Das Ganze aber des Lebens steht im Bann einer Wirtschaftsordnung, die unablässig alles, was an Kräften im Menschen drinsteckt, herauszuholen sich bemüht, bei der alles auf den Kampf der Konkurrenz, auf Überholung und Niederwerfung des wirtschaftlichen Gegners abgesehen ist. Muß man nicht sagen: aus solcher Atmosphäre muß Krieg erzeugt werden, in diese Welt gehört der Krieg hinein? Er ist ja der durchaus sinngemäße Ausdruck ihres Wesens, er offenbart am deutlichsten den Geist, der unser Leben im Grunde doch allein beherrscht.
Aber nun steht die Botschaft über uns, die Heil und Frieden verkündigt, und die uns so deutlich sagt, daß das, was wir haben und sind, ganz gewiß dem Willen Gottes nicht entspricht, daß das abgefallene, sündige, gottfeindliche Welt ist. Ja, was sollen wir tun, wir, die wir den Willen Gottes erfüllen wollen und die wir doch auch zu dieser abgefallenen Welt gehören und ihren Götzen untertan sind? Wir wollen das tun, was ich im Anfang sagte: im Glauben stehn, im rechten evangelischen Glauben, und zugleich nüchtern die Welt der Wirklichkeit ins Auge fassen. Dann aber ist zu sagen:
Es ist nicht so, daß von der Botschaft des Evangeliums wirklich Verwandlungskräfte ausgingen, die die Welt anders machten. Wir werden selber nicht verwandelt in unserm persönlichen Leben, wir werden nicht Heilige im wirklichen und tatsächlichen Sinn, wir werden auch nicht die Ordnungen der Welt in wirkliche und tatsächliche Gottesordnungen umwandeln. Das ist tiefe reformatorische Erkenntnis, die wir uns nicht wieder nehmen lassen wollen. Unsere Rechtfertigung liegt nicht in unserem eigenen Wesen, sondern unsere Rechtfertigung liegt ganz allein im Urteil Gottes. Welt bleibt Welt, hat Luther immer wieder gesagt, und wir wollen dabei bleiben, damit wir nicht den Boden der Wirklichkeit unter unseren Füßen verlieren und in die Schwärmerei hineinkommen. …
Wenn wir das Reich Gottes auch nicht haben, und wenn die Verwandlung aller Dinge auch ganz gewiß nicht in unsere Hand gegeben ist, so ist die Botschaft von der Verwandlung aller Dinge doch da, so heißt es doch immer noch: das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Wir wissen um den Willen Gottes, wir wissen, daß er das Reich des Friedens aufrichten will, und dieser sein Wille darf nicht verklingen in liturgischem Festgeläut, er darf nicht der Umdeutung ins Geistig-Ungefährliche durch kluge Theologenweisheit verfallen, er darf nicht zu einer Privatangelegenheit des einzelnen gemacht werden, vielmehr Gottes Wille soll die Wirklichkeit des Lebens treffen oder Gott wäre nicht Gott, er wäre nur ein frommes Geschwätz, eine neue Ideologie zu den vielen Ideologien, die sich Menschen gemacht haben. Und zwar die ganze Wirklichkeit des Lebens ist gemeint, auch die Volks- und Staatswirklichkeit, auch die Wirklichkeit der Gegenwart mit ihrer schweren und, wie es scheint, unrettbaren Verflochtenheit in eine Welt der Dinge, die selbstherrlich und brutal immer nur ihren eignen egoistischen Lebensgesetzen zu folgen bereit ist. Wer etwas weiß von diesem Anspruch Gottes an die Gesamtwirklichkeit, der so etwas ganz anderes will als eben diese Wirklichkeit, der muß in tiefster Seele beunruhigt werden durch das dunkle Phänomen des Krieges, durch die seltsame, mit Gottes Lebens- und Gnaden willen der Welt gegenüber schlechterdings nicht zu vereinigende Tatsache, daß hier Völker scheinbar mit dem besten Gewissen unter Anwendung aller nur denkbaren Mittel sich gegenseitig um das Leben zu bringen suchen. Wer unter dem Druck der evangelischen Botschaft steht, wer mit dem Geist der Bibel vertraut ist, wer die Gestalt Jesu kennt, und wer diese Welt als seine Welt anerkennt oder doch wenigstens als die Welt, der er angehören möchte, die für ihn allein in Wahrheit Autorität ist, der verliert angesichts der Tatsache des Krieges zum mindesten sein gutes Gewissen, der muß anfangen zu fragen: was sollen wir denn nun tun? Was kann geschehen, um, soweit es an uns liegt, in dieser Frage Gott die Ehre zu geben? Wir sehen genau die unheilvolle Wirklichkeit unseres Lebens, die uns bindet an Händen und Füßen und jeden naiven Pazifismus unmöglich macht. Wir müssen nun aber eben so sehr wissen, um der Wirklichkeit der Ansprüche Gottes willen, daß es nicht unsere Aufgabe ist, die Dinge laufen zu lassen, oder gar sie so, wie sie sind, laut oder leise gutzuheißen. Kann der Mensch auch nicht heilig werden, so kann er doch wenigstens gehorsam sein; können die Ordnungen des Lebens auch nicht in Reichgottesordnungen verwandelt werden, so ist doch Protest gegen diese Ordnungen möglich, und mehr als Protest, ein Mittragen dieser Ordnungen, das ein dauernder Hinweis darauf ist, daß sie Unordnungen sind, die den Ordnungen Gottes zuwiderlaufen.
Wie aber wird von hier aus unsere Stellung zum Krieg sich gestalten?
Es scheint mir vor allen Dingen eins nötig zu sein, daß wir den Krieg so sehen, wie er ist, und ihn all des romantisch-idealistischen Schmucks entkleiden, mit dem man ihn zu behängen pflegt. Es ist gar nicht nötig, dabei ein Bild zu entwerfen von den grauenhaften Schrecknissen des künftigen Gaskrieges, der ein Krieg gerade gegen die Wehrlosen sein wird, wo in wenigen Stunden unsere großen Städte und Industriezentren in ein Meer des Todes und der Verwesung verwandelt sein werden. Es genügt, daß wir uns dessen erinnern, was wir selbst erlebt haben. Es ist doch merkwürdig still geworden auch in den Reihen der Leute, die nicht müde geworden sind, den Krieg zu preisen als ein Stahlbad der Verjüngung für eine Nation, als eine Auslese der Tüchtigen, als großen ethischen Erwecker und Befreier aus der stagnierenden Sumpfluft einer faulen Friedenszeit heraus. Tief bis in die Reihen der Kriegsbegeisterten hinein hat sich nun doch die Erkenntnis durchgesetzt, daß der Heroismus, der zu Beginn des Krieges in einer Nation aufzuflammen beginnt, ein sehr schnell vorübergehendes Gut ist. Die Tüchtigkeit einer Nation erweist sich nicht wegen, sondern trotz eines Krieges. …
Blicken wir nüchtern hindurch durch all das Gerank der Sätze, mit dem die Völker den Krieg umgeben, um zu erreichen, daß man mit Begeisterung und Hingabe sich für ihn einsetze, so wird man sagen müssen: im besten Fall ist der Krieg eine harte Notwendigkeit, ein Akt der Notwehr, durch den ein Volk sich gegen das andere zu behaupten versucht. Vielleicht wird man sagen dürfen, daß der moderne Krieg im allgemeinen in der Tat von diesem Gesichtspunkt her zu verstehen ist. …
Von hier aus ergibt sich, das muß unumwunden zugestanden werden, die Möglichkeit auch für den Christen nicht eines heiligen, vielleicht auch nicht einmal eines gerechten, aber doch eines in der Verteidigung des von Gott gegebenen Lebens notwendigen Krieges. Allerdings ist auch hier sofort zu bedenken: auch dem Gegner hat Gott das Leben gegeben, auch er hat die Pflicht, es zu verteidigen, und ich habe die Aufgabe, es als eine Gottesgabe zu achten und zu schützen. Es ist zu bedenken, daß, christlich geurteilt, die Möglichkeit des Opfers auch hier besteht. Trotzdem erhebt sich entscheidend die Frage: kann ich nicht auch als Christ mit gutem Gewissen an einem solchen Kriege teilnehmen? Darauf ist zu antworten: vielleicht ja, vielleicht nein. …
Für Volk und Vaterland, zu dem ich selber gehöre, dessen Vorteil mit meinem Vorteil zusammenfällt, dessen Glanz und Herrlichkeit auch mein Teil ist, führe ich Krieg, indem ich zur Aufrechterhaltung des Glanzes meines Vaterlandes den Feind töte, der auch seinerseits den Glanz seines Vaterlandes aufrechterhalten will und sich nicht weniger in Notwehr befindet. Das ist der Krieg, auf seine einfachste und wahrhaftigste Formel gebracht. Das muß man bedenken, wenn man Krieg führen will, und dann muß man sich entscheiden. Noch einmal, wir werden nicht leugnen können, daß es notwendigen und darum auch vor Gott um der bestehenden sündigen Welt willen gerechtfertigten Krieg gibt, aber freilich die Verantwortung für die Entscheidung ist ungeheuer groß und die Möglichkeit, daß man sich falsch entschieden hat, bleibt in jedem Fall bestehen.
Man wird es darum verstehen, wenn ich als Schlußfolgerung aus dem was gesagt ist, der Christenheit den biblischen Rat geben möchte: „Soviel an euch ist, haltet Frieden mit jedermann.“[1] Ich wage es nicht, den Rat der unbedingten Kriegsdienstverweigerung zu geben. Man kann das nicht grundsätzlich tun, wenn die Möglichkeit des notwendigen Krieges an sich besteht. Nur im konkreten Fall darf man den Dienst verweigern, wenn man denkt, es sei hier notwendig, ausdrücklich anzuzeigen, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen[2]. Man muß dann freilich auch die Folgen auf sich nehmen, wie es die Quäker getan haben, um deutlich zu machen, daß man sich nicht von der Not und dem Leid, die über die Welt ergangen sind, ausschließen will. …
Wir sollen uns sodann hüten, von uns aus auch nur das Geringste dazu zu tun, dem Krieg ein romantisches oder gar christliches Gesicht zu geben. Es ist allgemein üblich, daß von der Kirche der Tod fürs Vaterland unter den Gesichtspunkt des reinen Opfertodes gestellt wird, unter das Bibelwort: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lasse für seine Freunde.“[3] Wir wollen ganz gewiß diesem Tod seine Würde und auch seine Größe lassen, aber ebenso gewiß wollen wir auch die Wahrheit sagen. Es wird bei dieser Darstellung eben außer acht gelassen, daß der, der getötet wurde, eben auch selbst hat töten wollen. Damit wird die Parallelisierung mit dem christlichen Opfertod zu einer Unmöglichkeit. Im Anschluß daran sollte man auch die Frage erwägen, ob es richtig ist, daß die Kirche den Gefallenen Denkmäler in ihren eigenen Mauern errichtet. Sollte man das nicht vielmehr der bürgerlichen Gemeinde überlassen? Sodann möge man auch einmal mit dem Problem sich beschäftigen, ob die Kirche nicht die Abschaffung des Instituts der Militär- und Feldgeistlichkeit zu fordern habe. Zu sehr scheint mir der Militärgeistliche in den militärischen Zwang und in das militärische Handeln eingespannt zu sein, als daß ihm wirklich freie Evangeliumsverkündigung noch möglich wäre, auf die auch der Soldat Anspruch hat. Die geistliche Versorgung der Soldaten sollte durch Zivilgeistliche erfolgen, die in keiner Weise von der Militärbehörde abhängig sind.
Wir werden endlich, und dies ist das letzte, was ich streifen möchte, als christliche Eltern in Verantwortung für ihre Kinder alles tun, was wir vermögen, um die Kinder in dem echten und guten Nationalbewußtsein zu erziehen, das nicht glaubt, die Welt sei um des eignen Volkes willen da, sondern das sieht, daß Völker Glieder sind am großen Körper der Menschheit, durch deren Dienst und Verbundenheit allein dieser Körper das darstellen kann, was er darstellen soll. Wir werden unsere Kinder nicht in den primitiven Kategorien belehren dürfen, daß nur der Deutsche gut, treu und edel sei, die andern Völker aber unter ihm stünden, von denen insonderheit die Franzosen und Polen tückische und schlechte Gesellen seien. Wir werden auch unsere Kinder nicht mit Kanonen und Bleisoldaten spielen lassen, deren Urbilder die Aufgabe haben, andere Menschen zu töten. Wir werden auch darauf zu achten haben, daß sie nicht Geschichts- und Lesebücher in ihre Hand bekommen, die von nichts anderem handeln als von der Herrlichkeit des Krieges und seiner Helden. …
Noch ist vieles in unserer Seele, was den hier angeregten Gedanken widersprechen möchte, noch sind wir alle stark gebunden durch Erziehung und Tradition. Möchten wir nicht aufhören, um diese Dinge mit allem Ernst zu kämpfen, dem Aufrichtigen wird es Gott gelingen lassen.
Vortrag vom 6. November 1928 in der Ulrichskirche zu Magdeburg.
Zuerst veröffentlicht im Domgemeindeblatt Magdeburg, Nr. 12, Dezember 1928, dann auch in: Günther Dehn, Kirche und Völkerversöhnung. Dokumente zum Halleschen Universitätskonflikt, 1931, S. 6ff.
[1] Römer 12, 18.
[2] Apostelgeschichte 5, 29.
[3] Johannes 15, 13.