Von Karl Barth
Der christliche Standpunkt müßte — wenn es das gäbe — zum Ersten darin bestehen, daß ein Mensch mit einigen anderen zusammen (in der christlichen Gemeinde) dafür dankbar ist, daß er in dem Mann Jesus Christus seinen einzigen Trost im Leben und Sterben und den wahren Herrn der ganzen Welt erkennen darf. Zum Zweiten darin, daß er sich nicht scheut, das offen zu bekennen. Und zum Dritten darin, daß er von da aus frei ist, seinem Mitmenschen immer ein wenig mehr Recht einzuräumen und sich selber und in den Widerwärtigkeiten des Daseins immer noch und immer wieder eine feste Hoffnung zu haben. Aber das alles hängt gewissermaßen an jenem Ersten, an dem leuchtenden und kräftigen Namen Jesus.
Eben darum ist diese Sache nicht so recht eigentlich das, was man einen Standpunkt nennt: sofern man nämlich unter einem Standpunkt einen Ort versteht, von dem aus man Alles und Jedes überblicken und meistern, an dem man sich endgültig daheim wissen, an dessen Güte man so richtig glauben kann. Man kann als Christ gewiß auch politisch, historisch, naturwissenschaftlich, wirtschaftlich usw. und, wenn man ein Schweizer ist, mit Vorliebe psychologisch oder pädagogisch denken und urteilen. Warum nicht? Aber immer nur so, daß man sich an das Alles heran und durch das Alles hindurch und also aus dem Allem auch immer wieder heraus führen läßt. Immer nur so, daß man in dem allem gehorsam bleibt. Gerade gläubiger, todernster Vertreter eines Standpunktes kann der Christ nicht gut werden.
Man ist ja auch nie ein Christ, man kann es nur immer wieder werden: am Abend jedes Tages ziemlich beschämt über sein Christentum von heute und am Morgen jedes neuen Tages zufrieden, daß man es nun eben noch einmal wagen darf: mit dem Trost, mit dem Nächsten, mit der Hoffnung, mit dem Ganzen. Die christliche Gemeinde ist sich einig darin, daß sie aus lauter Anfängern besteht. Und daß eben das das wahrhaft Gute ist: immer noch einmal klein zu werden, von vorn anzufangen und also gerade an keinem Punkt stehen zu bleiben. Das ist die Einigkeit des rechten Glaubens. Es handelt sich um Glauben, weil das alles an Jesus hängt, der es nun einmal allein fertig bringt, die Menschen zu solchen schlichten aber fröhlichen Anfängern zu machen. Es handelt sich um Glauben, weil es schon ein rechtes Wunder dazu braucht, daß ein Mensch sich vom Gesetz, vom Zwang, von der Feierlichkeit, von dem bösen Ernst aller Standpunkte — auch wenn er selber solche einnimmt — erlösen läßt. Wahrscheinlich darum gibt es nur so wenig Christen. Das beweist nichts gegen sie. Es wäre schrecklich, wenn es nur standpunktgläubige Menschen gäbe. Die wenigen Christen haben die schöne Aufgabe, den anderen zu zeigen, daß es auch noch einen anderen Glauben gibt als den Standpunkt-Glauben.
Quelle: Unterwegs, hrsg. im Auftrag eines evangelischen Arbeitskreises um Wolf-Dieter Zimmermann, 2. Jahrgang, 1948, Heft 1, S. 1.