Was im Alter zu wünschen übrigbleibt
Vor Ernst Bloch
Wir lernen im Alter vergessen. Aufreizende Wünsche treten zurück, obzwar ihre Bilder bleiben. Sie malen Flucht vor, wie einst im März: der Backfisch und das gefährliche Alter, der geschniegelte Halbwüchsige und der alte Geck können sich in einer wirren Lust zum neuen Leben berühren. Immerhin, der Lockung wird nicht mehr so willig nachgegeben. Läßt der Wunsch nicht nach, so die Kraft, die ihn sich zu erfüllen zutraut. Läßt die Kraft nicht nach, so die enttäuschte Gabe, vorauszumalen. Insofern also, oft nur insofern, nimmt die Unruhe ab.
Wein und Beutel
Dafür mehren sich die verständigen Ängste, sie wollen vermieden werden. Der Leib erholt sich nicht mehr so rasch wie früher, jede Mühe verdoppelt sich. Die Arbeit geht nicht mehr so flink von der Hand, wirtschaftliche Ungewißheit drückt schwerer als vorher. Die Bedürfnisse als Sucht, diejenigen, deren Befriedigung nicht erfreut, aber deren Ausfall schmerzt, nehmen zwar ab. Doch dafür mehrt sich das Verlangen nach Bequemlichkeit, und unbequem kann einem mürrischen Alten alles werden, auch das Gewohnte, wieviel mehr erst das Neue. Der Jüngling ist mit der üblichen Umwelt zerfallen und bekriegt sie, der Mann setzt an sie seine Kraft, oft mit Verlust seiner Träume, ja seines besser gewesenen Bewußtseins, aber der Ältere, der Greis, wenn er an der Welt sich ärgert, kämpft nicht wie der Jüngling gegen sie an, sondern steht in Gefahr, verdrießlich gegen sie zu werden, maulend streitbar. Wenigstens dort, wo die alte Person sauer wird, wo sie sich auf Geiz und Selbstsucht schlechthin zusammenzieht. Wünschbarer als je erscheint im bourgeoisen Alter das Geld, sowohl aus dem neurotischen Haltetrieb zusammengekrallter Hände, denen ein Mittel völlig zum Zweck wird, wie freilich auch aus der Lebensangst eines invaliden Wesens. Wein und Beutel bleiben dem trivialen Alter als das ihm bleibend Erwünschte, und nicht immer nur dem trivialen. Wein, Weib und Gesang, diese Verbindung löst sich, die Flasche hält länger vor. Fiducit, fröhlicher Bruder; deshalb wirkt auch ein alter Trinker schöner als ein alter Liebhaber.
Heraufbeschworene Jugend; Gegenwunsch: Ernte
Auch der junge Mensch, er sogar besonders, wünscht lange zu leben. Aber selten ist darin der Wunsch enthalten, ein Alter zu sein, er wird wenig geübt. Ein Jüngling kann sich als Mann vorstellen, aber kaum als Greis; der Morgen deutet auf Mittag, nicht auf Abend. An sich ist es merkwürdig, daß das Altwerden, sofern es sich auf den Verlust eines früheren, eines mit Recht oder Unrecht als schöner empfundenen Zustands bezieht, erst um die Fünfzig herum so recht empfunden wird. Gibt es für den Jüngling, der das Kind hinter sich läßt, keinen Verlust? Keinen für den Mann, wenn er aus der Jugendblüte heraustritt, wenn der Trieb verholzt? Stirbt nicht schon das Kind im geschlechtsreifen Mädchen und Jüngling, im Ich und seiner Verantwortung, wie sie nun hervortritt? Die Mutter fühlt das, wenn der erste Bartanflug ihres Sohnes kitzelt und sticht, der Jüngling selber fühlt wenn das Leben als Spiel völlig versinkt, wenn dem wachsenden Körper die kleinen Dinge und Verstecke unzugänglich werden. Und Wehmut ist sogar herkömmlich beim Übergang ins erste Mannesalter, dort wo Burschenherrlichkeit verschwindet, Philisterium beginnt. Jedoch der Einschnitt des Alters ist deutlicher als jeder frühere und brutaler negativ; Verlieren schlechthin scheint sich zusammenzudrängen. Die Zeugungsfähigkeit nimmt ab, die Gebärfähigkeit hört völlig auf, der Schmelz verschwindet, der Sommer geht zu Ende. Und merkt es der Bejahrte selber nicht, daß er es ist, so merken es die anderen, an der Wirkung sieht er die Ursache, ganz gleich, wie jung er sich zu fühlen gedrungen ist. Den meisten Alten ist es sehr belehrend, wenn ein Mädchen zum erstenmal vor ihnen aufsteht, um Platz zumachen; diese Höflichkeit wirkt nur durchaus nicht als Plus, das das Alter ihnen zugezogen hat, sie wirkt fatal. Und selbst den alten Gecken, der sonst durch Oberflächlichkeit, die leichteste Jugendgabe, sich betrügen will, überrascht die Wahrnehmung, wie kurz das Leben ist. Ein längst Vergangenes kann im Alter so nahe aussehen wie ferne Berge kurz vor dem Regen. Fast ungläubig wird diese Wahrnehmung auch vom gediegenen Greis hingenommen; ein Gestern erst scheint es zu sein, daß die Jugend ringsum gleichaltrig war. Zweifellos also: das spezifische Altersgefühl, das um die Fünfzig herum, zuweilen schon früher, einsetzt, wird durch die vorher erlebten und eben keineswegs so scharf erlebten Stufenwechsel wenig präpariert, wird mit einigem Recht als ein nicht Bekanntes wahrgenommen. Der Grund liegt im Undeutlichen oder im nicht deutlich Gemachten des Gewinns, den das Alter bringt, bei allem brutal Negativen, das damit verbunden sein kann und zuletzt verbunden ist. Daher wird der Gruß des Alters überwiegend nur als einer des Abschieds empfunden, nämlich mit dem Tod am dünnen Ende. Dieser, in jedem Lebensalter möglich, aber fürs höhere Alter unvermeidlich, gibt der Ebbe überhaupt keine Aussicht mehr auf eine erlebbare Flut; und das macht den Stufenwechsel, wenn er Alter heißt, dermaßen dezidiert. Macht ihn zum Unterschied von den früheren, unter neuem Laub versteckten, so unverwechselbar; gleich als ob der Abschiedsschmerz, den der Jüngling, der Mann beim Austritt aus dem Kindes-, dem Jugendalter gefühlt und ebenso nicht gefühlt haben mag, hier nachgeholt und zum eigenen Herbst noch hinzuaddiert würde. Daher zeigt auch ein nicht triviales Alter Rückkehrwünsche zu einer Jugend, die damals doch an Ort und Stelle eher als etwas empfunden werden konnte, das noch mangelhaft war, nämlich unfaßliche Blüte und noch keine faßliche, begrenzte, bilanzreife Frucht. Gerade ein arbeitender Alter, der also nicht in seiner Winterhöhle an den Tatzen der Erinnerung saugt, wird mindestens die viele Zeit zurückwünschen, die er mit zwanzig Jahren vor sich hatte. Den Zauber der langen Hintergründe wird er zurückwünschen, den das Leben damals noch für ihn besaß und der mit abnehmender Zukunft (mit den Jahren, die „gezählt“ werden können) allerdings abnimmt. So lebt im normalen Alter doch die Resignation, die die Jugend nur als halb echte und vorübergehende kennt, als echte und gesammelte. Kein bloßer Abschied von einem Lebensabschnitt wird hier bezeichnet, mit verwehenden Träumen, vereitelten Erfüllungen, sondern Abschied vom langen Leben selbst.
Es bleibt trotzdem seltsam, daß ein Druck des Alterns so stark hervortreten kann. Und bezeichnenderweise tritt er ja nicht bei allen Menschen und auch nicht zu allen Zeiten gleich stark, gleich ungehemmt hervor. Vielmehr muß zur organischen Ebbe auch noch eine psychische Leere hinzukommen, mindestens, wie bemerkt, das Undeutliche oder nicht deutlich Gemachte des Gewinns, den das Alter bringt. Ganz summarisch kann deshalb gesagt werden: zum bloßen Leiden am Alter, sofern es nur einigermaßen ein gesundes ist, aufgebaut auf einem tüchtigen Leben, gehören ein Tropf, der es erfährt, und eine spätbürgerliche Gesellschaft, die sich verzweifelt auf Jugend schminkt. Wenn’s aus ist, sagt ein Sprichwort, wird es offenbar, ob’s Wachslicht oder Talglicht war: also ist nicht das Alter selber daran schuld, wenn die Gestalt, die es aus Schein und Erscheinung hebt, nur noch häßlich ist. Und Gesellschaften, die nicht wie die heute untergehende bürgerliche vor jedem Blick aufs Ende zurückscheuten, besaßen und sahen im Alter eine blühende Frucht, eine sehr wünschbare und begrüßenswerte. So im spartanischen Rat der Alten, im Senat des noch republikanischen Rom, gar im Neuen sozialistischer Erfahrung. Da bleibt allemal anderes Schicksal zu hören als das untergehende, ist bedeutend mehr geblieben als „die Ehre und dies alternde Haupt“; denn eine blühende Gesellschaft fürchtet nicht, wie die Untergehende, im Altsein ihr Spiegelbild, sondern begrüßt darin ihre Türmer. Insgesamt zeigt das Alter, wie jede frühere Lebensstufe, durchaus möglichen, spezifischen Gewinn; einen, der den Abschied von der vorhergehenden Lebensstufe gleichfalls kompensiert. Altwerden bezeichnet also nicht nur eine wünschenswerte Zeitstrecke, auf der Möglichst viel erlebt worden ist, möglichst viel in seinem Ausgang erfahren werden kann. Altwerden kann auch ein Wunschbild dem Zustand nach bezeichnen: das Wunschbild Überblick, gegebenenfalls Ernte. Derart sagte Voltaire, für Unwissende sei das Alter wie der Winter, für Gelehrte sei es Weinlese und Kelter. Das schließt Jugend nicht aus, sondern nachreifend ein; der Rückkehrwunsch zu ihr verliert gerade sein Leid kraft dieser gereiften Fühlung mit dem Anrückenden, er kompensiert, ja erfüllt sich mit erlangtem Halt, mit Einfachheit und Bedeutung. Im allgemeinen werden derart die Spätjahre eines Menschen desto mehr Jugend enthalten, dem unkopierten Sinne nach, je mehr Sammlung bereits in seiner Jugend war; die Lebensabschnitte, also auch das Alterverlieren dann ihre isolierte Schärfe. Das gesunde Wunschbild des Alters und im Alter ist das der durchgeformten Reife; das Geben ist ihr bequemer als das Nehmen.
Abend und Haus
So gesammelt sein zu können, das verlangt, daß kein Lärm ist. Ein letzter Wunsch geht durch alle Wünsche des Alters hindurch, ein oft nicht unbedenklicher, der nach Ruhe. Er kann genau so quälend, selbst gierig sein wie die frühere Jagd nach Zerstreuung. Auch das sexuelle Aufflackern, besonders bei Frauen sehr oft an Vorpubertät erinnernd, wird dadurch durchkreuzt. Selbst das gegebenenfalls produktive Wesen, das der Jugend so sehr verwandte, mit ihr so vertraute, braucht mehr als früher (oder noch mehr) Freiheit von Störung. Und jeder Alte wünscht die Erlaubnis, vom Leben erschöpft zu sein; steht er selbst im Weltgetümmel, so doch zu einem Teil, als stünde er darin nicht. Die Eitelkeit ist das letzte Kleid, das der Mensch auszieht, aber selbst sie pflegt nur ein komischer Alter auf Kosten der Stille zu strapazieren. Wunderbar verschönt sich gerade im Nichtphilisterium des Alters das Bild dieser Stille, des Lands statt der Stadt, der Entronnenheit, wo die nassen Kleider trocknen, ohne Vielgeschäftigkeit. Der Wunsch nach Ruhe dämpft in bedeutenderen Fällen sogar die Reue über früher begangene Unterlassungen und lrrtümer; auf die Länge erschienen dem alten Goethe Fehlschläge seines Lebens fast gleichgültig, wo nicht gut geworden. Ausgeschlagenes Glück, gar unvollendete Arbeit peinigen noch, aber in der Erinnerung nimmt mindestens letztere, mit Recht oder Unrecht, fast Form an. All diese freundlichen Spätwünsche und Spätgefühle erhellen sich aus Jacob Grimms Rede über das Alter, die er selber im fünfundsiebzigsten Jahr gehalten hat. Diese Rede ist, durchaus mehr nolens als volens, von dem dankbaren Bewußtsein getragen, Altwerden sei ein Glück. Körperliche Behinderungen empfindlicher Art werden hier im allgemeinen Ruhewunsch gemildert, ja seinem Inhalt zugeschlagen. Sogar mögliche Taubheit hat nach Grimm das Gute, daß überflüssige Rede, unnützes Geschwätz nicht mehr unterbrechen, Abnahme des Augenlichts bewirke, daß viele störende Einzelheiten verschwinden; Grimm erinnert an den blinden Seher. Und er beschreibt den Genuß, den der einsame Spaziergang dem Greis gewährt, wie denn überhaupt das Gefühl für Natur steige. Der Mensch ist in ihr mit sich allein, die geschwätzige Unterhaltung der Nährpflanzen verstummt, die Welt wird am Abend dunkel, aber das Wasser wird hell, die letzte Neige des Lebens wird der Beschaulichkeit geweiht. Vergangene Not wird nicht mehr empfunden, vergangenes Glück windstill, durch Erinnerung erneuert, die Meißelschläge des Lebens haben eine wesentliche Gestalt herausgearbeitet, und Wesentliches ist ihr besser als je erblickbar. Indes freilich: auch diese Art Abtrennung von anderen Lebensaltern, betont durch Ruhewunsch und eine Art lustwandelnden Stillstands, ist nach Zeiten verschieden. Das Biedermeier ist längst dahin, das die alte Seele, auch in manch weniger reinen Gestalten als der Jacob Grimms, einkehren ließ in die eigene Brust und sie sich bewirten ließ an der langen Table d’hote der Erinnerungen. Die spätkapitalistische Welt hält für die Alten am wenigsten eine Bank der guten Hoffnung. Durch die Schrumpfung oder Fragwürdigkeit der Sparguthaben ist die Winterruhe auch dem Mittelstand sehr gestört. Nur die sozialistische Gesellschaft kann den Alterswunsch nach Muße erfüllen, jedoch auch hier ist diese, freilich mit positivem Sinn, eine andere als früher, indem der Unterschied der Generationen nicht mehr so scharf trennt. Das jetzige Leben ist viel schärfer politisch tranchiert, und es läßt sich nicht mehr sagen, daß das Alter, trotz seiner Bedächtigkeit, schlechthin reaktionär, die Jugend, trotz ihrer Frische, schlechthin fortschreitend sei. Häufig liegt der Fall umgekehrt, und der Alterswunsch nach Ruhe fällt in einer Zeit, wo es, um ein Symptom herauszugreifen, immer noch faschistische Jugendbünde gibt, mit dem Kopf im Nacken, nicht überall mit dem nach ewiggestriger Beharrung zusammen. Leichter als je ist es dem Alter geworden, an zwei Enden zu brennen, nämlich mit Mut und Erfahrung zugleich, mit neuem Bewußtsein und mit dem des gekannten Erbes. Der Altgewordene, der, in abendlicher Kühle auf der Bank vor seiner Haustür sitzend, das verbrachte Leben überschlägt und sonst nichts, dieser Zug des Grimmschen Wunschbildes ist wirtschaftlich wie inhaltlich außer Kurs gekommen. Nicht aber außer Kurs ist der tüchtige Wunsch, der dem nach Stille so angemessene, daß der Leerlauf des Lebens ringsum aufhöre. Gerade Liebe zur Stille kann so der kapitalistischen Hetze ferner stehen als eine Jugend, die die Hetze mit Leben verwechselt. Hier hat das Alter (mit dem die bürgerliche Welt nichts mehr anfangen kann) das Recht,-altertümlich zu sein. Vornehm zu sein, eine Haltung gebend, Worte gebrauchend, überblickende Blicke sendend, die nicht aus dem jeweiligen Tag und nicht für ihn sind. Zeiten verkörpernd, worin noch nicht alles Betrieb war, vor allem: worin er wieder aufhören wird. Das ermöglicht eine auffallende und doch verständliche Verbindung manches Alten von heute, sofern er weise wurde, mit einer neuen Zeit, der Zeit ohne die kessen, patenten, strammen Wölfe, also der sozialistischen Zeit. Wunsch und Vermögen, ohne gemeine Hast zu sein, das Wichtige zu sehen, das Unwichtige zu vergessen: dergleichen ist eigentliches Leben im Alter.
Quelle: Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 31976, S. 37-44.