Trutz Rendtorff, Erweiterte Nächstenliebe. Die Begründung der Menschenrechte bedarf keiner theologisch-dogmatischen Herleitung: „Das moderne Konzept der Menschenrechte beruht auf spezifischen historisch-kulturellen Voraussetzungen. Und je weiter die Menschenrechte auf soziale und kulturelle Lebensformen hin ausdifferenziert werden, umso stärker treten auch ihre spezifisch westlichen Implikationen hervor und desto größer wird das globale Konfliktpotenzial. Die Kirchen haben mit diesem Problem ihre eigenen Erfahrungen aus der Geschichte der neuzeitlichen Mission.“

Erweiterte Nächstenliebe. Die Begründung der Menschenrechte bedarf keiner theologisch-dogmatischen Herleitung

Von Trutz Rendtorff

Das erste und fundamentale Prinzip in der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte von 1776 hat der Heidelberger Staatsrechtslehrer Georg Jellinek hundert Jahre später so zusammengefasst: „Die Erklärung der Rechte will die ewige Scheidelinie zwischen Staat und Individuum ziehen, die sich der Gesetzgeber stets vor Augen halten soll, die ihm durch ‚die natürlichen, unveräußerlichen, geheiligten Rechte der Menschen‘ ein für allemal gesetzt sind.“

Erster Adressat der Forderung, fundamentale Rechte des Menschen anzuerkennen und zu achten, ist demnach der Gesetzgeber als Inhaber der staatlichen Zwangsgewalt. In der Verwendung religionsförmiger Begriffe wie „ewige Scheidelinie“ und „geheiligte Rechte“ scheint eine metaphysische, im juristischen Sinne metapositive Voraussetzung auf. Das deutsche Grundgesetz hat – weltweit gesehen übrigens einzigartig – diese Voraussetzung an den Anfang gestellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Das erste starke Argument in der Begründung der Menschenrechte ist: Den Inhabern staatlicher Gewalt müssen um der Rechte des Individuums willen Grenzen gesetzt werden. Von theologischer Seite wird dagegen bis in die Gegenwart – in Übereinstimmung mit der theologisch-kirchlichen Kritik des 19. Jahrhunderts – der Einwand erhoben, damit werde ein abstrakter Individualismus zum Prinzip erhoben. Der Mensch lebe aber in Wahrheit immer in sozialer Gemeinschaft, er existiere niemals als isoliertes Individuum.

Doch dieser Einwand verfehlt die eigentliche und entscheidende Pointe der Deklaration der Menschenrechte. Diese sollen vom Staat anerkannt und geachtet werden, unbeschadet der Frage, in welchem Maß oder mit welchen Qualitäten ausgestattet dieser Mensch im übrigen Glied der Gesellschaft, der Volksgemeinschaft oder einer Nation ist.

Dass Menschenrechte – in ihrem Grundsinn – in erster Linie dem Recht des Individuums gelten, heißt, sie gelten dem Menschen als solchem. Das ist der Sinn der Formel, diese Rechte seien „angeboren“, dem Menschen also kraft seiner Geburt zu eigen. Darum handelt es auch um Menschen-Rechte. Bürger-Rechte, wie die Französische Revolution sie forderte, sind dazu nachrangig. Deswegen ist auch der Staat der erste Adressat der amerikanischen Menschenrechtserklärung. Er soll sich diese Scheidelinie, die Grenze, die ihm darin gesetzt ist, stets vor Augen halten.

Höchst aktuell ist diese am Individuum festgemachte Idee der Menschenrechte in den Fällen, in denen Menschen mit dem Gesetzgeber in Konflikt geraten: Oppositionelle, die sich auf ihre Selbstständigkeit, Freiheit gegenüber den Ordnungsmächten berufen und politisch Verfolgte, die von staatlicher Gewalt mit Kerker und Folter bedroht werden. Wo sie von Staats wegen wie Rechtlose behandelt werden, können sie sich nur auf ihr Recht als Menschen, als Individuen berufen.

Konkrete Menschenrechtsverletzungen sind das Kriterium für das, worauf die Idee der Menschenrechte sich gründet. Man muss ihre Begründung deshalb nicht von oben, von der Idee her begreifen, sondern gleichsam von unten, vom Konflikt her, der zu ihrer Begründung geführt hat. Aus Konflikten an dieser Scheidelinie zwischen Staat und Individuum beziehen die Menschenrechte ihre rechtliche und moralische Dynamik.

Von der Idee her begreifen

Es waren denn auch solche historisch-politischen Konflikte mit staatlicher Gewalt, die bei der Geburt der modernen Idee der Menschenrechte Pate standen. Dabei betrat die Frage nach der religiösen Begründung der Menschenrechte die Bühne. „Die Idee, unveräußerliche, angeborene und geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs.“ Um diese provokante These Jellineks rankt sich eine breite Kontroverse. Was ist hier mit religiösem Ursprung gemeint? Dazu muss man sich vor Augen halten, aus welcher religiös-kirchlichen Situation die Menschen kamen, die im Osten Nordamerikas die Anfänge der Demokratie begründeten. Es waren überwiegend christliche Dissidenten, Calvinisten, Methodisten und Baptisten, Christen, die in ihrer europäischen Heimat, vorwiegend in England, als Sektierer bezeichnet und behandelt wurden. Sie waren mit der anglikanischen Staatskirche in vehemente Konflikte geraten. Sie waren also – negativ ausgedrückt – Dissidenten, weil sie im Dissens mit den Institutionen des Christentums, Kirche und Theologie, lagen und damit auch im Konflikt mit der Staatsmacht, die die Staatskirche stützte. Positiv gesagt: Die Dissidenten waren Independenten, die unabhängig vom Staatskirchentum ihrer christlichen Überzeugung leben wollten, in der freien Entfaltung ihrer religiösen Praxis, aber durch den Staat gehindert wurden. Das ist, in aller gebotenen Kürze, der Hintergrund für den religiösen Ursprung der Idee der Menschenrechte. Dies schließt nicht aus, dass es daneben andere und ebenso wirkungsvolle Ursprünge der Menschenrechte gab.

Mit der Gründung und Festigung neuer politischer Gemeinwesen in Nordamerika, außerhalb der Reichweite des Staates, stellte sich die Frage, welche Verfassung der Wiederholung vergleichbarer Konflikte mit dem Staat vorbeugen könne.

Die Auswanderer waren vom Recht ihrer religiösen Praxis überzeugt. Deswegen hatten sie den kirchlichen und staatlichen Verfolgungen in ihrer alten Heimat widerstanden. Die Pointe in der These vom religiösen Ursprung der Menschenrechte ist deshalb, die Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen. Nicht die Idee von Menschenrechten überhaupt und ganz allgemein ist das Neue. Dafür gibt es Voraussetzungen in der Antike wie im Christentum. Für die Moderne zur Richtschnur geworden ist das Konzept der Menschenrechte durch deren gesetzliche Verankerung. Wird der Staat durch eine Verfassung zur Anerkennung der Rechte des Individuums verpflichtet, dann wird damit das Verhältnis von oben und unten, von Obrigkeit und Untertan umgekehrt. Das betrifft nicht zuletzt die Verbindung von Gottes Macht und Staatsmacht.

Christliche Theologie begründet die Menschenrechte heute vor allem mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Deren spezifisch christliches Verständnis hängt aber daran, dass die Wahrheit und Wirklichkeit der Gotteskindschaft dem Menschen nur durch den Glauben an Jesus Christus vermittelt und zuteil wird. Könnte sich also letztlich nur der gläubige Christ auf biblisch-theologisch begründetes Menschenrecht begründen? Oder gilt die Gotteskindschaft für jeden Menschen, unabhängig vom christlichen Glauben? Von dieser theologischen Vorstellung führt der Weg jedenfalls nicht einfach und direkt zu den Menschenrechten. Der Glaube wird ja nach christlicher Lehre als unverdiente Gabe empfangen. Und dem Glauben entspricht eine Haltung des Gehorsams. Das ist etwas anderes als der Anspruch auf ein ursprüngliches Recht des Menschen, das im Konfliktfall aktiv von ihm zur Geltung gebracht wird. So spricht vieles dafür, die Begründung von Menschenrechten gegenüber dogmatisch-theologischen Herleitungen offen zu halten.

Im Blick auf deren praktische Verwirklichung ist es insofern zutreffender, wenn das kirchlich-theologische Engagement für Menschenrechte als erweiterte und sozialethisch orientierte Nächstenliebe ausgelegt und als Folge des Gebots der Hingabe und des Dienstes an und für die Bedürftigen praktiziert wird. In diesem Sinne kann die praktische Fürsorge und die Zuwendung zu den Anderen die praktische Verwirklichung der Menschenrechte stützen und fördern. Doch auch für die Kirche, für ihre ethische Praxis und ihre religiöse Motivation gilt wie für den Staat: Sie muss sich stets die Eigenrechte des Menschen vor Augen halten.

Programme einer alles umfassenden Gestaltung der Welt zur universalen Verwirklichung der sozialen Menschenrechte können schnell in Widerspruch zu den elementaren Freiheitsrechten geraten. Hier muss sich die Kirche der Grenzen ihrer Wahrheitsansprüche und sozialethischen Reich-Gottes-Vorstellungen bewusst sein. Sonst wird aus Hilfe Bevormundung und das Kernstück der Menschenrechte, die Selbstständigkeit und Freiheit des Einzelnen, gerät aus dem Blick.

Die vielen Erweiterungen der Menschenrechte, wie sie seit der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 in Deklarationen, Konstitutionen, Beschlüssen und Katalogen international – auch als Teil des Völkerrechts – formuliert wurden, folgen dem ursprünglichen Grundsinn der Menschenrechte. Allerdings sind sie nicht konstitutiv für deren Begründung. Das gilt besonders für das weite Feld der sozialen und kulturellen Menschenrechte.

Je mehr die Menschenrechte ausgeweitet werden, desto brisanter wird die internationale Kontroverse über die Verbindlichkeit ihres Geltungsanspruchs. Mit der Transformation der Verwirklichung von Menschenrechten im Modus der militärischen „humanitären Intervention“ ist offenkundig eine prekäre Grenze tangiert.

Extensive Auslegungen sozialer und kultureller Menschenrechte enthalten heute und in der voraussehbaren Zukunft brisanten Zündstoff. Politiker, die mit den Menschenrechten im Gepäck von West nach Ost oder Süd reisen, werden dort zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, Kulturimperialismus zu betreiben. Die Vertreter eines konfuzianischen Sozialismus in China behaupten – wie die Vertreter eines selbstbewussten, dem Koran verpflichteten Islam, sie hätten ihre eigene Menschenrechtskultur. Und in der Tat, das moderne Konzept der Menschenrechte beruht auf spezifischen historisch-kulturellen Voraussetzungen. Und je weiter die Menschenrechte auf soziale und kulturelle Lebensformen hin ausdifferenziert werden, umso stärker treten auch ihre spezifisch westlichen Implikationen hervor und desto größer wird das globale Konfliktpotenzial. Die Kirchen haben mit diesem Problem ihre eigenen Erfahrungen aus der Geschichte der neuzeitlichen Mission.

Welche Perspektive kann nun dazu beitragen, diesen Streit über die Menschenrechte zu begrenzen? Kehren wir an den Ausgangspunkt zurück: Das Bild von der Scheidelinie zwischen Gesetzgeber und Individuum bringt das essentielle Minimum der Menschenrechte zum Ausdruck. Das ist es, worauf es vor allem ankommt. Denn an der Nichtachtung dieser Scheidelinie ereignen sich die Verletzungen elementarer Menschenrechte. Die Bindung staatlicher Zwangsgewalt durch Gesetze ist der harte Kern der Menschenrechte. Diese Scheidelinie zu achten und zu fixieren, darauf werden diejenigen dringen müssen, die für die Menschenrechte eintreten.

Wenn dieses Kernstück der Menschenrechte weltweit zur Geltung kommen soll, dann müssen alle weitergehenden Ansprüche davon unterschieden werden. Wie sich diese Unterscheidung auswirkt und welche Folgen sie hat, aus welchen Motiven und welchen Quellen die Menschenrechte hervorgehen, wie Kulturen, Gesellschaften mit ihren religiösen Traditionen diesen Folgewirkungen Form und Gestalt geben, ist damit nicht vorherbestimmt. Selbst die Verbindung mit der politischen Form der Demokratie ist dem Prinzip der Menschenrechte nachgeordnet, so sehr sie für unser Verständnis mit einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie zusammengehören.

Heute scheint in weiten Regionen der Welt die Achtung der Scheidelinie zwischen Staat und Individuum gerade von den Religionen gefordert zu sein. Ob sie dazu fähig und bereit sind, ist eine offene Frage. Die christlichen Kirchen haben auf dem Weg dahin einen langen und konfliktreichen Lernprozess durchgemacht und die Erfahrung gemacht, dass sie dabei ihre eigene Identität nicht preisgeben mussten. In Zukunft könnten sie deswegen im viel beschworenen Dialog der Religionen für das essentielle Minimum der Menschenrechte werben.

Quelle: Zeitzeichen 4 (2003), Heft 12, S. 25-27.

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