Joachim Beckmann, Die Aufgabe der Christenheit an Israel heute (1966): „Wir wissen ja über die christli­chen Ursprünge des Antisemitismus und über die Verfolgungen, die durch alle Zeiten hindurchgehen, genug, so daß – abgesehen davon, daß wir Deutsche etwas besonderes hierzu zu sagen hätten – ganz allgemein gesagt werden muß, daß hierin eigentlich die ganze Christenheit gemein­sam schuldig geworden ist, und daß sie deswegen sich darüber besinnen muß, was sie jetzt noch tun kann.“

Die Aufgabe der Christenheit an Israel heute (1966)

Von Joachim Beckmann

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Freunde!

Was ich hier sagen kann, ist eigentlich noch kein Referat; so weit ist das alles noch nicht gediehen. Wenn wir uns dem Thema überhaupt stellen wollen, wie es hier formuliert heißt: „Die Aufgabe der Christen­heit an Israel heute“, dann wird dies erst am Ende einer etwas längeren Erörterung stehen können, und zwar deswegen, weil man die Aufgabe, mit der wir es heute zu tun haben, erst dann verstehen kann, wenn man eine gewisse Rückschau hält auf einige Geschehnisse, von denen wir herkommen.

In dem schönen Buch „Der ungekündigte Bund“, eine der wichtigsten Veröffentlichungen, die im Zusammenhang der Kirchentage je herausge­kommen sind (Kreuz-Verlag, Stuttgart), steht eine sehr instruktive Darstellung, die ganz besonders lesenswert ist, nämlich unter dem Thema „Versuch theologischer Wiedergutmachung“ (Renate Maria Heydenreich, Berlin). Ich wollte darauf hinweisen, weil es mir heute gar nicht möglich ist, auf alle Probleme einzugehen, die über mich gekom­men sind beim Bedenken dieses Themas.

I.

Zunächst möchte ich zur Information derer, die hier sind, und von denen ich vermute, daß die meisten keine Theologiegeschichte kennen, etwas sagen über jene geheimnisvolle und unbegreifliche Geschichte, vor der wir stehen, eine Geschichte, die uns noch in den 20er Jahren, als wir Kirchengeschichte gelernt haben, im Grunde verschwiegen worden ist, nämlich die Geschichte vom Zusammenleben oder Nichtzusammenlebenkönnen der Kirche mit Israel; immerhin durch neunzehnhundert Jahre Kirchengeschichte!

In der Kirchengeschichte, die uns vorgetragen worden ist, kommt das Judentum und das Juden-Christentum im Anfang vor. In der Folgezeit ist die Geschichte der Kirche mit Israel vergessen. Natürlich meistenteils deswegen, weil die Taten, besser gesagt: die Untaten der Christen an den Juden so grauenvoll sind, daß man sie gar nicht beschreiben möchte. Einige dieser Untaten sind in viel späteren Zeiten von Leuten, die sozusagen als Außenseiter Geschichte geschrieben haben, aus der Geschichte der Kirche ans Licht gebracht worden, z. B. die Judenverfol­gungen im Mittelalter. Diese Greuel wurden theologisch begründet, und zwar auf Grund einer Fehlinterpretation des Neuen Testamentes.

Bemerkenswerterweise hat gerade die kirchliche Interpretation des Neuen Testamentes, natürlich des Alten eingeschlossen, dazu geführt, daß durch Jahrhunderte hindurch bestimmte Thesen in der Kirche gegolten haben, z. B. die These von der Verwerfung Israels, obwohl im Römerbrief gerade das Gegenteil steht, aber dieser Text wurde durch andere Bemerkungen, die wiederum mißverstanden waren, sozusagen ausgeräumt. Dies spielt im Laufe der Geschichte eine gewaltige Rolle. Man denke auch an die bekannte Folgerung aus einem Text des Neuen Testamentes und zwar im Johannes-Evangelium. Hier hat erst in neuer Zeit die formgeschichtliche Exegese richtig herausgefunden, daß mit dem Stichwort „Juden“ jemand ganz anderes gemeint war, nämlich gar nicht die historischen Juden, sondern unter diesem Namen in der eigentümlichen Rückblende, die Johannes vollzieht, „die Welt“, die „ungläubige Welt“. Jenes Mißverständnis hat verheerend gewirkt in der christlichen Theologie, indem man der Überzeugung sein mußte, daß gerade Johannes ein ausgesprochener Antisemit war, der er gar nicht gewesen ist. Seine Sprachweise ist zu späteren Zeiten völlig mißverstan­den worden, und zwar bis in unser Jahrhundert hinein. Erst die moderne historisch-kritische Schriftdeutung ist es gewesen, die uns hier theolo­gisch einen neuen Einblick in die Bibel verschafft hat, in die Wahrheit der Heiligen Schrift.

Es ist z. B. kein Wunder, daß, als im Anfang des „Dritten Reiches“ über den Arier-Paragraphen zwei Gutachten erstattet worden sind, das eine Gutachten von Bultmann ausgesprochen christlich war, neutestamentlich, während das Gutachten der Erlanger ausgesprochen antisemi­tisch und unneutestamentlich war. Gegen die orthodoxen Thesen, auf die man sich bis heute beruft, hat seinerseits Bultmann protestiert im Namen des Neuen Testamentes. Ein frappanter Tatbestand, der darauf hinweist, daß in der Tat die christliche Orthodoxie durch Jahrhunderte hindurch in dieser Sache in Deutschland auf alle Fälle radikal versagte. Auf Grund einer Tradition allerdings, die auf die frühe römische Kirche zurückgeht.

Ich vermute, daß gewisse antisemitische Einflüsse in Rom eine Rolle gespielt haben. Mein Eindruck von einer Reihe von Dokumenten der römischen Kirchengeschichte ist, daß ein unchristlicher Antisemitismus christliche Gestalten noch mehr profiliert antisemitisch gemacht hat. Darüber kann die Geschichte des Antisemitismus ein eigentümliches Zeugnis ablegen. Die Wendung im Verständnis dieser Probleme ist eigentlich in der Theologie erst im zwanzigsten Jahrhundert eingetreten. Es gibt zwar einige Einsichten im neunzehnten Jahrhundert, die neue Erkenntnisse anzeigen, und auch schon im achtzehnten Jahrhundert beginnt es, etwas anders zu werden, nachdem die alte orthodoxe Schrift­überzeugung zerbrochen war. Der alte, ursprüngliche Pietismus hat auch einige gute Einflüsse gehabt, aber sie waren nicht genug theologisch begründet. So muß man wohl sagen, daß erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, kurz vor dem „Dritten Reich“, durch die theolo­gische Arbeit Karl Barths eine neue Entdeckung in dieser Frage möglich geworden ist, denn jetzt erst wurde die kirchliche Überlieferung radikal in Frage gestellt.

Diese Tradition sagte, Israel habe durch die Kreuzigung Jesu den Anspruch verloren, das Volk Gottes zu sein, und das neue Volk Gottes sei die Kirche. Auf dieses neue Israel sind alle Verheißungen übergegan­gen. Diese Thesenreihe wurde durchweg vertreten und aus ihr die Folgerungen für das Verhältnis zum Judentum gezogen. Freilich, die radikalen Folgerungen aus dieser Theologie haben letztlich erst die Nationalsozialisten gezogen. Das kann man auch schon bei den Deut­schen Christen sehen, die zwar nicht den Judenmord selbst betrieben, aber der Ansicht waren: Wenn der Staat die Juden beseitigt, ist das seine Sache. Wenn er es als seine Aufgabe betrachtet, kann er es mit Recht tun. Die Kirche dürfe ihm dabei nicht in den Arm fallen. Es gibt in dieser ganzen Geschichte der Kirche bis in die Zeiten von Karl Barth hinein, bei dem zum ersten Male von einem Theologen von Rang das Verhältnis von Kirche und Israel völlig anders gesehen worden ist, innerhalb der Theologie bis heute ein unerschütterliches Mißverständnis des Verhält­nisses der Kirche zu Israel.

Es ist eine Tradition, die leider auch in den Schriften Luthers eine entscheidende Rolle spielt, etwa die These über die Alleinschuld Israels an der Kreuzigung Christi oder die andere These, daß durch die Verwer­fung des ihnen gesandten Messias nun das Reich Gottes einem anderen Volk gegeben worden wäre, und dieses andere Volk sei das Volk der Christen, die Kirche.

Diese These führt ja dazu zu sagen, die Rolle Israels sei ausgespielt. Und dann kommen die Sätze, die man dann in sehr guten christlichen Darbietungen finden kann, daß eben das ganze Schicksal Israels bis zum heutigen Tage ein Zeichen dafür ist, daß Gott es verworfen hat um der Kreuzigung Jesu willen. Noch im „Dritten Reich“ haben christliche Theologen gesagt, daß die Judenverfolgung letzten Endes der Vollzug des Gottesgerichtes sei. Übrigens hat es auch Adolf Hitler selbst gesagt. Lesen Sie „Mein Kampf“. Da steht an einer berühmten Stelle: „Indem ich mich des Juden erwehre, vollziehe ich das Werk des Herrn.“ Es wird heute vergessen, daß dies Wort einer der wichtigsten Sätze aus dem ganzen Buch ist. Es ist ja ein schauderhaftes Buch, aber diese Ausfüh­rungen sind von ganz großem Gewicht, und sie zeigen letzten Grundes, wo er herkommt, nämlich aus der christlichen Tradition des Antise­mitismus.

Der Katholizismus des Mittelalters ist stark antisemitisch gewesen, das läßt sich nicht leugnen, und der Protestantismus hat nachgezogen, er hat sich davon nicht getrennt. Er hat, ohne daß das immer zu Verfolgun­gen geführt hat, immerhin gesagt: Hier ist Gottes Gericht vollzogen, der Jude in der Diaspora hat im Grunde kein Lebensrecht. Wir dulden ihn zwar, wir müssen ihn sogar unter Umständen gebrauchen, aber er kann niemals mit uns gleichberechtigt werden. Der einzige Weg zur Gleichbe­rechtigung ist die Taufe. Und wie seltsam und rätselhaft hier noch argumentiert wird, zeigt Ihnen das Erlanger Gutachten von 1933, in dem jener unglaubliche Satz steht: „Freilich, bei getauften Juden kann es sogar dazu kommen, daß sie gute Deutsche werden.“ „Die Taufe hat diese Wirkung“, meint der Verfasser, ein deutscher Theologe, der einen großen Namen gehabt hat. Immerhin, zu solchen rätselhaften Dingen ist eine Theologie gekommen, die die Heilige Schrift an entscheidenden Stellen nicht hat verstehen können.

Als wir noch bei den Alten lernten, den Römerbrief zu studieren, da galt es von Römer 9-11, das sei das klassische Kapitel über die Prädesti­nation. Daß diese Kapitel ein ganz anderes Thema behandeln, ist eigent­lich erst in der jüngsten Zeit ans Licht gekommen. Es ist merkwürdig, wie eine Behauptung durch Jahrhunderte hindurchgeht, zumal auch der große Martin Luther dieses Kapitel ja in Anspruch genommen hat für seinen Kampf gegen Erasmus. Die Hauptargumentation gegen Erasmus kommt nämlich aus Römer 9-11, und seitdem ist es natürlich klar für die protestantische Theologie, Römer 9-11 ist sozusagen die klassische Prädestinationslehre der Bibel. Aber gerade hier, in den bekannten Sätzen aus Römer 9, auf die ich besonders aufmerksam machen möchte, sagt Paulus ja eindeutig, was er von Israel hält, wie er es versteht. Und dann kommt der berühmte Satz in Römer 11: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Nein, das sei ferne.“ Dieses Wort des Paulus zeigt, daß die kirchliche These von der Verwerfung Israels nicht dem Neuen Testa­ment entspricht.

II.

Seit den zwanziger Jahren haben wir exegetisch und auch dogmatisch angefangen zu lernen, ganz neu über das Verhältnis von Israel und der Kirche nachzudenken. Dies hat uns in der Bekennenden Kirche Mög­lichkeiten gegeben, neu zu sprechen, so wie das eine ganze Reihe von uns damals getan hat; z. B. auf der einen Seite Hans Ehrenberg oder Heinrich Vogel, aber auch Rudolf Bultmann, wobei natürlich Karl Barth und seine Schule hier eine besonders große Rolle gespielt haben. Wir haben ja im Laufe des Kirchenkampfes von 1933 an gegenüber den Deutschen Christen und ihren Lehren einer ganzen Reihe von Stellen widersprechen können, widersprechen müssen; für sie zu ihrer großen Überraschung, denn das hatten sie nun gar nicht erwartet, daß an dieser Stelle von uns widersprochen werden würde. Und sie konnten nicht verstehen, wieso wir zu so ganz anderen Überzeugungen kamen.

Wenn man z. B. die deutschchristlichen „28 Thesen der Sächsischen Volkskirche zum Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche“ vom 10. Dezember 1933 liest, da muß man sagen, was hier im großen und ganzen drinsteht, ist die bis dahin weit verbreitete Überzeugung der protestanti­schen Christenheit, ja überhaupt der Christenheit gewesen. Hier kom­men nun Rassenakzente noch hinzu, aber das kann man sogar überhö­ren: „Wir erkennen im Alten Testament den Abfall der Juden von Gott und darin ihre Sünde. Diese Sünde wird vor aller Welt offenbar in der Kreuzigung Jesu. Von daher lastet der Fluch Gottes auf diesem Volke bis zum heutigen Tage.“ Bei der großen Zahl evangelischer Pfarrer war das immer so gelehrt worden. Ebenfalls, was hier zum Ausdruck gebracht wird über das Alte Testament, daß es nicht den gleichen Wert wie das Neue Testament habe. Die spezifisch jüdische Volksreligion sei nun überwunden. Wichtig bleibt das Alte Testament, weil es die Geschichte und den Verfall eines Volkes überliefert, das trotz Gottes Offenbarung sich immer wieder von ihm trennte. Die gottgebundenen Propheten zeigen an diesem Volke uns allen: „Die Stellung einer Nation zu Gott ist entscheidend für ihr Schicksal in der Geschichte.“ So wird das Alte Testament gesehen, und das war durchaus allgemeine Überzeu­gung über den Sinn des Alten Testaments in den Thesen, die hier aufgestellt wurden. In ihnen stand z. B. auch der Satz: „Der Streit, ob Jesus Jude oder Arier war, erreicht das Wesen Jesu überhaupt nicht, Jesus ist nicht Träger menschlicher Art, sondern enthüllt uns in seiner Person Gottes Art.“ Wenn man so formulierte, sprach man eine radikale Irrlehre aus. Man war aber der Überzeugung, daß gerade dieses die Wahrheit war, die man zum Ausdruck bringen wollte. Ich habe damals geschrieben: „Der Streit, ob Jesus Jude oder Arier war, ist nach der Schrift entschieden. Es ist daher von einer Kirche, die auf dem Boden der Schrift steht, zu erklären, daß Jesus als Jude geboren und nach dem Fleisch ein Sohn Davids ist. Für eine in der Schrift begründete Theologie ist die Geburt des Christus als Glied dieses auserwählten Volkes eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit. Wer meint, an dieser Frage vorbei­gehen zu können, steht nicht auf dem Boden der Heiligen Schrift.“ Das war eine von den Antithesen, die damals von uns formuliert wurden. Wenn man jetzt diese Sätze liest, dann sieht man, wie uns von unserem damaligen Lehrer Karl Barth her deutlich geworden ist, wie eigentlich das Alte und Neue Testament ausgelegt werden müßten, gerade im Blick auf diese Frage.

So wird man sagen können, daß seit jenen Tagen der Theologie Karl Barths, aber auch seit den Tagen der Neuerforschung der Heiligen Schrift in einer wirklich geschichtlichen Methode ganz neu erkannt worden ist, was die Schrift wirklich sagt.

Wir haben damals den Kampf dieser Jahre wirklich mit dieser Theolo­gie zu kämpfen versucht, so schwer es uns auch geworden ist, uns in allen diesen Sätzen ganz und gar im Gegensatz zu der herrschenden Überzeugung, und zwar nicht nur des Staates, sondern der Mehrheit der Christenheit in Deutschland, zu stellen. Das letzte Dokument, an dem man das noch einmal zeigen kann, ist jene im Jahre 1939 verfaßte „Godesberger Erklärung“ der Nationalsozialistischen Deutschen Chri­sten und die Versuche des damaligen Kirchenministers, die Bischöfe der Kirche zur Anerkennung der Erklärung zu bringen. Die Erörterung der Versuche, um die sich die Bischöfe bemüht haben, die Erklärung durch Abschwächungen des ursprünglichen Textes für sie tragbar zu machen, sind überaus interessant. Aber man sieht ganz deutlich, daß sie letzten Endes hier auf einem abschüssigen Weg waren.

Wir haben am 13. April 1939 für eine Konferenz der Landesbruder­räte eine Stellungnahme hierzu vollzogen, und zwar zu dem Satz der Godesberger Erklärung: „Der christliche Glaube ist der unüberbrück­bare religiöse Gegensatz zum Judentum.“ Dieser Satz wurde von den meisten deutschen Bischöfen unterschrieben. Wir sagten dagegen: „Es hat Gott gefallen, Israel zum Träger und Werkzeug der göttlichen Offenbarung zu machen. Das wird dadurch nicht aufgehoben, daß die Juden selbst ihrer göttlichen Bestimmung untreu geworden sind. Die Kirche als das wahre Israel (das war damals auch unsere Meinung) ist Erbe der Verheißung, die dem Volke Israel gegeben wurde. Der christli­che Glaube steht in einem unüberbrückbaren religiösen Gegensatz zum Judaismus. Dieser Judaismus lebt aber nicht nur im Judentum, sondern ebenso in allen nationalkirchlichen Bestrebungen.“

Das war also eine theologische Formulierung, in der wir uns bemüht haben, in dieser schwierigen Frage theologisch wahre Sätze zu sagen. Freilich müssen wir rückschauend sagen, daß hier noch nicht alles klar und deutlich genug geworden ist. Aber man sieht hieran, wie etwas ganz Neues auf den Plan tritt, etwas, das einige Jahre vorher so noch nicht möglich gewesen wäre. Die neue theologische Stellung, die hier langsam aufgekommen ist, entstammt den großen furchtbaren Kämpfen der Jahre 1933-1945, in denen wir eigentlich mehr gelernt und auch mehr Ergeb­nisse gewonnen haben, als ganze Generationen vor uns haben erreichen können.

Deswegen ist es dann ja auch dazu gekommen, daß nach dem 2. Weltkrieg die EKD zum erstenmal in ihrer Geschichte ein Wort zu der uns bewegenden Frage gesagt hat. Dieses Wort ist gar nicht lang, und es ist ganz instruktiv, daß die meisten Menschen in Deutschland es wohl nie gehört haben, denn es ist nicht weit verbreitet worden. Auf der Synode in Berlin-Weißensee am 27. April 1950 wurde diese Erklärung im Zusammenhang eines Friedenswortes der Evangelischen Kirche erlas­sen und gegen einige Widerstände durchgesetzt, wobei einer von den Synodalen sagte, dieses Schuldbekenntnis könne von Israel dazu miß­braucht werden, um Geld von uns zu fordern. Darum wäre es gut, es nicht zu sagen. So konnte geredet werden! Aber dieser Einwand wurde von Lothar Kreyssig wirklich in einer großartigen Weise beantwortet. Der Text dieses Wortes lautet in seinem ersten Teil: „Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf daß er sich aller erbarme (Römer 11,32). Wir glauben an den Herrn und Heiland, der als Mensch aus dem Volk Israel stammt. Wir bekennen uns zu der Kirche, die aus Judenchri­sten und Heidenchristen zu einem Leib zusammengefügt ist und deren Friede Jesus Christus ist. Wir glauben, daß Gottes Verheißung über den von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“

Dies ist ein entscheidender neuer Satz, der in einer kirchlichen Lehr­äußerung bisher so noch nicht vorgekommen ist. Ich meine, es ist einer der wichtigsten und bedeutsamsten Sätze, herausgewachsen aus der Erkenntnis dessen, die uns Karl Barth in seiner Auslegung des Römer­briefes vermittelt hat. Ich zitiere deshalb an dieser Stelle aus einem der großen Bände, Band 11,2 – es ist der wichtigste theologische Abschnitt, § 34 „Die Erwählung der Gemeinde.“ Was hier steht, ist ja in diesem ganzen Paragraphen nichts anderes als ein Satz unter der Auslegung von Römer 9-11. Eine großartige Sache – muß ich schon sagen – ist das ganze Kapitel, ich lese nur den einen Satz vor, der dem, was wir 1950 gesagt haben, vorangegangen ist, obwohl wir das 1950 so im einzelnen noch nicht gewußt haben, denn die meisten hatten diese Bände noch nicht gelesen. Sie waren ja im Ausland erschienen, und wir kannten sie noch nicht. Wir hatten zwar einige Dokumente unter der Hand erhalten, z. B. die Auslegung von Römer 9-11, dies war aber ein ganz tief geheimnisvolles Opus, es war geradezu lebensgefährlich, so etwas zu besitzen. Barth schreibt: „Die Gnadenwahl ist als Erwählung Jesu Christi zugleich die ewige Erwählung der einen Gemeinde Gottes, durch deren Existenz Jesus Christus der ganzen Welt bezeugt, die ganze Welt zum Glauben an Jesus Christus aufgerufen werden soll. Diese eine Gemeinde Gottes hat in ihrer Gestalt als Israel der Darstellung des göttlichen Gerichtes, in ihrer Gestalt als Kirche der Darstellung göttli­chen Erbarmens zu dienen. Sie ist in ihrer Gestalt als Israel zum Hören, in ihrer Gestalt als Kirche zum Glauben der an den Menschen ergange­nen Verheißung bestimmt. Es ist der einen erwählten Gemeinde Gottes dort ihre vergehende, hier ihre kommende Gestalt begegnet.“ Interes­sant ist diese gewagte Formulierung, inwiefern Israel und die Kirche unlöslich zusammengehören. Diese Erkenntnis gehört zu den bedeut­samsten Erkenntnissen der Theologie unserer Tage, sie ist eine ganz junge Erkenntnis. Man hat bisher im äußersten Fall versucht, sich einer Antwort zu enthalten oder hat die Bemerkungen des Paulus Römer 9-11 als das einzige, was hier zu sagen wäre, wiederholt. Aber was hier von Karl Barth eindringlich dargeboten wird, inwiefern Kirche und Israel nur Zusammenleben können, beide aufeinander angewiesen sind, und zwar weil Gott es so gefügt hat, ist schlechterdings neu. Paulus freilich sagte schon, daß gerade das Nichtannehmen des Messias durch die Juden um der Kirche der Heiden willen geschah, d. h. also, daß das, was hier Israel widerfahren ist, daß sie den Messias nicht angenommen haben, dazu dient, daß die heidnische Welt gepredigt bekommt, daß der wahre Gott der Gott Israels ist und daß Jesus sie befreit und erlöst hat. Was Barth hier ausführt, ist gegenüber der vergangenen Geschichte wie ine unerhörte Häresie, denn so ist noch nie gesprochen worden, und es gibt ja zahlreiche Leute, die diesem gegenüber behaupten, daß es theologisch durchaus nicht vertretbar sei, die gerade an diesem Punkte Karl Barth widersprechen und der Überzeugung sind, daß doch nach dem Neuen Testament eigentlich anders geurteilt werden müßte, daß man zwar nicht vom Fluch Gottes und dem Gericht Gottes und der Verwerfung Israels sprechen müßte, sondern von dem Faktum, daß mit der Kreuzigung Jesu die Sendung Israels am Ende ist. So heißt die Formulierung nicht, weil Israel allein schuldig daran wäre, sondern weil Israels Geschichte als Volk Gottes hier zu Ende ging und jetzt das neue Volk Gottes begann. Das Volk Gottes ist dann das an den Gekreuzigten glaubende Volk des Messias Jesus. Darum, weil das so ist, ist das Volk Israel als das bisherige Volk nun überholt, überholt faktisch durch die Kirche. Hier versucht Karl Barth in einer sehr ausführlichen Darbietung gerade anhand der Römerbrief-Auslegung in Römer 9-11 Satz für Satz auszusagen, wie eben Israel und die Kirche die zwei zueinander gehörenden Gestalten der einen Gemeinde Gottes sind.

Ich muß sagen, ich habe mich schon durch lange Zeit hindurch davon überzeugt, daß diese Ausführungen, wie sie hier Karl Barth in seiner Wese gebracht hat, dem, was im Neuen Testament gesagt wird, am nächsten kommt, vor allem dem, was Paulus gesagt hat. Es gibt für mich keine Gestalt im Neuen Testament, die Wesentlicheres zu diesem Pro­blem gesagt hat. Kaum einer hat sich mit dieser Frage auch innerlich so herumgeschlagen. Wer hat das je so getan, wie er es getan hat? Wir glauben also, was Römer 9 geschrieben steht, daß Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist. Das Wort der Synode fährt fort: „Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.“

Hier hat die Evangelische Kirche in Deutschland über die Schulder­klärung von 1945 hinaus 1950 eine Erklärung der Mitschuld eben an diesem Frevel zum Ausdruck gebracht. Wir lesen in ihr weiter: „Wir warnen alle Christen, das, was über uns Deutsche als Gericht Gottes gekommen ist, aufrechnen zu wollen gegen das, was wir an den Juden getan haben, denn im Gericht sucht Gottes Gnade den Bußfertigen.“ Ein sehr gewichtiger und bleibend bedeutsamer Satz, ein Satz, der gerade heute angesichts der Notgemeinschaft christlicher Deutscher noch einmal gründlich wiederholt werden müßte. „Wir bitten alle Christen, sich von jedem Antisemitismus loszusagen und ihm, wo er sich neu regt, mit Ernst zu widerstehen und den Juden und Judenchri­sten in brüderlichem Geist zu begegnen. Wir bitten den Gott der Barmherzigkeit, daß er den Tag der Vollendung heraufführe, an dem wir mit dem geretteten Israel den Sieg Jesu Christi rühmen werden.“ Das bezieht sich auf den letzten Satz des Paulus, aus dem ja auch die Überschrift stammt, Römer 11,32.

Diesem Wort sind noch andere gefolgt. Ich erinnere nur an eine Erklärung der Berlin-Brandenburgischen Synode von 1960, die auch ein ganz ausgezeichnetes Wort ist. Das Wort wiederholt die Erklärung von Weißensee und fährt dann fort:

„Wir müssen heute bekennen, daß wir diesen Verpflichtungen nur unzureichend nachgekommen sind. Wir sind vor allem schuldig geworden an der Jugend, der gegenüber wir es an der nötigen Belehrung und dem verpflichtenden Zeugnis haben fehlen lassen. Daher ist es nicht zu verwundern, daß der Ungeist auch in Kreisen der Jugendlichen sich immer wieder aufs neue breitmacht. Demgegen­über müssen wir es uns erneut klarmachen und es bezeugen: der immer wieder durchbrechende Judenhaß ist offenkundige Gottlosigkeit. Darum erarbeitet euch die biblische Erkenntnis, daß unsere Rettung von der Erwählung Israels nicht zu trennen ist. Macht Gebrauch von den Hilfsmitteln, die euch zur Verfügung gestellt werden, damit ihr in der Predigt, in gemeinsamer Arbeit der Gemeindegruppen und in der Unterweisung der jungen Menschen Gottes Willen mit Israel erkennt.
Darum brecht als Eltern und Erzieher das weitverbreitete peinliche Schweigen in unserem Land über unsere Mitverantwortung am Schicksal der Juden und wiedersteht dem, daß die junge Generation zur Judenfeindschaft verführt wird. Darum sucht die Begegnung mit den überlebenden jüdischen Mitbürgern, solange sie unter uns wohnen wollen, und zeigt euch dankbar dafür, daß wir um Jesu willen ihre Brüder und Schwestern sind.“

III.

Von hier aus ergibt sich natürlich dann die Frage, was ist denn eigentlich jetzt die Aufgabe der Kirche? Bisher war ganz klar, daß man Judenmission treiben müsse, denn im Grunde gibt es keinen Unter­schied zwischen der jüdischen Religion und irgendeiner anderen „heid­nischen“ Religion. Die Juden müssen bekehrt werden, sie müssen die Predigt von Christus bekommen, sie müssen sich dazu bekennen. Wenn sie auch von ihrer Geschichte her dem Christentum näherstehen als andere, so gilt das doch nichts, es ist daran nichts zu ändern: Mission ist Mission und gilt für alle in gleicher Weise.

Von dieser Argumentation her, die dann nach jeder Seite theologisch unterbaut worden ist in der Geschichte der Kirche, gibt es dann natür­lich die Judenmission nur als eine besondere Aufgabe der Heidenmis­sion, wenn man sie auch aus taktischen Gründen voneinander trennt und hier eine besondere Aufgabe zu sehen überzeugt ist. Ganz anders sieht sich das an, wenn die Sätze ernst genommen werden, die wir eben gehört haben, und wenn wir also auch ernst nehmen, was im Römerbrief 9-11 steht. Wenn wir das ernst nehmen, dann müssen wir uns fragen, worin dann eigentlich unsere Aufgabe besteht. Darüber hat man sich in neuerer Zeit zum erstenmal Gedanken gemacht. Allerdings ist man in dieser Frage noch steckengeblieben. Wie weit man steckengeblieben ist, das zeigt eine ganze Reihe von Dokumenten auf. Ich denke dabei auch an unsere, die wir selbst noch verfaßt haben. Wir sind noch nicht durch alles hindurchgekommen, weil so viel neu umzulernen war.

Mir ist das am stärksten zum Bewußtsein gekommen nach dem 2. Weltkrieg im ökumenischen Bereich. Hier hat man sich ja auch mit diesen Problemen beschäftigt, und zwar in der Weltkirchenkonferenz Amsterdam 1948 zum ersten Mal expressis verbis über „Wir Christen und die Juden.“ Wir lesen hier eine ausführliche Darbietung über den Auftrag der Kirche, das Evangelium allen Menschen zu predigen. Auch Römer 9-11 taucht auf, dann die nicht zu überwindenden Schranken, dann das christliche Zeugnis für das jüdische Volk und „Empfehlun­gen“. Bei diesen Empfehlungen ist ganz charakteristisch, daß das eine wie das andere gesagt wird: Die Kirchen möchten ihren Mitgliedern Mut machen, sich um brüderlichen Kontakt mit ihren jüdischen Nächsten, um ihr brüderliches Verständnis und um Zusammenarbeit mit Organen zu bemühen, die den Kampf gegen Mißverstehen und Vorurteile führen. Und: Wir möchten bei der Missionsarbeit unter den Juden aufs peinlich­ste jede Art von unwürdigem Druck und Beeinflussung vermeiden.

Aber zum Schluß heißt es, der Rat möge darüber sorgfältig nachden­ken, um diese ganze Frage zu fördern. Als wir das zweite Mal zusammen waren nach dem 2. Weltkrieg in Evanston, war ich Zeuge einer spannenden Situation auf der Weltkonferenz. Es war das einzige Mal, wo es eine Revolte gab aus dem Plenum heraus. Das kam durch einen Satz in einem Bericht, der angenommen werden sollte, und zwar über Israel. Da gab es die ersten Widersprüche der arabischen Christen. Sie sagten: Nein, Israel, der Name darf gar nicht genannt werden, das ist der Staat Israel. Und dann kam eine Reihe von anderen Leuten, die sagten, man solle doch mit der Judenmission aufhören.

Da fand sich ein Kreis zusammen von über 30 Leuten aus allen Bereichen der Welt, der verfaßte eine Erklärung, und zwar wiederum nach Römer 9-11:

„Wir glauben auch, daß Gott Israel erwählt hat, um seinen Heilsplan auszu­führen. Jesus Christus ist als Mensch ein Jude. Die Kirche Christi ist erbaut auf dem Grunde der Apostel und Propheten, die alle Juden waren. Ein Glied der Kirche Christi zu sein, bedeutet daher, mit den Juden zusammengeschlossen zu sein in unserer einen unteilbaren Hoffnung auf Jesus Christus. Jesus, der Messias Israels, wurde angenommen von den Heiden, aber verworfen von seinem Volk, Gott jedoch ist so gnädig und mächtig, daß er selbst durch die Kreuzigung seines Sohnes die Rettung der Heiden bewirkte. Ob wir uns daran ärgern oder nicht; wir sind eingepfropft in den alten Baum Israel, so daß das Volk des Neuen Bundes und des Alten Bundes nicht voneinander loskommen.“

Diese Deklaration zeigt einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem, was bei den Delegierten zunächst, als das Thema zur Sprache kam, gemeint war: Der Glaube, der Bestandteil unserer einen Hoffnung für Juden und Heiden und Christen ist. Unsere Hoffnung auf den Sieg Christi schließ in Christus unsere Hoffnung für Israel und den Sieg über sein eigenes Volk ein.

Diese Texte zeigen, welche Wendung inzwischen eingetreten ist. Am deutlichsten finde ich immer noch das, was bisher das Beste ist, was von einer Kirche hierüber gesagt wurde, nämlich was die Holländer erklärt haben. „Israel und die Kirche“ ist die von der Generalsynode der Niederländisch-Reformierten Kirche zusammengestellte Studie aus dem Jahre 1959, in deutsch zum erstenmal 1961 erschienen. Hier finden sich Auswirkungen der Barthschen Theologie. Gerade dieser Kreis der Chri­stenheit, der mehr reformiert bestimmt gewesen ist, hat es leichter gehabt als die Lutheraner. Warum, das ist eine Frage, die noch einer besonderen Erörterung bedarf, auf die ich nicht eingehen möchte. Zweifellos sind in dieser schönen Darbietung ganz ausgezeichnete Sätze zu finden, bei denen auch klar ist, was jetzt geschehen soll. Denn was geschehen soll, wird hier ausgesprochen unter der Parole „nicht Juden­mission, sondern Gespräch mit Israel.“

Das ist eine Formulierung, in der die Kirche zum erstenmal nebenein­ander stellt: „Heidenmission“ und „Gespräch mit Israel.“ Es ist klar, daß in dem Gespräch mit Israel das zu bezeugen ist, was der Christ im Blick auf seine Erkenntnis der Bibel als Altes und Neues Testament zu bezeugen hat; aber entscheidend ist, daß hier etwas anderes getan werden muß als in der Heidenmission. Für mich ist eine Sache durch­schlagend über alle anderen Gründe hinweg. Die Situation, in der Paulus missioniert hat, als er zuerst in die Synagoge gegangen ist und dann zu den Heiden, obwohl er selbst sich ja ganz ausgesprochenermaßen als Heidenapostel angesehen hat, wie man aus seinen Briefen deutlich ersehen kann, war grundanders als in den folgenden Generationen. Die Geschichte der Kirche nach diesen Tagen des Paulus war so antijüdisch auf ganze gesehen, daß nur dadurch, daß die Kirche eine grundlegende Wendung vollzieht, das Evangelium überhaupt wieder für Israel glaub­würdig werden kann. Denn das, was sie von Jesus sagt, wird ihr deswegen so schwer auszusprechen, weil alles, was sie sagen kann, mit dem, was sie getan hat, in tiefstem Widerspruch steht. Ihre eigene Geschichte zeigt ihr ihre Unbarmherzigkeit, ihr Nein zu Israel in einer vollkommen unchristlichen Weise.

Alles dies, das Versagen gegenüber dem, was in der Heiligen Schrift beider Testamente ausgesprochen wird, ja sogar bis dahin, daß man der Überzeugung gewesen ist, daß man von einem Christen- und von einem Judengott sprechen konnte, macht klar, daß die Kirche angesichts ihrer Schuld, daß sie in ihrem Verhalten zu den Juden sich so unchristlich betätigt hat, einen anderen Weg zu einem Gespräch mit Israel suchen muß als die Wege, die sie bisher unter dem Stichwort „Judenmission“ unternommen hat. Es ist für mich gar nicht überraschend, daß im Laufe dieser Geschichte der letzten Jahrhunderte diese Missionsversuche an Israel im großen und ganzen gescheitert sind. Sie sind letzten Endes an der Unglaubwürdigkeit der Botschaft gescheitert, weil die Boten, die sie gebracht haben, gegen das sprachen, was sie sagten, eben in der Weise, wie sie das Christentum zu vertreten versuchten, und deswegen auch darum nicht geglaubt werden konnten. Wir wissen ja über die christli­chen Ursprünge des Antisemitismus und über die Verfolgungen, die durch alle Zeiten hindurchgehen, genug, so daß – abgesehen davon, daß wir Deutsche etwas besonderes hierzu zu sagen hätten – ganz allgemein gesagt werden muß, daß hierin eigentlich die ganze Christenheit gemein­sam schuldig geworden ist, und daß sie deswegen sich darüber besinnen muß, was sie jetzt noch tun kann.

Von da aus gesehen würde ich sagen: Einerseits keine missionarischen Aktivitäten, auf der anderen Seite wahre Solidarität! Das wichtigste Christuszeugnis, das die Christenheit in echt missionarischem Verständ­nis ihrer Sendung gegenüber Israel hätte, wäre die einer bedingungslosen Solidarität, einer Solidarität, um die in allen Bereichen gerungen werden müßte, und die vor allem imstande wäre, den verhängnisvollen Antise­mitismus, der den Menschen so tief innewohnt und gerade auch in der Geschichte der Christenheit sich tief eingefressen hat, auszurotten.

Darum muß das Gespräch geführt werden als ein Gespräch aus der Solidarität – sagen wir des gemeinsamen Glaubens an den einen Gott und an die Gottesverheißungen, aus dem gemeinsamen Glauben an das gemeinsame und verbindende Gebot Gottes und an den Bund. Die Bundestheologie Karl Barths jetzt ins Spiel zu bringen, wäre natürlich eine große Sache. Gerade in seiner Dogmatik ist ja seine Bundestheolo­gie die Überwindung dessen, was in herkömmlicher Weise über den Alten und Neuen Bund gesagt worden ist. Denn hier sind ja die Meinungen aufgekommen, in denen man letzten Endes der Überzeu­gung war, die bei den Deutschen Christen dazu führte zu sagen: „Fort mit dem Alten Testament! Was haben wir damit zu tun? Es ist ein Judenbuch, das uns gar nichts angeht.“ Dies ist freilich nicht erst im 20. Jahrhundert gesagt worden, sondern auch schon vorher. Ein Gespräch kann nur dann überhaupt geschehen, wenn es in dieser Solidarität eben auch eine Solidarität der Liebe gibt, die gerade aus diesem Grunde heraus gar nichts anderes will, als das, was zur Liebe gehört, eben diese bedingungslose Annahme des Bruders, in der es um gar nichts anderes geht als um ihn selbst.

Ich meine, daß damit eigentlich das Wesentliche, was hier gesagt werden könnte, gesagt worden ist. Ich möchte alles andere, was mir sonst noch am Herzen liegt, beiseite lassen. Ich hoffe, daß die Hauptsa­che doch herausgekommen ist und daß das auch verstanden worden ist, so gewiß das Ganze mehr aus Fragmenten besteht, denn wir sind ja hier tatsächlich noch auf dem Wege und im Ringen um die rechten Erkennt­nisse und um den rechten Weg, der hier beschritten werden muß, zumal wir in unserer eigenen Kirche noch mit denjenigen in einer Diskussion stehen, die diesem allem zumindest mißtrauisch gegenüberstehen.

Der Bruderrat der EKD, früher Reichsbruderrat genannt, brachte 1948 ein Wort zur Judenfrage heraus, das nun eben gerade doch nicht zu dem durchgedrungen ist, was in der Theologie Karl Barths am deutlich­sten zum Ausdruck gebracht wurde, und was darin meiner Ansicht nach den wahren biblischen Grund hat, nämlich die Zusammengehörigkeit und die Gebundenheit aneinander von Israel und der Kirche als den beiden Gestalten der einen Gemeinde Gottes. Das zeigt, wie stark in unseren Kirchen selbst dies noch nicht ausgereift ist, wie da erst etwas überwunden werden muß, was noch lange nicht durch ist. Das sieht man auch an solchen gegensätzlichen Äußerungen, die in einer schönen Schrift, die ja wirklich gute Stücke enthält, „Juden, Christen, Deut­sche“, auch zum Ausdruck kommen. Was hier an einer Stelle gesagt wird unter dem Stichwort „Begegnung statt Mission?“ von Karl Hein­rich Rengstorf, das zeugt von einer gewissen Verlegenheit, weil der Theologe so recht in dieser Situation keinen Ausweg weiß, was er nun sagen soll, und das ist ergreifend an seinen Darbietungen. „Welchen Sinn kann das christliche und jüdische Gespräch für die Christen haben?“ heißt die Frage, und was er dazu schreibt, ist für mich unzulänglich, während das, was Ernst Ludwig Ehrlich schreibt als Jude: „Welchen Sinn kann das Gespräch für Juden haben?“ meine volle Zustimmung findet. Es ist ganz ausgezeichnet, was er hier schreibt über das Gespräch. Das müßte ein Christ geschrieben haben, dann wäre es genau richtig. Es ist merkwürdig, daß wir in einer durch solche Gegensätze bestimmten Situation heute noch stehen. Inzwischen ist auch in der Römisch-Katholischen Kirche eine Morgendämmerung in dieser Frage angebro­chen, und zwar wurde auf dem Konzil etwas verfaßt, freilich theologisch an einer völlig verkehrten Stelle. Vielleicht interessiert Sie das, diese Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen zu hören. Es ist zwar verkehrt, wenn man hier von den Juden spricht. Sie haben doch keine nichtchristliche Religion! In der Erklärung des Konzils kommt erst eine Stellungnahme zu den Buddhisten und Hinduisten und anderen großen Religionen. Dann kommt der Islam, und da wird behauptet, daß wir mit dem Islam denselben Gott anbeten. Das ist eine Frage, aber lassen wir sie auf sich beruhen. Dann kommt die jüdische Religion. Von jüdischer Religion zu sprechen, ist zwar ein Problem für sich, aber was der erste Satz hier sagt, ist eine erstaunliche Leistung: „Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.“ Das Ganze, was jetzt kommt, hätte eigentlich in die Lehre von der Kirche gehört. Aber es ist woandershin abgedrängt worden, und zwar schon deswegen, weil man hierüber ja so lange gestritten hat. Hier ist wirklich um jeden Buchstaben gerungen worden, bis herauskam, was hier jetzt zu lesen ist, wozu einige beklagenswerte Vereinfachungen gehören. Aber immerhin, respektabel sind einige Sätze, z. B. die bekannten Worte, die ja berühmt geworden sind: „Wie die Schrift bezeugt, hat Jerusalem die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt, und ein großer Teil der Juden hat das Evangelium nicht angenommen, ja, nicht wenige haben sich seiner Ausbreitung widersetzt. Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis des Apostels immer noch von Gott geliebt um der Väter willen.“ Wir sehen, inzwischen ist auch dieser Satz des Neuen Testa­mentes durchgedrungen. – „Sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich. Mit dem Propheten und mit demselben Apo­stel erwartet die Kirche den Tag, der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm einträchtig die­nen.“ (Weisheit Salomons 3,9) „Da also das Christen und Juden gemein­same geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist.“ Auch hier Gespräch! „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiß ist die Kirche das neue Volk Gottes. Trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern.“ Wiederum ein wichtiger Satz! „Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgun­gen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Grün­den, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemanden gegen die Juden gerichtet haben.“ In diesen letzten Sätzen ist ein sehr verschwiegenes Schuldbekenntnis enthalten. Leider ist der Satz, der hier ursprünglich stand, der stärker und kräftiger war, nämlich, daß die Kirche nicht nur beklagt, sondern daß sie das als ihre Schuld bekennt, geändert worden. Das ist bedauerlich. Immerhin, es wird beklagt, und es wird ja mit einer großen Kraft gesagt, was die Kirche bis dahin so noch nicht gesagt hat. Sie hat sich damit ja in einer gewissen Weise gegenüber ihrer eigenen Geschichte festgelegt. Sie hat nämlich damit zumindest gesagt: Wenn unsere Väter das getan haben, so verurteilen wir das heute. Das hat sie getan, und das war für das Konzil eine beachtenswerte Leistung.

Ich denke, daß ich damit auf alles Wesentliche aufmerksam gemacht habe, was hier jetzt zu sagen war. Lassen Sie mich dieses Fragment nun eben so schließen, wie Fragmente am Ende sind. Wir sind noch nicht am Ende, aber wir können jetzt vielleicht im Gespräch fortfahren, damit wir besser verstehen, was das Thema von uns fordert.

Gehalten als Vortrag auf der Mitgliederversammlung Nes Ammim am 25. November 1966 in Mülheim/Ruhr.

Quelle: Joachim Beckmann, Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit. Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte 1946-1974, AKIZ.B 10, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1981, S. 284-298.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar