Über den Thymos und dessen Auswirkungen: „Wo der wählerische Homo optativus immer weniger für sich selbst erreichen kann und immer mehr zu verlieren hat, lässt die Verlusterfahrung den Thymos über sich herauswachsen. Als Populismus oder Haltungsaktivismus kollektiviert zersetzt er in seinem Eifer den Gemeinsinn, senkt Toleranzschwellen und lässt Konflikte eskalieren. Ist die kommunikative Vernunft nicht länger einem kollektivierten Thymos gewachsen, zerfällt ein demokratischer Verfassungsstaat in einen Tribalismus oder wird durch eine Diktatur ersetzt.“

Über den Thymos und dessen Auswirkungen

Von der anthropologischen Tradition her unterscheidet man bezüglich des Menschseins zwischen Geist (pneuma/spiritus) bzw. Vernunft (nous/intellectus/mens), Seele (psyche, anima) und Leib (soma, corpus). Der Mensch ist demzufolge ein vernunftbegabtes, beseeltes sowie leibliches Lebewesen. Die Beseelung verbindet ihn mit den Tieren (animals); die Vernunft hebt ihn als animal rationale (zoon logikon) über die Tiere.

Was bei diesem Modell außer Acht bleibt, ist eine Lebensenergie, die weder physiologisch noch psychologisch zu erfassen ist. Zwar spricht man bezüglich der Regungen der Seele von Affekten bzw. Emotionen (im Sinne eines widerfahrenden pathos), aber damit wird nicht dem inneren Antrieb eines Menschen Rechnung getragen, für den in der frühgriechischen Epik, beispielsweise bei Homers Ilias, der Begriff thymos (θυμός) steht. Der thymos ist sowohl verlangende Lebensenergie, die Handlungen auslösen kann, wie auch Organ menschlicher Stimmungen und Regungen.[1] Ihn gilt es zu bändigen bzw. zu beherrschen, entspricht er doch nicht einem zielgerichteten Willen bzw. Wollen (boulêsis/voluntas). Sollte man im Deutschen nach einem passenden Begriff suchen, wäre bis in die frühe Neuzeit vom „Mut“ zu sprechen. Aber nachdem bei „Mut“ eine Bedeutungsverengung auf eine unerschrockene Haltung gegenüber Wagnis und Gefahr erfolgt ist, lässt sich thymos nicht übersetzen, auch nicht als „Zorn“. Als Fremdwort muss der Thymos sprachlich zur Geltung kommen.

In der Bibel kommt die Macht des Thymos im Gotteswort an Kain zur Sprache: „Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, darfst du aufblicken; wenn du nicht gut handelst, lauert an der Tür die Sünde. Sie hat Verlangen nach dir, doch du sollst über sie herrschen.“ (Genesis 4,6f) Es sind nicht (diffuse) Emotionen und Affekte, die einen Menschen vereinnahmen und antreiben. Vielmehr ist der Thymos mit seiner Energetik handlungsbestimmend, wie es sich bei Saul im Hinblick auf David nachvollziehen lässt (vgl. 1.Samuel 18-28). Er gebiert den Zorn, sucht Vergeltung und Rache, handelt aus Kränkung und will Genugtuung. So geht er in den Konflikt mit anderen Personen und sucht sich an diesen auszuwirken: Empören, Verurteilen, Schmähen, Beleidigen, Schädigen, Demütigen, Besiegen, Verletzen, Quälen, Töten und Vernichten – all dies sind thymotische Zufügungen.

Der Thymos wird nicht nur durch Interaktionsgeschehen stimuliert; er kann auch durch Identifikationen, Identitäten und Ideologien genährt werden. In der Begegnung bzw. Versammlung mit anderen wie auch über soziale Medien wird der eigene Thymos mittels Konsonanz angeregt und verstärkt. Als nachhaltiges bzw. sich vervielfältigendes Resonanzgeschehen lässt er Konflikte gesellschaftlich ausweiten bzw. in Kriege überführen.

Thymotisch induzierte Positionierungen werden mit „vernünftigen“ Gründen versehen und darin in ihrem Geltungsanspruch verstärkt. So sieht sich der durchrationalisierte Thymos im Recht und verschließt sich kritischen Rückfragen und Entgegnungen. Er findet Resonanz und Rückhalt bei Gleichgesinnten, wird kollektiviert und verdichtet.

Sportliche Wettkämpfe und Spiele lassen einen kollektiven Thymos auswirken, sei es bei einer Mannschaft oder aber bei den Zuschauern am Spielort oder vor den Bildschirmen. Bei einem Fußballspiel im vollgefüllten Stadion, wo sich nicht nur zwei Mannschaften, sondern auch zwei Zuschauergruppierungen gegenüberstehen, kommt der Thymos als Resonanzgeschehen kollektiv zur Entfaltung. Das agonale Ballgeschehen auf dem Rasen, das auf zwei Toren ausgerichtet ist, bewegt Spieler wie Zuschauer in einer Intensität, die seines gleichen sucht. Wer sich regelkundig mit einer der beiden Mannschaften identifiziert und dies im Verbund mit anderen Zuschauern zum Ausdruck bringt, wird selbst in das Spielgeschehen als die – momentan – alles bestimmende Wirklichkeit hineingenommen.

Was den Thymos bei einem Ballspiel in aller Regel gut gehen lässt, ist die sanktionsbewehrte Regelbindung des Spielgeschehenes, für die ein Schiedsrichterteam verantwortlich ist: Sieg, Niederlage oder Unentschieden nehmen den Thymos schlussendlich aus dem Spiel.

Außerhalb eines Spielgeschehens zeigt der Thymos seine destruktive Wirkung hinsichtlich der Gesellschaft. Wo der wählerische Homo optativus immer weniger für sich selbst erreichen kann und immer mehr zu verlieren hat, lässt die Verlusterfahrung hinsichtlich eigener Selbstwirksamkeiten den Thymos über sich herauswachsen. Als Populismus oder Haltungsaktivismus kollektiviert zersetzt er in seinem Eifer den Gemeinsinn, senkt Toleranzschwellen und lässt Konflikte eskalieren. In der eigenen Selbstgerechtigkeit kennt er keine Verlustrechnungen; die Schadenfreude triumphiert. Ist die kommunikative Vernunft nicht länger einem kollektivierten Thymos gewachsen, zerfällt ein demokratischer Verfassungsstaat in einen Tribalismus oder wird durch eine Diktatur ersetzt.

„Selig die Sanftmütigen; / denn sie werden das Land erben.“ (Matthäus 5,5) Was Jesus in seiner Seligpreisung zuspricht, lässt mit dem eigenen Thymos zurechtkommen. Mit seinem Heilandsruf legt er unserem Leben seine Sanftmut auf: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ (Matthäus 11,29)


[1] Vgl. Norbert Blößner, Art.: Thymos (griech. θυμός), HWP, Bd. 10 (1998), Sp. 1187-1192; bzw. Riek van Bennekom, Art. θυμός, Lexikon des frühgriechischen Epos (1991), Sp. 1077-1090.

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