Dietrich Ritschl, »Story« als Rohmaterial der Theologie (1976): „Der »story« kommt unter allen Sprechweisen für die Theologie eine ganz besonders hohe Bedeutung zu, die im folgenden analysiert werden soll. Nicht, daß die Theologie selbst sich in »stories« artikulieren solle (eine »narrative Theologie« ist – genau genommen – eine Fehlbezeichnung), aber sie hat es ganz wesentlich mit »stories« zu tun.“

»Story« als Rohmaterial der Theologie

Von Dietrich Ritschl

In der hier vorliegenden Arbeit bespreche ich nur einen Teil des »Rohmaterials« der Theologie. Die Theologie beschäftigt sich auch noch mit anderen Rohmaterialien als mit den »stories« der Bibel, der Kirche und ihrer Gruppen und einzelnen Mitglieder, bzw. der Detail-»stories«, die solche »stories« ausmachen; ja sie beschäf­tigt sich zum nicht geringen Teil mit Bearbeitungen, Systematisie­rungen und Verknüpfungen solcher »stories«, in denen oft schwer »story«-Rohmaterial erkennbar ist. Aber doch kommt der »story« unter allen Sprechweisen für die Theologie eine ganz besonders hohe Bedeutung zu, die im folgenden analysiert werden soll. Nicht, daß die Theologie selbst sich in »stories« artikulieren solle (eine »narrative Theologie« ist – genau genommen – eine Fehlbezeichnung), aber sie hat es ganz wesentlich mit »stories« zu tun.

Zu Beginn eine kleine Entschuldigung: für das englische Wort »story« kann man auch mit großen Mühen keine angemessene, kurze deutsche Übersetzung finden. Die mit »Geschichte« zusam­menhängenden Worte sind zu sehr befrachtet und zu breit, die mit »Erzählung« verbundenen zu farblos und zu eng. Wenn man aber bedenkt, daß theologische Texte generationenlang mit la­teinischen Wörtern gespickt waren, sollte man über ein schönes und typisch englisches Wort auch nicht stolpern. Es wird im folgenden ohne Anführungszeichen und in Kleinschreibung ver­wendet.

1. Vorfragen zum Thema

Die reichlich formalistische Analyse der verschiedenen Arten und Funktionen von story soll mit der Frage nach der Identität des story-Erzählers, also der Identität eines Menschen oder einer Gruppe, ständig verbunden werden. Diese praktische Anwen­dung erleichtert dem Leser die Beurteilung und Kritik des hier vorgelegten story-Konzeptes. Zunächst sollte aber zweierlei kurz skizziert werden: die Entstehung meines Interesses am story-Begriff überhaupt sowie meine Vorstellung des Gesamtaufrisses der Theologie, in dem den stories ein bestimmter Platz zukommt.

1.1. Interesse am Thema

Die Verbindung des story-Konzeptes mit Fragen der menschlichen Identität könnte einen vermuten und erwarten lassen, im folgenden eine Diskussion z.B. über E. Durkheim, C. Lévi-Strauss oder George H. Mead zu finden. Dies ist aber nicht der Ursprung meines Interesses. Ich bin zwar diesen Autoren auch verpflichtet – und unter den Sozialwissenschaftlern besonders Alfred Schütz – aber meine Neugierde über die Funk­tion von stories reicht zurück zu meinem ersten Kontakt mit der analytischen Philosophie[1] und zu den Jahren, als ich biblische Exe­gese lehrte. Es war in regelmäßigem Austausch mit James Barr[2], jetzt in Oxford, und James A. Wharton[3], jetzt in Houston, daß die Funktion der story mehr und mehr ins Zentrum meiner Aufmerk­samkeit rückte und dann in den verschiedensten Bereichen der Anwendung überprüft wurde. Dabei wurde mir auch immer deut­licher, wie bedeutend der Unterschied zwischen Exegese und Theologie ist und daß es eine »nacherzählende Theologie«, die unter dem Eindruck der großen Leistungen der alttestamentlichen Wissenschaft immer mehr gefordert wurde, eigentlich nicht geben könne. Eine erste Anwendung meines story-Konzeptes (im Bereich des Verständnisses der Gegenwart im Licht der Erinnerung und der Erwartung) wurde 1967 in »Memory and Hope«[4] dargeboten, eine zweite (im Gebiet der Anthropologie) in »Man in Nature and History«, einem Studienpapier für »Faith and Order« von 1968, eine dritte (in Beziehung zur Frage Tradition/Traditionen) in einem Aufsatz im Jahr 1971[5]. Seither habe ich mit dem Konzept der story auch im Gebiet der medizinischen Ethik[6] experimentiert in Kursen, die 1974 am Medical Center in Houston gehalten wurden. Schließlich ist das Thema Gegenstand eines Studienpapiers für das Ökumenische Institut in Bossey Anfang 1975 gewesen.

1.2. Story und Theologie

Nun – zweitens – zur Position der story im Gesamtaufriß der Theologie. Theologie hat (im Denken sowie im Beten – zwei im Westen so stark auseinandergerissenen Aktivitäten) in Bezug auf Gedanken und Taten, besonders der Juden und Christen, in Vergangenheit und Gegenwart die Auf­gaben

  1. der Klarifikation (der Kommunikation dienend)
  2. der Kohärenzprüfung (der Logik und Ethik verpflichtet)
  3. der Reflexion über Grenzen der Flexibilität heutiger Artikula­tion (die Tradition beachtend), und
  4. der Stimulierung neuer Gedanken und des Auffindens neuer Orientierungen.

Diese Aufgaben (mindestens a-c) kann eine story nicht leisten, von seltenen Ausnahmefällen abgesehen. Stories liegen »vor« diesen Operationen. Sie können in Credos summiert werden und bruch­stückweise wiedererscheinen. Aber die Auseinandersetzungen um die Interpretation und die richtige Anwendung der Credos oder ähnlicher Zentralsätze im Zusammenhang der jeweiligen ge­schichtlichen und sozialen Situation löst einen Verstehensprozeß aus, der ganz anderer und viel komplexerer Art ist als eine story oder auch noch so kunstvolle Verknüpfung verschiedener stories. Dieser Prozeß umfaßt die Bildung von Theorien und hypotheti­schen Sätzen, ohne die z.B. eine Kohärenzprüfung oder eine Klarifikation gar nicht möglich wäre. Die Theoriebildung ihrerseits ist abhängig von regulativen Sätzen[7]. Es ist nun freilich nicht so, daß stories diese komplexen intellektuellen Operationen gar nicht mehr berühren könnten: sie sind nicht nur als regulär verarbeitetes »Rohmaterial« in theologischen Denkprozessen vorhanden, sie treten auch als das Irreguläre auf, das die Symmetrie und Ruhe theologischer Gedanken stören und auf die Anfänge zurückwer­fen kann. Hierin liegt die Schönheit und das Risiko theologischer Arbeit, daß solche Störungen (etwa durch die stories der Leiden­den in Chile oder Angola, durch eine Abraham-Geschichte, durch die story meines Kindes) die regelmäßige Gedankenarbeit in Zweifel ziehen oder verändern kann und daß dann auch diese Störungen und Veränderungen ihrerseits wieder legitimes Thema theologischer Verstehensarbeit sein müssen!

1.3. Kunst in der Theologie

Diese kurz skizzierten Überlegun­gen führen zu der Einsicht, daß sich die Theologie nur strecken­weise wissenschaftlich verhält; auf manchen Strecken und an ent­scheidenden Kreuzungen verhält sie sich wie die Kunst (wozu allerdings sogleich bemerkt werden muß, daß auch dieses Ver­halten wissenschaftlich überprüft werden kann). Die Kunst aber ist frei von manchen Zwängen, die der Suche nach einer alle Weg­strecken begleitenden Wissenschaftlichkeit eigen ist. Die Kunst duldet nicht nur, sondern lebt von der Phantasie; sie will den Respekt vor anderen Entwürfen; sie berechnet nicht den Wert des Endproduktes, weil das Element des Spielerischen in ihr dies nicht zuläßt; und mehr noch, sie hat die Leichtigkeit, die Vorstel­lung zu erlauben, es könnte auch alles ganz anders sein[8]. Dieser Faktor des Arbiträren, der künstlerischen Freiheit vergleichbar, läßt sich schon bei der Selektion der stories nachweisen, die zum Traditionsgut des Alten und Neuen Testaments wurden, und weiter noch, die den Themenbereich der Alten Kirche ausmachten. Was ich hier sagen will, ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit: die Theologie ist in der Selektion und Rezeption ihres Materials, so­gar ihrer Kriterien und regulativen Sätze, viel mehr nicht-wissen­schaftlichen Motiven gefolgt, als sie es jeweils wahrhaben wollte. Das liegt zum Teil am story-Charakter des Materials der Theologie.

2. Vorläufige Klärungen und Fragen

Die zunächst provokativ angemeldeten theologischen Fragen ver­langen nach einer eingehenden Analyse des Sinnes und der Funk­tion von story überhaupt. Was ist eigentlich eine story, welche Typen gibt es, wie funktionieren sie? Wie zeigen sie die Identität ihrer Erzähler an, oder umgekehrt: wie schaffen sie Identität bei den Hörern? Dazu sind einige Überlegungen grundsätzlicher Art zur Sprache sowie zum Begriff Identität nötig.

2.1. Über Sprache

Es soll hier keine allgemeine Sprach­theorie entwickelt werden. Es ist aber doch nötig, auf die Ergeb­nisse und Reflexionen in Soziologie, Psychologie und vor allem Sprachphilosophie kurz hinzuweisen: daß Sprache (auch im wei­teren Sinn verstanden als Gebärden-, Zeichen- und Signalsprache) nicht nur ein Mittel der berichtenden und informierenden Kommu­nikation ist. Sprache ist unrichtig definiert, wenn sie nur als Be­schreibung des Wirklichen verstanden wird. Sprache zeigt nicht nur an, sie schafft und bewirkt auch; sie beschreibt nicht nur, sie produziert auch. Sprache kann nicht nur etwas für gut oder böse erklären, sie kann auch gut oder böse herstellen. Sie kann be­freien und fesseln, freisprechen und verurteilen, Hoffnung begrün­den und Träume zerstören. Sie kann Wirklichkeit herstellen, die nur erhofft war, und kann etwas vernichten, was schon Wirklich­keit war. Für die Sprache – wenn man das so sagen kann – sind Wirklichkeit und Wahrheit durchaus nicht dasselbe. Sprache kann Kontinuität des Kontaktes zwischen Menschen herstellen, aber auch auflösen. Die Tatsache, daß Menschen »Sprache haben«, daß sie sich in Sprache ausdrücken und selbst entwerfen können, daß sie Erinnerungen nahebringen und sich selbst in Hoffnungen projizieren können – das zeigt am deutlichsten das »Humanum« an.

Die schöpferische, auch Wahrheit entdeckende und Wirklichkeit schaffende Funktion der Sprache hat schon Wilhelm von Ockham beschrieben, und besonders eindrucksvoll Wilhelm v. Humboldt, lange bevor G. Frege, B. Russell und L. Wittgenstein die heute so genannte Sprachphilosophie begründeten, die ja eigentümlich lange der Vorstellung verhaftet war, Sprache beschriebe vorhan­dene Entitäten und sei also nur sinnvoll angewandt, wenn sie sich empirisch verifizieren lasse.

Freilich muß man zurückhaltend sein mit Verallgemeinerungen über »Sprache« (oder »Wort« bei den Theologen). So haben sich auch Sprachphilosophen – ihnen allen voran Ockham – vor allem auf die Analyse von »Sätzen« konzentriert. Diese Entscheidung brachte aber eine einseitige Hinwendung zum geschriebenen Wort mit sich (die ja auch für die Theologen bezeichnend ist), also zugleich eine Abwendung vom Gesprochenen, mündlich Tradier­ten, oder durch Nacherzählung veränderbaren Sprechen. Ob diese Wendung glücklich war, müßte noch besonders verhandelt werden. Tatsächlich geschieht Sprache ja vieltausendmal öfter ge­sprochen als geschrieben[9]. Wir werden später auf dieses Phäno­men im Zusammenhang der Frage der Nacherzählung von stories zurückkommen müssen.

2.2. Über »Sprachstrom« und story

Um kurz noch einmal zum verallgemeinernden Reden über »Sprache« zurückzukehren: durch den »Sprachstrom« – das Ganze der Sprache, einschließlich Ge­sten, Symbolen und Gebräuchen – in dem und durch den Men­schen leben, werden sie zu historisch bewußten Wesen, nicht um­gekehrt. Sprache »trifft« uns, wenn man so will, von hinten und von vorne: wir hören sie und lernen sie, und wir sprechen und lehren sie. Wir steigen in sie wie in einen Strom ein und leisten unsern Beitrag zu seinem weiteren Fließen. Wir leihen uns Material der Vergangenheit, um damit die Zukunft zu gestalten. Oder: während wir selbst geformt werden, formen wir.

Solche und andere allgemeine Beobachtungen über Sprache sind anwendbar auf fast alle Sprachformen, z.B. Beschreibungen, Re­porte, Definitionen, Ausrufe, Erzählungen, Ermahnungen, etc. Die verschiedenen Sprachphilosophien haben immer wieder die An­strengung unternommen, alle Sprachformen auf einige wenige Typen zu reduzieren. Solche Reduktionen gelingen nie vollständig und in eindeutiger Abgrenzung und sind zudem abhängig von anthropologischen Grundentscheidungen. Will man besonders abheben auf zwischenmenschliche Kommunikation, auf Sach- und Wirklichkeitsbezüge, auf Wahrheit (und Verifizierbarkeit), oder auf überprüfbare Eindeutigkeit des Sinns von Sätzen? Jeder dieser Ansätze kann zu verschiedenen Kategorisierungen führen. Man kommt in dieser Schwierigkeit etwas weiter, wenn man zwi­schen primärem und sekundärem Gebrauch von Worten oder Sätzen unterscheidet, wie das etliche Vertreter der »ordinary language school« tun. Denn sicherlich kann eine Satzreihe, die primär ein Bericht ist, sekundär eine Ermahnung sein, usw. Aber es bleibt schwierig, allgemeine Kriterien für den primären und sekundären Gebrauch anzugeben, d.h. aber, daß es schwierig ist, das über­lappen der verschiedenen Gebrauchsformen von Sprache syste­matisch zu erklären. Trotz der hier genannten, unbestreitbaren Schwierigkeiten möchte ich bei der von mir schon lange verwen­deten Unterscheidung zwischen zwei primären Gebrauchsfor­men von Sprache bleiben, die mir für die Theologie von entscheidender Wichtigkeit zu sein scheint: der Unterscheidung zwischen berich­tender Sprache (reporting language) und Anrede-Sprache (address language). Auch hierbei ist freilich nicht auszuschließen, daß ein Report sekundär als Anrede funktionieren kann, und umgekehrt. In der Benennung dieser beiden Gebrauchsweisen ist aber eine gewisse Exklusivität mitgegeben; es wird der Anspruch erhoben, daß sich alle Gebrauchsweisen von Sprache so oder so in eine der beiden Gruppen einordnen ließen, einschließlich des Ge­brauchs von Eigennamen, des (vielleicht) einzig nicht-metaphori­schen Gebrauchs von Worten. Man kann sich natürlich fragen, welchen Erkenntnisgewinn eine solche Einteilung bringt. Hier wird man auf den Zusammenhang mit anthropologischen Grundent­scheidungen verweisen müssen. Die berichtende Sprache – und in­nerhalb dieser Kategorie als die wichtigste und auch ursprünglich­ste Form die story – drückt die Identität von Gruppen oder einzel­nen Menschen aus, während die anredende Sprache die Identität des Angeredeten bezeichnet oder gar schafft. Hier kann allerdings keine Ausschließlichkeit beansprucht werden, denn freilich gibt es Berichts-Sprache, die keine menschliche Identität ausdrückt (Labor- Reporte etwa) und Anrede-Sprache, die den Angeredeten nicht bezeichnet oder modifiziert.

In der Theologie erscheinen diese beiden Primär-Formen von Sprache am typischsten in der Form der story einerseits und des Lobes, der doxologischen Sprache andererseits. Hier ist das »Roh­material« der Theologie in zweifacher Gestalt zu finden. Die obige Bemerkung muß aber nochmals wiederholt werden: ein Report kann auch (sekundär) als Anrede funktionieren, und An­reden des Lobes können auch aus stories bestehen, wie so oft in den Psalmen. Trotzdem ist die Unterscheidung der beiden primären Gebrauchsformen von Sprache sinnvoll. Im folgenden wenden wir uns hauptsächlich der ersten der beiden Formen zu, der berich­tenden Sprache, und innerhalb dieser Form der story[10]. Bei dieser Zweiteilung allen Primärgebrauchs von Sprache ist der story be­nachbart etwa die erklärende Erläuterung (und ihr untergeordnet die Summierung) sowie auch Theorien (und ihnen untergeordnet Definitionen u. ähnl.), auch Lehr-, Formal- und Metasprachen jeder Form. Unter ihnen allen aber scheint der story die Eigenschaft der Ursprünglichkeit am ehesten zuzukommen. Erläuterungen, Defini­tionen und Theorien etc. setzen den einfachen Sprechakt der story und den damit gegebenen Erkenntnisgewinn voraus.

Narrationen, also stories im weitesten Sinn, sind die Sprachfor­men, die der allgemeinen Charakterisierung der Sprache als »Strom« am typischsten entsprechen. Stories haben eine Bewegung zu einem Ende hin, sie haben eine innere Kontinuität, die nicht an die Verwendung von bestimmten Wörtern und Sätzen gebun­den ist. Man kann sie erzählen und nacherzählen. Sie bringen also – en miniature – den Charakter der Sprache als »Strom« zum Ausdruck. »Anfang« und »Ende« sind nicht immer als markante Punkte erkennbar. Stories können auch in Kreisen und immer neu ansetzenden Wiederholungen erzählt werden, wie jeder weiß, der etwa in Afrika oder im Orient Menschen hat erzählen (oder Pfarrer predigen!) hören. Ähnlich könnte man auch in unserer Kultur über die Gestalt von erzählten Krankengeschichten und dgl. urteilen. Aber es geht hier nicht primär um die äußere Logik von stories, sondern um ihre innere Kontinuität, mit der offenbar die Nacherzählbarkeit – auch bei Wahl anderer Worte und bei Umstellung der Reihenfolge der Teile – gegeben ist (mit der Nach­erzählbarkeit ist auch die Institutionalisierbarkeit ermöglicht)[11].

Wenn also die Sprache im weiten Sinn das entscheidende Merk­mal des »Humanum« ist und wenn ferner stories im weitesten Sinn der allgemeinen Charakterisierung von Sprache sehr typisch ent­sprechen, so stellt sich die Frage, ob stories, wenn sie mit »Lebens­geschichten« und Erfahrungen von Personen oder Gruppen thema­tisch Zusammenhängen oder solche Geschichten darstellen, als die geeignete, ja, am besten geeignete Form des Ausdrucks der Iden­tität eines Menschen (oder einer Gruppe) bezeichnet werden kön­nen? Das ist in der Tat die These. Das Idiom »story« ist anderen Ausdrucksweisen, z.B. Definitionen von »Natur« und »Wesen« und dgl. überlegen, wenn menschliche Identität artikuliert werden soll: ich (oder meine Grup­pe) bin in meiner story erkennbar. Wenn ich sie erzähle – auch abgekürzt auf das Typische zusammengefaßt oder durch Auswahl von Einzelstories repräsentiert – so gebe ich mich selbst zu erkennen und erlaube damit anderen, mich an mei­ner story zu behaften. Anstatt meine Frau oder meinen Freund zu »definieren« oder das »Wesen« der Ehe darzulegen, erzähle ich die story, die wir gemeinsam haben und die zum Teil das aus­macht, was wir sind. So war Israel angewiesen, stories zu erzäh­len, »wenn in Zukunft eure Kinder fragen: ›was bedeuten diese Steine da‹?« (Jos 4,21), oder »wenn dich dann künftig dein Sohn fragt: ›was sollen denn die Verordnungen, die Satzungen und Rechte …‹?« (Dtn 6,20 und öfter)[12]. In Israels Erzählungen geht es freilich nicht nur um die Identität Israels. Wir müssen später auf den Nachrichten-vermittelnden Charakter von stories eingehen. Vorerst ist die Identität-vermittelnde Funktion von Interesse: das Öffnen meiner story für andere ist notwendige Voraussetzung für Partnerschaft, für die gegenseitige Partizipation an unseren sto­ries. Das Bewahren eines Teils meiner story oder meiner stories bei mir ist Ausdruck meiner Privatheit. Das Respektieren der unerzählten stories des anderen ist Ausdruck meiner Achtung vor seinem Privaten.

2.3. Über menschliche Identität

Auch hier ist eine kurze Vor­klärung nötig, die den hier verwendeten Gebrauch des Terminus Identität dartut. Im engeren Sinn – als der eigentliche Grund­begriff – in der Logik zu Hause, wird der Terminus auf dem Weg über anthropologische und psychologische Reflexionen über das Ich (Selbstidentität, etc.) in sozialphilosophischen Arbeiten, haupt­sächlich von Amerika ausgehend, heute in dem viel breiteren Sinn des Kennzeichens von Gruppen oder Individuen gebraucht. Dabei hat »Identität« im allgemeinen den Sinn des Gegensatzes zu »Wechselhaftigkeit« erhalten, nicht zu Nicht-Identität, wie in der Logik. Der Begriff »Wechsel« wiederum lädt auf verschiedenen Ebenen zu allerhand Definitionen und entsprechenden Anwen­dungen ein. Mit Aristoteles kann man zur Logik des Wechsels auf die Veränderungen in Quantität, Qualität, Lage und Substanz verweisen. Man kann im Wechsel auch die Regelmäßigkeit su­chen und deren Kriterien beschreiben. Und man kann das eine oder beides – immer im Gegensatz zur »Identität« – psycho­logisch oder mit den Fragen der Soziologie angehen. Aber bei jeder Anwendung auf die Anthropologie muß die Frage nach dem »Gleichbleiben im Wechsel« gestellt werden (eine theolo­gische Frage schon in der griechischen Patristik, heute in der Process Theology), genauer: die Frage nach dem, was in allem Wechsel gleich bleibt. Unter Ausklammerung theologischer Fra­gen beobachten wir zunächst die äußerlich trivial scheinende Tat­sache, daß ein Mensch in lebendiger Verbindung zu seinem Freund, ein Ehepartner, eine Gruppe oder Gemeinschaft mit Er­innerungen und gemeinsamen Aufgaben ja »sie selbst« gerade darin bleiben, daß sie sich ändern und nicht »gleich« bleiben wie ein lebloser Stein. Wechsel und Entwicklung, Wachstum und Pro­zeß sind gerade die unentbehrlichen Begriffe bei der Beschrei­bung menschlicher Existenz, also menschlicher Identität. »Iden­tität« soll also hier stehen für das Merkmal der Erkennbarkeit oder Wieder-Erkennbarkeit, nicht für inneres »Wesen« oder für Substanz. Identität soll das heißen, was als Eindruck und Merkmal für eine Gruppe oder ein Individuum typisch bleibt, wenn sie sich selbst zu beschreiben versuchen oder von anderen beschrieben werden. Es entspricht nun der bisherigen Argumentation, wenn gesagt wird, daß die sprachliche Form der Narration, der story, eben dieser Dynamik allein gerecht werden kann.

Ebensowenig wie die einleitenden Bemerkungen zur Funktion der story und zur Sprache eine allgemeine Theorie der Sprache skiz­zieren sollten, sind die eben genannten Beobachtungen zur story und Identität als Grundpfeiler einer allgemeinen Anthropologie gemeint, nicht einmal der theologischen. Allerdings wird im folgenden doch von der Vermutung ausgegangen, daß ein theo­logisch orientierter und informierter Zugang zu anthropologi­schen Reflexionen bedeutend erleichtert wird, wenn die genann­ten Konzepte angewandt und voll genützt werden. Umgekehrt ist ein philosophisch informierter Zugang zur theologischen Refle­xion über den Menschen (und im besonderen über das Credo der Menschen in Israel und der Kirche) durch die Anwendung des story-Konzeptes entscheidend erleichtert. Damit meine ich konkret: wer nicht »phänomenologisch«, d.h. in unserm Zusam­menhang zunächst einmal unter Absehen von theologischen oder anderen Interessen, die Unterschiede zwischen berichtender Spra­che und Anrede, zwischen verschiedenen story-Typen und ihren Summierungen, daraus resultierenden Definitionen etc., beobach­tet und darüber reflektiert hat, wird mit großer Wahrscheinlich­keit die Artikulation der Identität Israels und der Kirche, also abgekürzt gesagt: das Alte und das Neue Testament, mißverstehen und auch den, den Israel und die Kirche anreden. Das gilt nicht nur für Opponenten, wofür neuerdings Jean Améry als kurioses und lehrreiches Beispiel steht[13], sondern besonders natür­lich für die wachsende Zahl von Fundamentalisten in den Kirchen der Welt[14].

So könnte also das story-Konzept nicht nur als Brücke zwischen sehr unterschiedlichen Sichtweisen des Menschen (verschiedenen philosophischen und theologischen Anthropologien) dienen, son­dern auch als Verstehenshilfe für den Leser der Bibel. Die Ge­schichte Israels, die stories Israels im Alten Testament, ist das sprechendste Beispiel für die Funktion von Sammlungen von stories; stories, die die »story Jahwes mit Israel« repräsentieren (eine problematische Formulierung, die später nochmals aufge­griffen, aber nicht ausführlich diskutiert werden kann); eine story, die Israels Identität aufzeigt, ja, die selbst Israels Identität ist.

Dasselbe kann man weitgehend über das Neue Testament sagen, (über ganz andere Applikationen, z.B. in der Psychotherapie, folgen unten einige Bemerkungen).

Nach diesen vorläufigen Fragen und Klärungen gilt es nun aber, in eine – wenn man so will »phänomenologische« – Unter­suchung des Idioms »story« selbst einzutreten.

3. Formen und Funktionen des Idioms »story«

Die folgenden sieben Abschnitte sind eine Beschreibung und damit eine Analyse der wirklich vorfindbaren Formen und Funk­tionen von stories. Bei dieser Art analytischer Beschreibung unter­bleiben übergeordnete Argumente und Begründungszusammen­hänge und somit auch theologische Theorien. Hingegen werden Verweise auf Parallelen in den biblischen stories und Anzeigen hier und dort verankerter theologischer Probleme reichlich ge­geben. Diese Zuspitzung auf unser Interesse am »Rohmaterial« der Theologie – der Alltagssprache in ihrer typischen Form der story – widerspricht nicht der hier verwendeten Methode.

3.1. Was ist eine story?

Es scheint, daß das Wort story auf zwei Ebenen eine Bedeutung hat. Story ist, zunächst einmal, eine literarische Form, eine Narration, eine Erzählung, d.h. ein kurzer oder langer Komplex von Sätzen, die sich mit einem Ereignis oder einer Sequenz von Ereignissen oder auch Taten so befassen, daß diese Ereignisse, Taten oder Gedanken mehr oder weniger kohä­rent erscheinen. Die Abraham-Geschichten sind also stories, auch Lk 2, ebenso die Gleichnisse, die Jesus erzählt; aber auch Robin­son Crusoe, Andersens Märchen usw. Märtyrer und Helden haben ihre stories. Stories dieser Art können erzählt, geschrieben und gelesen werden; einige – Grenzfälle – bestehen aus Bildern, die in einer bestimmten Sequenz aufgereiht sind, aber hinter jeder Bild-story steht eine Wort-story, wie das bei mittelalterlichen Bil­derreihen und Ikonen ganz leicht zu zeigen ist.

Daneben gibt es einen zweiten Gebrauch des Begriffs story, der vom ersten oft nur unscharf unterschieden werden kann. Wir sprechen von der story von Jesus (und wir meinen damit mehr als die numerische Summe aller Jesus-Geschichten); oder von der story der modernen Physik oder der westlichen Demokratie (und dabei beziehen wir uns nicht auf eine Reihe von Narrationen); und wir brauchen den Ausdruck »story of my life« oder story meiner Ehe (und wir behaupten nicht, sie je vollständig erzählen zu können).

Die Beziehungen zwischen diesen beiden Arten von story sind für uns von besonderem Interesse. Die Frage entsteht sogleich, ob einige der stories des zweiten Typus die Eigenschaft haben, nichterzählbar zu sein. Die story Israels, genährt von Israels Er­innerungen und erlaubt von seinen Hoffnungen: könnte man diese story je anders erzählen als durch eine schmale Auswahl von Detail-stories? Und die story Jesu – wer könnte sie jemals erzählen? Die story meiner Ehe, meiner Freundschaften, meines Christ-seins, meiner Beziehung zur Musik – könnte man diese Geschichten vollständig schreiben, lesen und erzählen? Es ist wohl dieser zweite Typus von story, den wir im Auge hatten, als ich anfangs sagte, story sei das adäquate, sogar das am besten geeignete Idiom zur Artikulation der menschlichen Identität. (Zur Verdeutlichung genügt hier der kurze Hinweis, daß jede »auf­deckende« Psychotherapie, auf klassische Weise die sog. Langstrecken-Analyse, die schwer erzählbaren stories erzählbar ma­chen und zu koordinieren sucht, um die immer un-erzählbar bleibende Gesamt-story eines Lebens »in Ordnung« zu bringen.) Vielleicht können wir vorläufig feststellen, daß a) wir ein beson­deres Interesse an der Beziehung von Narrationen als litera­rischer Form zu diesem anderen Typ von story haben, und b) die möglicherweise nicht-erzählbare oder nie »vollständig ausdrück­bare« story offenbar das »Zeug« ausmacht, aus dem menschliche Identität (individuelle sowie kollektive) besteht, und c) daß wir – mit aller nötigen Zurückhaltung – diese Art von story »Meta­story« nennen können. Freilich muß sogleich hinzugefügt werden, daß uns solche »Meta-stories« nur zugänglich sind in Form von mehreren Detail-stories, die man erzählen kann (vgl. unten 3.4). (Der Ausdruck »zugänglich« stellt allerdings Probleme: wenn ge­sagt wurde, »Meta-stories« könnten nicht erzählt werden, wie können sie dann »zugänglich« wer­den? Was können wir »ha­ben«, das nicht auch »gesagt« werden kann? Das ist bekanntlich ein altes Problem, vgl. u. 3.6).

3.2.Wie funktionieren stories?

Stories – wir prüfen jetzt nur solche, die voll erzählbar sind – scheinen in folgenden Kategorien zu funktionieren:

  1. als Unterhaltung (Beispiele: Oper; Kriminalroman),
  2. »informativ«: als Beschreibung von Ereignissen, Situationen (Beispiele: Krankengeschichten; Lageberichte),
  3. »performativ«: als Übermittlung einer Botschaft, eines ethi­schen Inhaltes, einer Belehrung (Beispiel: Geschichte vom rei­chen Jüngling),
  4. »demonstrativ«: Demonstration anstelle von Definitionen oder Beweisen für ein Bekenntnis oder dgl. (Beispiele: stories von Simon Kimbangu in der Kimbangisten-Kirche in Zaire; Petrus- und Stephanuspredigten in Acta),
  5. »konservativ«: Wiederbelebung von Vergangenem, von Wer­ten der Tradition (Beispiel: jährliche Wiederholung der story der Oktober-Revolution in der UdSSR).

Diese Kategorien schließen sich nicht gegenseitig aus, bezeichnen aber typische Propria. Eine bestimmte story mag mehr als ein solches Proprium besitzen. Zudem wird man noch unterscheiden müssen zwischen der »Absicht« und der effektiven Wirkung einer Geschichte auf verschiedene Hörer. Damit berührt man ein be­kanntes hermeneutisches Problem. Eine story mag etwa c) inten­dieren, aber aufgenommen werden als a) oder d), usw.

Problematisch, aber nicht abzuweisen, ist das Konzept einer über- wölbend-zusammenfassenden story, die verschiedene Einzel-stories interpretiert. Bei der theologischen Anwendung dieses Konzepts geht es letztlich um die schwierige Frage, ob es sinnvoll ist, von Gott zu reden als einem, der »eine story hat«, sodaß diese story als Interpretationshilfe dienen kann, wenn nach dem Ver­ständnis von Israels Erinnerungen und Hoffnungen gefragt wird. (Vgl. u. 3.4 u. 4.2)

3.3. Story und Wirklichkeit

Die Beziehung zwischen story und historischer Wirklichkeit stellt sich im breiten Spektrum von vollständig unhistorischem Inhalt bis hin zu akkurater Historio­graphie dar. Die schwierigen Einzelfragen, die sich aus dieser einfachen Beobachtung ergeben, müssen hier nicht diskutiert wer­den. Es muß nur auf einen wichtigen Aspekt hingewiesen werden: stories können gerade dadurch, daß sie erzählt und wieder­erzählt werden können, ihre eigene historische Wirklichkeit schaf­fen. Es ist gerade diese »story-verursachte« Wirklichkeit, die in unserem Zusammenhang von ganz besonderem Interesse ist. Die »Gültigkeit« solcher Wirklichkeit ist dabei keineswegs identisch mit der historischen Treue oder Wirklichkeitsnähe, mit der die story sich den von ihr berichteten oder erklärten historischen Ereignissen zuwendet, sondern sie scheint davon ganz unabhängig zu sein[15]. Andererseits würde eine völlige Trennung die­ser zwei Wirklichkeitsebenen auch auf schwere Bedenken stoßen müssen. Immerhin wird man an dem Faktum nicht vorbeikönnen, daß es durchaus möglich ist, sein Leben an einer »story-verursachten« Wirklichkeit auszurichten – z.B. der »Mayflower«-story, der Geburtsgeschichte im Lk 2, den Geschichten über die Gründer einer Gemeinschaft oder eines Klosters – auch wenn das dort Berichtete kein Bericht über historisch wirklich so Geschehenes ist. Die stories berichten also nicht nur, sondern schaffen Ge­schichte und Wirklichkeit. (Die bekannten Diskussionen um Kult­legenden befassen sich z.T. mit dieser Problematik.) – In diesem Zusammenhang mag man wiederum an die Psychotherapie den­ken, die – etwas zugespitzt gesagt – primär mit solchen stories zu tun hat, die für den Patienten eine Wirklichkeit darstellen, ganz unabhängig davon, ob sie auch eine Wirklichkeit beschrei­ben (dominierende Eltern etwa, oder lieblose größere Geschwi­ster, repressive Lehrer, etc. unabhängig davon, ob diese Personen wirklich »so« waren).

Wie kann man nun beurteilen, ob eine story »wahr« oder »falsch« ist? Das ist ein vielschichtiges Problem. Wenn stories nicht nur Wirklichkeit beschreiben, sondern auch herstellen, wie können sie dann den üblichen Verifikationsverfahren unterworfen wer­den? Damit soll nicht gesagt sein, die »üblichen« Methoden zur Verifikation seien allgemein anerkannt und das sprachphilo­sophische Verifikationsproblem sei gelöst. Aber mit dem bisher über story und Wirklichkeit Gesagten ergibt sich mindestens bei der Frage nach der Verifikation von stories ein doppelt schwie­riges Problem.

In Richtung auf eine vorläufige Klärung kann man u. a. zunächst sagen, daß die »Wahrheit« einer story in zweierlei liegt, a) in der Treue (Ehrlichkeit, Konsequenz, Beständigkeit) des Erzählers und der Hörer zu dieser story, und b) in der inneren Konsistenz und Konsequenz, mit der die story selbst solche Treue ermöglicht. Wenn man so den Begriff »Wahrheit« durch »Funktionstüchtig­keit« ersetzt, folgt, daß eine story, die bei Erzähler und Hörer im Einklang mit ihrem Proprium funktioniert, eine »wahre« story ist. – Eine story etwa, die für das schiere Vergnügen und für lustige Unterhaltung geschrieben und erzählt wird (s. o. Typ a), darf nicht als Information über Ereignisse verstanden werden (Typ b), usw. Die verschiedenen Funktionstypen von stories er­heben verschiedene Arten von Wahrheitsansprüchen. Ihre Wahr­heit ist abhängig von der Art der Wirklichkeit, auf die sie ab­zielen. Und dies kann – wie wir gesehen haben – eine berichtete historische Begebenheit sein, oder auch eine intendierte mora­lische Wirklichkeit, eine »story-verursachte« Solidarität, usf.

Man kann noch einen Schritt weiter gehen und im Hinblick auf die Frage nach Wahrheit und Funktionalität einer story die Dif­ferenz zwischen Erzähler und Hörer ins Auge fassen. Wer etwa die wahre story von der Schuld anderer erzählt, aber dabei selbst auch schuldig ist, kann sich damit zum Lügner machen und de facto eine »unwahre« story erzählen. Dasselbe gilt für »wahre« Zitate, die aus dem Zusammenhang genommen sind, für »wahre« Detail-stories aus einem größeren Komplex mit generell anderer Bedeutung oder Intention, etc. Oder, nun im Hinblick auf die Hörer: alberne Geschichten vor Trauernden erzählt, Greuelgeschichten vor Kindern, ernste Bekenntnisse, Enthüllungen und Er­mahnungen in einer Gruppe ausgelassen-fröhlicher Menschen vorgetragen – das mag bis zu einem solchen Grad unethisch sein (und ist es im täglichen Leben sehr oft), daß man mit Recht von »unwahren« stories sprechen könnte. (Hier berühren sich unsere Überlegungen mit der Möglichkeit, Blasphemie, Trivialität, ma­kabre Reden, etc. zu definieren).

3.4. Detail-stories und »Meta-stories«

Im Interesse einer Klä­rung unserer Frage nach der Funktion von stories fragen wir nun nach dem, was einzelne Detail-stories miteinander verbindet, so­wie nach dem Zusammenhang von Detail-stories mit der von uns so genannten »Meta-story«.

Detail-stories, so scheint es, hängen zusammen, a) wenn sie durch ähnliche oder gleiche Themen verbunden sind (Josephs-Geschich­ten; story einer Freundschaft, einer Ehe), oder b) wenn sie erzählt oder wieder-erzählt werden von derselben Person oder Gruppe (z.B. von Jesus, von der Alten Kirche; von Teilnehmern einer

Unternehmung, etwa einer Himalaya-Besteigung) und c), wenn sie aufgenommen oder mit Absicht vom Hörer auf einen Nenner gebracht, in einem Zusammenhang gesehen werden (z.B. im Inter­esse der Erstellung einer Krankengeschichte). Möglicherweise könnten noch mehr als diese drei Gründe genannt werden.

Im Hinblick auf den dritten der genannten Gründe, der Absicht oder dem »Verdacht«, eine übergeordnete story ließe sich finden, ist festzustellen, daß gerade diese Vermutung eine der verbrei­tetsten und alltäglichsten Formen von Unrecht sein kann, die wir unseren Mitmenschen zufügen können. Im täglichen Leben kommt es sehr häufig vor, daß wir Detail-stories als bezeichnend für die gesamte Persönlichkeit eines Menschen (oder für eine Gruppe) ansehen oder daß wir eine vermutete »Meta-story« als hermeneu­tischen Schlüssel für das Verständnis einer Detail-story, die uns jemand erzählt, ansehen. (Diplome und akademische Grade ste­hen für den ganzen Menschen, wenn es um Anstellungen oder um gesellschaftliche Bewertungen geht; Ärzte konzentrieren sich auf die Details der Geschichte von Magenschmerzen, anstatt die umfassenden Ehe- und Lebensschwierigkeiten des Patienten zu sehen; oder umgekehrt: einem politisch, ideologisch oder psycho­logisch kategorisierten Menschen nimmt man Detail-stories nicht mehr unbefangen ab).

Was kann nun über die Beziehung von Detail-stories zur wirk­lichen oder vermuteten »Meta-story« gesagt werden? Vor einem Versuch der Beantwortung ist es sinnvoll, das interessante Phäno­men zu analysieren, daß eine bestimmte story, z.B. die Geschichte vom barmherzigen Samariter, auf ganz verschiedene Weisen wiedererzählt werden kann, ohne daß das verloren geht, was diese Geschichte ausmacht. Es ist sogar denkbar, daß diese story von jemand nacherzählt wird, der ausnahmslos andere Worte benützt als der erste Erzähler. Und doch ist die story für andere Hörer wiedererkennbar und wiederum nacherzählbar. Was ist es, das den Erzähler leitet oder dirigiert, wenn er etwa die Ge­schichte vom barmherzigen Samariter erzählt? Ist das, was ihn leitet oder was die innere Konsistenz der Geschichte dirigiert, selbst sagbar oder erzählbar? Eine erste Antwort auf diese Frage wäre der Vorschlag, daß eine Benennung des »Kerns« einer story gar nicht möglich oder nur unter Verlust eines Teiles der story möglich sei. Eine genauere Analyse zeigt aber, daß eine prä­zisere Antwort gegeben werden kann: die Möglichkeit der Be­nennung dessen, was eine story »dirigiert«, variiert graduell. Man kann nämlich eine Hierarchie der graduellen Unterschiede der Fähigkeiten von Detail-stories entdecken, sich sozusagen in ande­rer Form »wegzugeben«, eben in der Form eines Kernes oder einer Zentralaussage (vgl. 3.5). Vom Gesichtspunkt eines Erzäh­lers oder Nacherzählers einer story wird man sagen können, daß sich ihm die Schwierigkeit, das die story Dirigierende direkt zu benennen, in verschiedenen Graden darstellt. Die Schwierig­keitsgrade scheinen mit den verschiedenen Funktionen des story- Idioms zusammenzuhängen (vgl. o. 3.2). Stories, die in ihrer Funk­tion dem Berichten über historische Ereignisse am nächsten kom­men, sträuben sich am wenigsten, ihren Kern preiszugeben und sich in summierter Form ausdrücken zu lassen; solche stories aber, die darauf hinzielen, eine neue Wirklichkeit herzustellen, sind am weitesten von der Möglichkeit entfernt, sich in anderer sprachlicher Gestalt summieren zu lassen.

Diese kurze Analyse dessen, was in einer Detail-story die story dirigiert, ist – das ist unsere Hypothese – en miniature ein Bild des Verhältnisses von Detail-stories zur »Meta-story«. Wenn das stimmt, so folgt, daß die Schwierigkeiten, »Meta-stories« in ihrem Kern zu benen­nen oder zu summieren, auch graduell verschieden sind. Einige Arten von »Meta-story« können fast vollständig sum­miert und in anderem Gewand artikuliert werden, andere können es nicht. Der Grad der Schwierigkeit (vom Gesichtspunkt des Er­zählers aus) hängt von der Art der Wirklichkeit ab, auf die die »Meta-Story« verweist[16].

(Bekannte Beispiele aus dem Bereich der Theologie sind etwa: Tatians fehlende Einsicht, als er aus vier Evangelien sein Diatessaron konstruierte; das Verhältnis des neutestamentlichen Kanons zu den Apokrypha: welche stories sind konstitutiv, welche sind peripher, welche sind »falsch«?; die Frage nach Tradition und Rezeption von Tradition durch Selektion; die mittelalterlichen Konzepte über die Ineffabilität Gottes: das, was letztlich die »Metastory« ausmacht oder »macht«, kann nicht ausgesagt wer­den; vgl. dazu die verwandte Vorstellung der fides implicita etc.)

3.5. Summierte stories, Definitionen, Ableitungen

Wenn man die Frage zunächst ausklammert, ob es sinnvoll oder berechtigt sei, so kann man generell sagen, daß jede Art von story abge­kürzt, erweitert oder summiert werden kann. Die story meiner Ehe, des Lebens meiner Eltern, die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die story der ökumenischen Bewegung – kurz, jede story einschließlich der »Meta-story« oder ihr ähnlicher, sinnver­knüpfender stories – können, zu Recht oder zu Unrecht, auch ausgedrückt werden:

  1. durch bündige Zusammenfassung (das »Wichtigste« wird er­zählt)
  2. durch Auswahl einiger bezeichnender Details (das »Typische« wird erzählt)
  3. durch Erweiterung und Ausschmückung (das »Wesentliche« soll besser herauskommen)
  4. aber auch durch Umschlag in eine Summierung, die die Ten­denz zur Definition hat und Ableitungen erlaubt.

Die Möglichkeit des Umschlagens vom narrativen Stil zu einer Summierung oder Definition (wir lassen hier eine Diskussion über den Unterschied dieser beiden aus), ist von größter Bedeutung. Hier ist, wenn man so will, der Entstehungsort der mehr komple­xen menschlichen Gedanken und Begriffe und hier ist auch der sprach-logische Entstehungsort der Theologie.

Stories können im Gewand der Summierungen tradiert werden. Solche Summierungen können entweder Einladungen zur erneu­ten Nacherzählung sein (zahlreiche Beispiele im Alten Testament) oder sie können »autonom« werden. Autonom sind Summierun­gen, wenn ihre Benützer die dahinter liegende story vergessen haben oder gering schätzen. Summierungen tendieren zur Auto­nomie, wenn ihre Benützer die Summierung für kommunikations­fähiger halten, als die story, die sie summiert. (Beispiele: die story meiner Freundschaft mit P. wird zu »P. und ich sind Freunde«; die Exodus-story zu »Jahwe befreit und führt sein Volk«; die story vom barmherzigen Samariter zu »Sei hilfreich gegen andere, die dadurch deine Nächsten werden«, etc.). Es liegt auf der Hand, daß einige Summierungen sinnvoll, andere weniger sinnvoll sind. Die Entscheidung über die Kommunikationsfähigkeit hängt von der Abschätzung der Kommunikations-Situation ab.

Ferner: viele Summierungen geben Anlaß zur Bildung von Ab­leitungen, d.h. von abgeleiteten, deduzierten Aussagen oder Defi­nitionen. Die Summierung der Passionsgeschichte etwa kann in Ableitungen formuliert werden, und z.B. »das Kreuz«, den »Tod Jesu« oder gar das »Blut Jesu« zum Satzsubjekt haben (»… das Kreuz befreit, »… das Kreuz sagt …«). Und weiter noch: das Kreuzeszeichen, figürlich oder als Kreuzschlagen mit der Hand, ist eine »Ableitung einer Ableitung einer Summierung der Passions-story«. Es ist offensichtlich, daß solche Ableitungen noch mehr in Gefahr sind, autonom zu werden, als einfache Summie­rungen. Man muß aber zugleich sagen, daß der Übergang von story zu Summierung und von dort zu einer oder mehreren Ab­leitungen eben gerade den Reichtum menschlicher Sprache und Kunst ausmacht und damit auch Ausdruck der Komplexität ist, zu dem eben diese Ableitungen wiederum einladen[17].

Im Zusammenhang mit Fragen der Ethik und überhaupt zwischen­menschlicher Beziehungen bietet sich von unseren Überlegungen her ein nützliches Verständnis des Unterschiedes zwischen echten Konflikten und Konfusionen an. Konflikte zwischen Personen oder Gruppen in allen Gebieten des Denkens und Lebens treten ge­rade dann auf, wenn das, was wir Summierungen und Ableitun­gen von stories genannt haben, gegensätzlich erscheinen oder sonst – durch Verstehen oder Mißverstehen – aufeinanderprallen, bzw. mit wirklich erinnerten oder auch bloß angenommenen stories oder »Meta-stories« kollidieren. (Beispiele: nationale Ge­fühle; Gruppeninteressen, Gruppenziele; politische Differenzen; dogmatische Spannungen oder Bekenntniskonflikte). Hingegen kann man Situationen der Konfusion als das Ergebnis von aufein­anderprallenden autonomen Summierungen, deren story-Hintergrund vergessen ist, bezeichnen (z.B. religiöser Aberglaube; irra­tionale Bewertung etwa eines Feindes etc.). Das würde bedeuten, daß echte Meinungsdifferenzen oder Konflikte aus verschieden vorgenommenen Summierungen von stories resultieren (oder ver­schiedenen Interpretationen von Summierungen), die eher korri­gierbar sind als Konfusionen (Verhetzungen, Fanatismen etc.). Konflikte der ersten Art sind etwa in Gruppen durch geduldige Nacherzählung, Nachprüfung, gemeinsame Geschichtsstudien, Gruppendynamik etc. behebbar, d.h. sie können »aufgearbeitet« werden, wie man heute mit Recht sagt, während Verhetzungen, Ideologisierungen und Fanatisierungen durch Aufarbeitung in der Gruppe nicht lösbar sind. (Alte und neue Beispiele aus Kirchen- und Universitätsgeschichte gibt es in Fülle.)

Wir können hier nur am Rande die oben (vgl. 1.2, Anm. 7) er­wähnte Problematik berühren, inwieweit in der (systematischen) Theologie Summierungen und Ableitungen – autonom oder auch nicht – als regulative Sätze im Prozeß der Interpretation von stories oder von ihrem Zusammenhang funktionieren können oder müssen; oder ob solche regulativen Sätze – zweifellos not­wendig in der Theologie, denn ohne sie wäre Theologie wirklich nur Nacherzählung – aus anderen Quellen kommen als von Sum­mierungen oder Ableitungen aus stories. Diese Frage berührt sich – aber sie ist nicht identisch – mit der bekannten hermeneutischen Frage, ob man z.B. die Summe der stories der Bibel von einem einzigen Konzept her interpretieren könnte, etwa Luthers Kon­zept »Was Christum treibet«, oder einer Theorie der Rechtferti­gungslehre etc. Wer solche Theorien ablehnt, wofür es natürlich gute Gründe gibt, kann sich aber nicht darauf zurückziehen, daß jede story (oder im weiteren Sinn jeder Text oder Textabschnitt) ihre eigenen Vorschläge zu ihrer Interpretation in sich birgt, die es nur zu erkennen gälte. Solch ein naiver »Punktualismus« mag exegetischer Arbeit streckenweise gut anstehen, aber mit Theo­logie hat er nichts zu tun, höchstens mit den ersten Schritten zu einer das Material ordnenden Vorbereitung. Wenn es also Theo­rien und mit ihnen regulative Sätze geben muß, so bleibt die Frage, woher sie stammen: sind sie Ableitungen von Summierun­gen einiger stories, mit denen andere interpretiert werden, also »interne Lehnsätze«, wie man sie dann nennen könnte? Oder sind sie den stories fremdem Territorium entnommen? Man kann weiter fragen, ob eine Kombination beider Methoden notwendig mit der umstrittenen Unterscheidung zwischen »formal« und »material« operieren müßte, sodaß etwa die externen Lehnsätze – z.B. der Logik entnommen – nur steuernde Funktion im formalen Sinn hätten. Vom Blickwinkel unserer story-Konzepte her sind eben solche Fragen die eigentlichen Grundfragen der intellek­tuellen Unternehmung, die man Theologie nennt, wobei ich noch­mals betonen möchte, daß die intellektuelle Aktivität nicht nur das Denken, sondern das Beten umschließt (entsprechend den beiden primären Gebrauchsformen von Sprache, vgl. oben 2.2).

3.6. »Anlässe« von und für stories[18]

Es kann hier ebenfalls nur erwähnt aber nicht ausdiskutiert werden, wie es eigentlich dazu kommt, daß aus der riesigen Menge von stories, die in unserm aktiven oder passiven Gedächtnis ruhen[19] und die unsere Identität ausmachen, einige zu uns »sprechen«, andere nicht. Das theologische Problem der Selektion aus dem Traditionsgut ist nur ein Spezialfall des allgemeinen sprachlichen Phänomens und Problems: daß ich jetzt gerade diese Worte wähle und nicht jene, gerade diese Beispiele nenne und nicht andere etc. Im Hinblick auf stories liegt die Skiz­ze einer Antwort auf diese komplexe Frage in der möglichen Entfaltung der These, daß stories, die in unserem Gedächtnis ruhen oder – wenn neu gehört – in Analogie mit bekannten stories gehört werden, gerade dann zu uns »spre­chen« und plötzlich zentrale Bedeutung erhalten mögen, wenn bestimmte Anlässe (occasions) wirksam werden. Solche Anlässe lösen eine neue Wirkung des latent Vorhandenen aus und ver­ursachen eine neue Sicht nicht nur der story selbst (z.B. des barm­herzigen Samariters, die ich vielleicht als Kind zum letzten Mal im Kindergottesdienst gehört habe), sondern all dessen, was mit der story zusammenhängt oder Zusammenhängen kann[20]. Irgend ein bedeutendes oder scheinbar auch ganz unbedeutendes Er­eignis – einschließlich einer anderen story – kann ein solcher Anlaß sein. Für theologische Überlegungen (Paul Lehmann und ich haben einmal solche »Anlässe«, bzw. ihr Funktionieren, den »Moment des Heiligen Geistes« genannt) bedeutet dies nichts weniger als die Einsicht, daß es die Gegenwart ist, das Auf-sich- Einwirken-Lassen des Gegenwärtigen (Mitmenschen, Politik, Radio, Kunst; und gewiß auch Predigten oder Lesungen biblischer stories), die das Verstehen (früher sagte man: Akzeptieren) der biblischen Botschaft in die Wege leitet. Aus bestimmten und nicht unverständlichen Gründen neigte und neigt man in der Theologie aber eher dazu, die »alten Texte« (stories) für die heutige Zeit neu »relevant« machen zu wollen (z.B. Bultmann, Billy Graham), während sich hier nun in unseren Überlegungen dezidiert die umgekehrte Richtung aufdrängt. Bündig gesagt würde dies bedeuten, daß der erste Schritt in der theologischen Arbeit (ebenso wie im Verstehensprozeß der nichtakademischen Christen) in der Analyse (bzw. dem Sich-der-Wirkung-Aussetzen) der gegenwärti­gen Situation besteht. Daß ich mich mit solch einer Äußerung nicht in die Reihe derer einordnen möchte, die Theologie mit Sozio­logie verwechseln, habe ich anderswo deutlich genug zu erklären versucht.

Durch die Wirkung des »Anlasses« erscheinen also »alte« stories in ganz neuem Licht und mit ihnen auch die Situationen, in denen sie gehört werden. Solche Momente der »Wirkungen eines An­lasses« sind oft die Geburtszeiten für die Entstehung neuer stories, wofür es im Alten und Neuen Testament zahlreiche Beispiele gibt. Diesen Gedankengang abschließend, soll nochmals betont werden, daß das hier Beobachtete keinesfalls nur für theologische Überlegungen zutrifft. Wir sind von allgemeinen sprachlogischen und anthropologischen Überlegungen ausgegangen und für die­sen Gültigkeitsbereich trifft auch das hier Beobachtete zu. Sowahr unsere Hoffnungen unsere Erinnerungen erlauben – ganz allge­mein gesagt, aber mit besonderem theologischem Interesse be­tont- und sowahr die Vergangenheit die Gegenwart weitgehend determiniert, bleibt es doch im Bereich der Verwendung der Sprache (und also der stories) dabei, daß »die Gegenwart für die Vergangenheit relevant« werden muß, wenn es zum Verstehen des in der Vergangenheit Gesprochenen kommen soll.

3.7. Story und Partnerschaft

Wir müssen zur Frage der Iden­tität von Einzelnen und von Gruppen zurückkehren, denn stories schweben nicht im leeren Raum, sondern bezeichnen und schaffen Gruppen – eine für theologische (und bereits für exegetische) Arbeit ganz unumgängliche Einsicht. Wer einen anderen Men­schen oder eine Gruppe von Menschen verstehen will, muß ler­nen, wie man stories hört und muß sich bemühen, hinter Defini­tionen, Credos, apodiktischen Sätzen und dergl. stories zu ent­decken. Dies sollte aus dem bisher Gesagten nun ganz deutlich sein.

Man kann aber die Verwendung des story-Konzepts noch weiter treiben und anhand des bisher Beobachteten dem Phänomen der Partnerschaft näherkommen, dem Verschmelzen also oder der engen Koordinierung von Identitäten zweier oder mehrerer Gruppen oder Einzelner.

Verstehen von Menschen ist eine Sache, eine andere aber ist das Eintreten in die Partnerschaft mit ihnen. Dabei tritt man in eine andere story ein, begibt sich in einen anderen Sprachstrom. Weil jede Lebens-story aus zahlreichen Detail-stories besteht, ist sol­ches Eintreten niemals vollständig zu erreichen. Partnerschaft hängt darum nicht nur vom Verstehen, Wissen und gegenseitigen Akzeptieren des anderen ab, sondern auch vom Vertrauen, daß die weitergehende story (engl. »on-going story«) die Gültigkeit und Echtheit des gegenseitigen Partizipierens erweisen wird. Man weiß ja nicht, wie die story im einzelnen weitergehen wird. (Die Parallele zur Beschreibung von Israels Vertrauen bzw. überhaupt dem Vertrauen des Gläubigen zu Gott ist ganz offenkundig). Hier berühren wir den Unterschied zwischen »geschlossenen stories«, die ganz der Vergangenheit angehören, und »weitergehenden stories«, die man nicht vollständig erzählen kann, weil man mit­ten in ihnen steht. In dieser mindestens die Einzelheiten betref­fenden Unerzählbarkeit ähneln »weitergehende stories« den von uns sogenannten »Meta-stories«.

Aber auch wenn Teile der weitergehenden story zur Vergangen­heit geworden sind, sind sie oft nicht voll verfügbar und erschöp­fend erzählbar. Wir können niemals die story derer, mit denen wir in Partnerschaft leben, ganz kennen und vollständig erzählen. Max Frisch schreibt: »Es ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei … Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben, solang wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Verglei­chen, als wären sie betrunken … So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man liebt.«[21] In dem Augenblick, in dem ich behaupten würde, meinen Freund oder meine Frau (oder Gott) in ihren stories mit mir voll zu »haben«, wäre das Ende der Freundschaft und Liebe gekom­men.

Die Entstehung von Partnerschaft ist in der Tat ein Zusammen­fließen von stories, wenn auch nur für kurze Zeit, etwa beim gemeinsamen Erlebnis einer Reise, eines Festes. Dieses Phänomen ist von großer Bedeutung beim Verstehen inter-subjektiver Wirk­lichkeit, ja, von sozialer Wirklichkeit überhaupt (vgl. auch die neueren Untersuchungen in der Wissenssoziologie, die für unsere Fragen lehrreich sein und umgekehrt vom story-Konzept profi­tieren können). An dieser Stelle sind auch wesentliche theolo­gische Konzepte festzumachen: das Zusammenfließen der indi­viduellen life-story mit der story der christlichen Kommunität überhaupt (letztlich mit der »story Gottes«)[22], sowie die Möglich­keit der stellvertretenden Ergänzung oder des zu-Ende-Lebens der story eines anderen oder einer Gruppe (Beispiele: Solidarität als absichtliches Eintreten in die story anderer, etwa Gedemütigter; »gut stehen« für andere; Mit-Übernahme von Schuld etc. – alles auch zentrale Themen der Christologie).

Das Zusammenfließen von stories geschieht freilich nicht nur zwischen zwei und mehr Menschen oder auch Gruppen. Die fundamentale Form des Zusammenfließens geht im einzelnen Menschen selbst vor sich und zeigt sich auf jeder Stufe seiner Entwicklung: neue Erfahrungen werden in den bereits bestehen­den Rahmen der Erfahrungen und Verhaltensmuster eingefügt; die sich zusammenfügenden stories modifizieren sich gegenseitig. Ein psychisch gesunder Mensch kann als einer definiert werden, dem solche Integration gelingt, während man einen psychisch gestörten Menschen als jemand bezeichnen kann, der die ihm unvereinbar scheinenden stories in seinem Leben separat halten möchte. Ein solcher Mensch hat – wie wir heute bereits in der Alltagssprache zu Recht sagen – Schwierigkeiten in der Identitäts­findung. Die Einheit und Harmonie (oder eben die Desintegration, das Leiden) der Detail-stories mit dem gesamten Selbstverständ­nis – mit der »Meta-story« – das scheint die Identität eines Men­schen auszumachen. Im Leben eines Menschen (ähnlich auch der Gruppe) existieren zahllose kürzere und längere, »geschlossene« und weitergehende stories, und es ist die Aufgabe der Identitäts­findung, diesen zahlreichen stories eine parallele Existenz zu ermöglichen, und mehr noch: eine Relation der gegenseitigen Bereicherung zu schaffen, aus der weitere Kreativität erwächst bis hin zur Formierung einer die Persönlichkeit bestimmenden »Meta-story«, oder einer Reihe von Eigenschaften, aus denen eine »Meta-story« deutlich werden könnte, wenn sie auch nie voll erzählbar würde. Solche story wird es den Mitmenschen erlau­ben, die Identität einer Persönlichkeit zu erkennen[23]. Es ist doch das Phänomen des Christseins ebenfalls ein Zusammenfließen von stories: der zahlreichen Detail-stories meines Lebens mit der story Israels, der Alten Kirche und einer konkreten Gruppe jetzt lebender Christen; ja letztlich ein Zusammenfließen meiner story mit der von Jesus (vgl. Gal 2,20, die denkbar zugespitzteste Aus­sage über verschmolzene stories, freilich die »Ableitung« einer Summierung, wie wir es oben nannten).

Schließlich ist es am Ende dieses Abschnittes nützlich, sich an die faszinierende Geschichte von Kaspar Hauser (oder an andere, ähnliche Beispiele) zu erinnern. Er hatte ja – jedenfalls der legen­däre Hauser – keine Sprache und darum keine story und deshalb auch keine Erinnerung und keine Partner. Er hatte in seiner story-Losigkeit keine Identität.[24]

4. Anredende Sprache in story-Form

Unsere These, daß story das geeignete Idiom für die Artikulation menschlicher Identität sei, scheint story abhängig zu machen von Personen oder Gruppen, deren Identität beschrieben wird. Es ist aber auch möglich, die Relation von story zu Personen von der entgegengesetzten Richtung aus zu analysieren. »Der Mensch wird, was zu ihm gesagt wird«, wäre die provokative Version einer längeren und vorsichtigeren Aussage über die formative Funktion von Sprache in Beziehung auf Menschen. Story, der Prototyp »berichtender Sprache« (vgl. o. 2.2) kann auch zur sekun­dären Gebrauchsform anredender Sprache werden. Diese andere Möglichkeit, daß man nämlich mit stories Menschen »machen« kann, soll nun kurz erörtert werden, indem auf einige typische Aspekte der Wirklichkeit – »verursachenden« Funktion von stories (vgl. o. 3.3) hingewiesen wird. Die Benennung dieser Aspekte kann kurz sein, weil Grundsätzliches zur Wirkung von stories bereits besprochen worden ist.

4.1. Zugesprochene Identität

Man braucht kein Behaviorist zu sein, um Sinn und Ausmaß der Beobachtung würdigen zu kön­nen, daß etwa Worte und Taten der Liebe dazu beitragen, lie­benswerte Kinder und Mitmenschen heranzubilden, und umge­kehrt, daß die Sprache des Hasses lieblose Menschen erzeugt. Man überschätzt auch nicht die Bedeutung der Sozialisations­prozesse – die, das muß man zugeben, heute allzu oft bemüht werden – wenn man die Tatsache ernst nimmt, daß Standards, menschliche Ideale, Ziele und Normen das Produkt der Identi­fikationen mit den »Identitäten« und identifizierenden stories unserer Bezugspersonen oder Helden sind.

Was zunächst nur nach einer theologischen Applikation dieser Überlegungen aussieht, ist in Wahrheit ihre theologische Begrün­dung: daß wir es nämlich mit zentralsten biblischen Aussagen zu tun haben, wenn wir hören, daß Israel das wird, was ihm gesagt wird, nämlich das Volk Jahwes. Aus eben diesem Grund sollte man auch keine Hemmungen haben zu sagen, daß Jesus seine Identität durch das erhielt, was ihm gesagt wurde. Dies kann als christologische Grundthese hier freilich nur angedeutet werden.

Verhaltensmuster und Erwartungen, die bestimmte Rollen charak­terisieren[25], sind nicht nur Ausdruck des »Sprachstroms« der Tra­dition, aus der sie erwachsen, sondern Menschen werden zu dem, was ihnen als story ihrer Tradition zugesprochen wird (Beispiele: Schwarze in einer von Weißen bestimmten Gesellschaft, berufs­tätige Frauen in einer von Männern geplanten Arbeitswelt, Be­hinderte unter Gesunden, Soldaten unter Zivilisten etc.)[26]. Aber nicht nur das Rollenverhalten ist durch zugesprochene stories bestimmt, auch spontanes Verhalten kann durch die »absorbierende« und imponierende Funktion von stories gesteuert werden: Taten der Barmherzigkeit und Hingabe können ebenso wie Grau­samkeiten Ausdruck der Identifikation mit einer story sein, in der man sich beschrieben weiß, wenn auch nur für einen kurzen Zeit­abschnitt.

4.2. Manipulation

Bei der Entfaltung der These, daß soziale Wirklichkeit aus einer riesigen Zahl von Identität-beschreiben­den sowie Identität-verursachenden stories besteht, müßten auch die verschiedenen Ebenen analysiert werden, auf denen stories kollidieren und Konflikte schaffen. Eine dieser Zonen ist die Mani­pulation. Unter diesem Überbegriff wären die Phänomene der Reklame und Propaganda zu verhandeln, aber auch die Ge­schichte der Verirrungen kirchlicher Verkündigung. Es soll hier nur kurz auf eine Schwierigkeit hingewiesen werden, die ein Licht auf unsern etwas riskanten Begriff der »Meta-story« werfen könn­te. Die Schwierigkeit, das Wesen und die Gefahren der Mani­pulation genau in den Griff zu bekommen, liegt ja darin, daß im allgemeinen die Formen der Interaktionen in der technisierten Massengesellschaft unpersönlicher Art sind. Die anonymen Struk­turen – eben nicht auf inter-subjektive Beziehungen reduzierbar – üben oft eine manipulierende Wirkung aus, die durchaus Indi­viduen betrifft, aber sich nicht direkt auf sie bezieht sondern auf ihre soziale Umgebung. Die soziale Umwelt mit ihren kollektiven Erwartungen, Bewertungen und technischen Zwängen und Gren­zen kann den Einzelmenschen »manipulieren«, auch wenn dies nicht die Absicht der für diese Wirkung Verantwortlichen war, und oft auch ohne bewußtes Wahrnehmen der Betroffenen. Das hieße in der Terminologie des story-Konzeptes, daß Gruppen und Einzelnen »Meta-stories« aufgedrängt werden, die ihnen eine falsche Identität zuzusprechen drohen. (Die »Meta-story« ist nur schwer oder gar nicht erzählbar). Den Manipulierten wird keine Gelegenheit geboten zu prüfen, ob das, was sie bestimmt und ihnen eine neue Identität verheißt, mit ihrer Lebens-story zusam­menfließen kann. – Für die Theologie muß sich in diesem Zusam­menhang die selbstkritische Frage erheben, ob sie nicht durch allzu leichtfertiges Hantieren mit der »Meta-story« Gottes, der Welt und dergl. in der kirchlichen Verkündigung praktisch zur Manipulierung von Menschen beiträgt. Allerdings kann dieselbe Gefahr auch aus der umgekehrten Tendenz erwachsen, der be­hutsamen Absicht nämlich, sich nur um Detail-stories zu kümmern und Äußerungen über die letzten, großen Zusammenhänge peinlich zu meiden. Auch solche Art kirchlicher Lehre, die sich sozu­sagen »um den Kern drückt«, weil sie ihn für ineffabilis erklärt, kann die Mitglieder der Kirche irritieren und praktisch manipu­lieren, weil ihnen keine Gelegenheit zur Rückantwort und zum prüfenden Vergleich geboten wird (vgl. auch in 3.4 die Bemer­kungen über ungerechte Einschätzung von Mitmenschen durch ein Übergewicht der vermuteten »Meta-story« oder auch der Detail-story).

4.3. Verwundbarkeit

Am Schluß dieser Überlegungen mag es sinnvoll sein, sich zu vergegenwärtigen, daß stories und »Meta-stories« in Beziehung auf menschliche Identität, die wir hier jeweils mit im Auge hatten, zugleich auch ein Mittel des Aus­drucks und des Verstehens menschlicher Zerbrechlichkeit und Ver­wundbarkeit sind. Die klassischen Anthropologien mit statischen Konzepten wie »Natur«, »Wesen«, »Bewußtsein«, etc. haben be­kanntlich oft genug Schwierigkeiten gehabt, die eigentümliche Doppelheit und das Nebeneinander von Schwäche und Stärke, Solidität und Umstimmbarkeit, Verzagtheit und Stolz, Feinfühlig­keit und Brutalität – so typisch für das Leben von Einzelnen und Gruppen – wirklichkeitsnah beschreiben und erklären zu können. Das Idiom story, als heuristisches Instrument benützt, scheint die­ser Dynamik des Le­bens eher gerecht zu werden als die klassi­schen Begriffe. Denn wenn auch stories ausdrücken können, was wir wirklich sind, wen wir lieben oder hassen und an wen wir glauben, so »haben« wir diese stories doch nie so, als könnten sie uns nicht genommen, abgebrochen oder durch aufgedrängte, fremde stories entstellt werden. Durch stories kommen also keine statischen anthropologischen (und theologischen) »Begriffe« zu­stande. (Die Findung von Begriffen und Bildung von Theorien sind spätere Schritte). Einzig der »Nicht-Begriff« der Verwundbarkeit ließe sich, wenn man so will, aus der Anwendung des story-Idioms ablesen: die Träger der jeweils aus ungezählten Detail-stories bestehenden Lebens-stories, die Menschen also, sind im Hinblick auf Verlust ihrer stories sowie auf Überfremdung durch neue stories permanent verwundbar. (Ich meine, daß mit Hilfe dieser Konzepte auch theologische Ekklesiologie arbeiten müßte: die Verwundbarkeit Israels und der Kirche ist das Kennzeichen ihrer Mitglieder, die ihr Leben im Hinblick auf und im Einklang mit einer übergeordneten story, einer »Meta-story«, führen wollen, die nicht automatisch oder natürlich mit anderen stories zusam­menfällt, ja nicht einmal anders zu erzählen ist als durch Detail-stories, die aber trotzdem von diesen Menschen als die Mitte ihrer Lebens-stories angesehen wird, wiewohl sie dabei ihre komplexen Lebens-stories und verschiedenen kulturellen Identi­täten nicht verlieren.)

5. Schlußbemerkungen

In seinen stories ruht die Identität eines Menschen, letztlich also im Zusammenhalt seiner Einzel-stories, der »Meta-story«; und in seinen stories zeigt sich Israels Identität, letztlich also der, der die Einzel-stories zusammenhält, bzw. zerstört, neuformt, in Er­innerung ruft, nach vorne öffnet: Jahwe, den Israel (die Kirche) anbetet, ohne aber die »Meta-story« dieses Gottes als solche und ein für allemal erzählen zu können.

Nach der Benennung und Untersuchung der verschiedenen Funk­tionen von story – wobei immer wieder auf zahlreiche theo­logische Grundfragen und – Aufgaben hingewiesen wurde – soll­ten abschließend noch einige Fragen zu unserm Ausdruck »Roh­material« und zu dem in die Mode geratenen Programm einer »narrativen Theologie« notiert werden.

5.1. Stories als »Rohmaterial« der Theologie

Was ich hier nur skizziere (vgl. o. auch 1.2 u. 3.5), werde ich in einer längeren Arbeit »Zur Logik der Theologie« bald ausführlich darlegen und zur Diskussion stellen. Aber der Ausdruck »Rohmaterial« ver­langt schon hier nach einer vorläufigen Beschreibung. Gewiß ist die Theologie ja zweierlei nicht: die Kunst des Verteilens oder der Applikation gespeicherten Wissens über Gott, Jesus, den Menschen etc., oder die Technik, das, was wir ohnehin schon wissen und glauben, umständlicher oder akademischer auszu­drücken. (Die dritte Möglichkeit, Theologie sei »stories nacher­zählen«, wird in 5.2 kritisiert). Worum geht es also? Es geht um die oben (1.2) genannten kritischen Funktionen der Klarifikation, der Kohärenzprüfung, des Flexibilitätstestes und der Stimulierung neuer Einsichten – alles im Hinblick auf »die Alltagssprache« vor­nehmlich der Angehörigen Israels und der Kirche. Wenn wir durch Sprache Wirklichkeit entdecken, auch Wirklichkeit schaf­fen, dann ist also die Sprache ein wesentliches Instrument (ob das einzige, lassen wir hier undiskutiert), um Zugang zu den Wirk­lichkeiten zu bekommen, auf die wir es abgesehen haben. Das allgemein verwendete und sich immer wieder anbietende Instrument der Sprache aber ist die Alltagssprache (einschließlich natür­lich der Zitierungen, der richtig oder falsch verstandenen Anwen­dungen von hochdifferenzierten Summierungen, Fachausdrücken, politischen Schlagwörtern, liturgischen Formeln etc.). Es ist eigent­lich unnötig zu sagen, daß dieser Vorgang in- und außerhalb der Kirche im Prinzip derselbe ist. Darum sollte man auch »in der ersten Instanz«, sozusagen, nicht von »religiöser Sprache« spre­chen, wenn man die primäre Form des Sprechens etwa von Chri­sten ins Auge faßt. Es ist zunächst gleichgültig, ob der, der mir aus der Zeitung vorliest, der von Flüchtlingen berichtet, der sich über Napoleon äußert, der seine Krankengeschichte erzählt, der von Abraham oder Jesus redet … etc. ein Christ ist oder nicht. Aber hier kann »Rohmaterial« vorliegen, freilich nicht nur für die Theologie, sondern für ungezählte andere Gebiete, die man er­wähnen kann oder auch nicht. Die Alltagssprache ist in der ersten Instanz als Rohmaterial für alle möglichen Interessenhorizonte (die ihrerseits mit bestehenden Gruppen Zusammenhängen) inso­fern »roh«, als sie für diese oder jene Interessentengruppe ge­nützt werden könnte: der Zeitungsbericht für Kriminologen und auch etwa Lehrer; der Bericht über Flüchtlinge für Politiker oder Fotografen; die Sätze über Napoleon für Historiker oder auch Künst­ler; die Krankengeschichte für Ärzte oder auch Ethnologen; die Abraham- oder Jesusgeschichten für Philologen oder auch Bildhauer usw. Ob alle hier genannten Beispiele für alle genann­ten Interessengebiete von Belang sein könnten, soll jetzt offen gelassen sein; eindeutig scheint mir zu sein, daß alle »Rohmate­rial« für die Theologie sein können. Inwiefern? Insofern, als alle für Christen (oder Juden) – oder mindestens für Menschen, die im Horizont der Aufmerksamkeit von Christen (oder Juden) stehen – Ausgangsmaterial für Entscheidungen, Urteile, Hoffnungen, Ge­bete, usw. sein können: dann entsteht die Notwendigkeit theo­logischer Arbeit.

In der Realität ist die Ausgangslage theologischer Arbeit aber viel komplexer als in der eben gebotenen Abstraktion, weil sich die Berichte und Beobachtungen usw., die Rohmaterial sein kön­nen, nicht ohne Beimischung längst vorgeformter Urteile, Erwar­tungen usw. darbieten bzw. nicht ohne diese Beimischung auf­nehmen lassen. Um diese Verflechtung zu illustrieren, kann man sowohl auf heutige theologische Arbeit wie auch auf die Formie­rung des Alten und Neuen Testaments verweisen. Logisch ist der Prozeß der gleiche. Sprachlogisch kann man so den Entstehungs­ort der Theologie bzw. die Notwendigkeit ihres Operierens im Übergang von Alltagssprache zu den das Verstehen, Handeln, Beten, Hoffen prüfenden und regulierenden Gedanken sehen. Eine ihrer ersten Aufgaben ist das Ordnen und die Selektion des Materials (modellhaft im AT und NT zu sehen, dann in der For­mierung des Kanons). Daß bei dieser Arbeit die Theologie kei­neswegs nur als Wissenschaft operiert, sondern gerade hier ihre erste Bewährung als Kunst bestehen muß, habe ich oben (vgl. 1.3) schon als Behauptung hingestellt. Aber auch bei Theoriebildung, d.h. bei der Erstellung des theologischen Apparates, mit dem nun über das Selektieren und Ordnen des »Rohmaterials« hinaus Kriterien benannt, Urteile gefällt und Bewertungen vollzogen werden, ist die Kunst, ja die Poesie, mit am Werk (auch wenn dies in den Ohren mancher Theologen im Westen entsetzlich tönt).

Es soll hier die Frage offen gelassen werden, woher die Kriterien, die die Theologie benennt und verwendet, stammen, ob aus den ältesten Schichten des »Rohmaterials« der in erster oder zweiter Gestalt verarbeiteten stories des Alten und Neuen Testamentes, oder aus sich später daran anfügenden stories nebst ihren Ver­arbeitungen, oder gar von woanders her. Dies zu klären war hier nicht die Aufgabe[27].

5.2. »Narrative Theologie«?

Wer von »narrativer Theologie« spricht, wie etwa Michael Novak oder J. B. Metz und viele an­dere[28], will offenbar so oder so zum Ausdruck bringen, daß Narrationen, stories, für die Theologie von besonderer Wichtigkeit sind. Das ist an sich keine neue Einsicht und ist schon im Hinblick auf die Gestalt vieler biblischer Texte völlig einleuchtend. Um es nochmals ganz einfach zu sagen: wo wären wir ohne die bibli­schen Geschichten? Und wie sähe es in Kirche und Theologie aus, wenn wir die Jesusgeschichten nicht hätten? Man sollte wirklich alles daransetzen, diese Geschichten zu erzählen, zu verstehen und wiederum zu erzählen. Darüber besteht gewiß sehr weit­gehende Einigkeit in den verschiedensten Teilen der Ökumene.

Aber was soll der Ausdruck narrative Theologie? Hier können erhebliche Verwirrungen entstehen oder ans Tageslicht kommen. Wenn mit »narrativer Theologie« gemeint sein soll, die Theologie treibenden Christen (oder Juden) – also die, denen der Übergang von stories der Alltagssprache zu regulativen Sätzen zur Auf­gabe wird – sollten nicht außerhalb sondern innerhalb des Sprachstroms von Abraham bis zur heutigen Kirche stehen, sollten also nicht nur reflektieren und beobachten, sondern selber ihren Teil der story leben – dann wäre das ein sehr sinnvolles Desiderat. Aber dafür gibt es bessere Ausdrücke als »narrative Theologie.« – Wenn damit aber eine Antithese zu argumentativer Theologie oder zur Erstellung theologischer Sätze zur Lösung von Problemen bezeichnet werden soll – es gibt Autoren, die dies offenbar wollen — so möchte man sich hier wirklich eine präzisere Ausdrucksform wünschen: soll es also ganz ohne Argu­mente abgehen, ohne Vergleiche, ohne Analogien, ohne Schlüs­se? Das kann ja nicht im Ernst intendiert sein. – Schließlich denkt man an das im Umkreis Barthscher Theologie beheimatete Dik­tum, Theologie solle »rühmende Nacherzählung« sein. Als Ziel­setzung mag man diese Formulierung wohl gutheißen, wenn sie auch etwas hochfliegend tönt und allzu direkt der Sprache alttestamentlicher Publikationen entnommen ist. Sie steht immerhin mit etlichen Kirchenvätern, denen Lobpreis und analytisches Den­ken nicht als Gegensätze erschienen, in bester Tradition. Wenn aber diese Zielsetzung der gesamten Arbeit der Theologie in die Definition umgemünzt wird, »Theologie ist Nacherzählung«, so wird damit eine unerträgliche Verwirrung gestiftet, die umso un­lauterer wirkt, je mehr die Benützer dieses Satzes sich ungeniert komplexer theologischer Summierungen, Theorien und Lehrfor­meln bedienen, wie etwa der Trinitätslehre oder der chalcedonensischen Christologie. Das kann man nicht auch noch dazu haben, wenn man sich der Bescheidenheit des einfachen Nach­erzählers rühmen möchte!

Stories und ihre Nacherzählungen können sehr vieles nicht lei­sten, was einfach geleistet werden muß. Wollte man nun auf die Theologie verzichten und sich auf das Nacherzählen der bibli­schen, konstitutiven stories beschränken, so könnte dies in dreier­lei Form geschehen: a) man verschriebe sich einem absichtlichen Primitivismus und verharrte beim Nacherzählen, b) man täte dies in der Hoffnung, die Hörer würden sich je ihre eigenen kritischen, vergleichenden, kontrollierenden, d.h. theologischen Gedanken machen, und c) man konstruierte kunstvolle theologische Narra­tionen, theologische Epen sozusagen, um unter allen Umständen der üblichen Sprachform des biblischen Urmaterials nahe zu blei­ben. Die erste dieser Möglichkeiten kommt mir indiskutabel vor, jedenfalls vor der Rückkehr einer Rest-Menschheit in irgend­welche Berghöhlen. Die zweite wird tatsächlich praktiziert, aber jeweils nur innerhalb einer durch Dogmen und Lehren festgefüg­ten Matrix, etwa in der russisch-orthodoxen Kirche, wo ein fester Bestand von Heiligenlegenden[29] als Ersatz für eine ausgeformte Ethik dient; diese Lösung würde aber in einer nicht lehr- und liturgiemäßig ganz festgelegten Umgebung nichts anderes als eine Einladung zum christlichen Privatisieren sein. Die dritte Mög­lichkeit, schließlich — sie mag in der Vergangenheit hier und dort verwirklicht worden sein — stellt allerhöchste Anforderungen an Erzähler und Hörer und wird kaum den vielfältigen Forderungen gerecht, die heute auf die verschiedenen Teilkirchen der Öku­mene eindringen[30].

Der Ausdruck »narrative Theologie« ist – genau genommen – eine Fehlbezeichnung hinter der sich aber ein ganz legitimes Anliegen verbirgt. (Als Fachausdruck für die Charakterisierung ganz bestimmter, kunstvoll überarbeiteter biblischer stories, wie man sie gelegentlich im AT und NT findet, wäre der Ausdruck »narrative Theologie« wohl angebracht.) Stories sind in der für sie typischen Sprachform der Narration nicht die Ausdrucksform sondern das Rohmaterial der Theologie.

Quelle: Dietrich Ritschl/Hugh O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, TEH NF 192, München: Chr. Kaiser, 1976, S. 7-41.


[1] Siehe zum story-Konzept jetzt z.B. A.C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1974 (engl. 1965), bes. 191 ff, 231 ff, 292 ff, passim.

[2] J. Barr, Old and New in Interpretation, A Study of the Two Testaments, London 1966, und The Bible in the Modern World, London 1973, um nur zwei größere Arbeiten zu nennen; vgl. auch den im Erscheinen begriffenen Aufsatz »Story and History in Biblical Theology«, in: Journ. of Religion (1976).

[3] J. Wharton, The Occasion of the Word of God, Austin Seminary Bulletin, Sept. 1968.

[4] Memory and Hope, An Inquiry Concerning the Presence of Christ, New York/London 1967.

[5] »A Plea for the Maxim: Scripture and Tradition, Reflections on Hope as a Permission to Remember«, in: Interpretation, Jan. 1971, 113ff.

[6] »Menschenrechte und medizinische Ethik«, in: Wege zum Menschen, Jan. 1976, 16 ff.

[7] Hier stellt sich die dringliche Frage, ob solche regulativen Sätze »ideale Gegenstände« (Husserl) seien, oder ob sie nur für eine bestimmte Aufgabe angenommen sind und nachher fallengelassen werden können (»transzendentaler Pragmatismus«, K.-O. Apel), also nur im »transzendentalen Schein« existierten, wie Habermas es nennt. Dieses Problem soll hier wenigstens angekündigt werden, weil sich später die Frage stellen wird, ob man sinnvoll von der Existenz von »Meta-stories« sprechen kann, die Einzelstories zusammenhalten, s. u. 3.4. und 3.5, sowie 5.1.

[8] Die Freiheit, die eigenen Positionen nicht letztlich ernst zu nehmen – das Gegenstück zum Ehrgeiz von Universitätstheologen – fehlt den westlichen, vor allem deutschsprachigen Theologen gewiß mehr als andere Geistesgaben und ist durch den vielgepriesenen Humor nicht zu ersetzen. – Auch in verantwortlichen Gesprächen mit Menschen in Not (Todes- und Katastrophenfälle) könnte das »Bereitstellen von Kontingenz« – wie ein Freund es nannte – echtere Seelsorge sein als das Einordnen in ein größeres theologisches Schema oder einen übergeordneten Sinnzusammenhang.

[9] Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß heute konstruktive und entscheidend wichtige Theologie vor allem mündlich geschieht: in Lehrstunden und Gesprächen hier und dort in Asien, in Gottesdiensten und Schulen in Afrika, in Auseinandersetzungen und Protesten in Latein-amerika, bei Konferenzen, Planungen und Besprechungen in der industrialisierten Welt. Nur kleine Teile dieser Theologie finden ihren Niederschlag in Briefen, Protokollen, vervielfältigten Papieren oder gar im Druck.

[10] Vgl. das Juli-Heft 1975 der Zeitschrift Theology Today, Princeton, das ganz dem Thema »story« gewidmet ist, dort bes. G. W. Stroup, »A Bibliographical Critique«, 133 ff, mit hilfreicher Bibliographie europäischer und amerikanischer Arbeiten.

[11] Zur Phänomenologie des Geschichten-Erzählens haben in den fünfziger Jahren Wilh. Schapp und dann H. Lübbe gearbeitet, danach H. Weinrich; vgl. auch die literatur-theoretischen Arbeiten im Sammelband Die amerik. Short Story, hg. von H. Bungert, Darmstadt 1972, sowie K. Doderer, Die Kurzgeschichte in Deutschland, Darmstadt 19734, wiewohl Kurzgeschichten als besondere Kunstform für unser Thema nur indirekt von Bedeutung sind. Für die theologische Anwendung ist außer H. Weinrich den amerik. Autoren H. R. Niebuhr (1941), R. McAfee Brown (1974), M. Novak (1971), J. McClendon (1974) und dem Kritiker T. L Estess (in Journ. of the Americ. Acad. of Rel., Sept. 1974) besondere Beachtung zu schenken.

[12] Diese Einsicht steht bekanntlich seit langem an zentraler Stelle alttestamentlicher Theologie. Ihre Entstehung spiegelt sich schön in den einflußreichen Büchern über »die Theologie« des Alten Testaments wider: W. Eichrodt legte (I: 1933, II: 1935) noch eine nach systematisch-theolo-gischen Topoi gegliederte Theologie vor, krasser noch L. Köhler (1935), N. H. Snaith (1944, viele Auflagen) und Edmond Jacob (1955), aber Th. C. Vriezen (1949, 1954) warnt vor ungebührlicher Systematisierung (S. 131 der engl. Obers., passim), der er selbst aber erliegt, während G. v. Rad (I: 1957, II: 1960) und W. Zimmerli (1972) in ihren Darstellungen ganz vom story-Charakter ausgehen. Vgl. auch R. Smend, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens, Zürich 1968 (Theol. Studien Nr. 95), sowie Die Mitte des Alten Testaments, Zürich 1970 (Theol. Studien Nr. 101).

[13] Der Schriftsteller Jean Améry, Jude und früherer KZ-Häftling, gibt dem Alten Testament eine fulminante Absage in seinem Essay »Ein Un¬glücksbuch für die Menschheit«, in der Beilage zur Basler National- Zeitung vom 6. 9. 1975. Man mag ihn nicht hochnäsig abtun, haben doch Generationen von Theologieprofessoren und anderen aufrechten Chri¬sten in der Vergangenheit im Grunde nicht anders geurteilt (und freilich entsprechend verzerrt das Neue Testament gelesen).

[14] Nach wiederholten Reisen in Ländern der sog. Dritten Welt bin ich über das Anwachsen des Fundamentalismus (und Nationalismus) in den Kirchen nachhaltig deprimiert.

[15] Hier berührt man grundsätzliche Probleme nicht nur der Theorie historischer Erklärung (vgl. A. C. Danto, aaO., Kap. X u. XI – wo befremdlicherweise Troeltsch nicht genannt wird), sondern der Erkenntnistheorie überhaupt. Aus dem modernen Empirismus stammende erkenntnistheoretische Arbeiten, ausgehend von M. Schlick, bieten eine kritische Alternative zur husserlschen phänomenologischen Methode, indem nun zwischen Erkenntnis und Anschauung (Erleben) unterschieden und damit die Existenz ideeller Wesenheiten oder intendierter Inhalte (z.B. bleibende Wirklichkeiten historisch »unwahrer« stories) als Scheinerkenntnis deklassiert wird. – Zum Problem der Wahrheit einer story vgl. auch H. Weinrich, Tempus, Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart 1964, sowie »Narrative Theology« in: The Crisis of Religious Language, hg. von J.-B. Metz u. J.-P. Jossua, New York, 1973.

[16] Vgl. das sehr anregende Buch des sowjetischen Strukturalisten J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972; bes. Kap. 1 über die Kunst als Sprache und Kap. 5, 8 und 9. Lotmans Anwendung informationstheoretischer Prinzipien auf das Verstehen der künstlerischen Auswahl von einer unter vielen Formen oder Ausdrucksweisen erlaubt aufschlußreiche Erklärungen der allgemein bekannten Phänomene der Vielschichtigkeit von Texten, der modellbildenden Funktion von Sprache, der Unfertigkeit, der Verfremdung etc. Auch unser Problem der »Meta-story« bzw. der Ineffabilität wird von Lotmans heuristischen Kategorien interessant berührt.

[17] Es wird hier bewußt auf eine Diskussion über Symbol und Symbolik verzichtet, weil das damit bezeichnete Phänomen auch mit anderen, z.B. den hier verwendeten Kategorien beschrieben werden könnte. Ähnlich verfährt auch J. Lotman. – Der Begriff des Symbols hat ohnehin in der theologischen Bemühung um Sprache und »Wirklichkeit« eine unglückliche Geschichte.

[18] Mit dem Wort »Anlaß« gebe ich das englische »occasion« wieder, das in neuerer Phänomenologie und auch bei A. N. Whitehead eine Rolle spielt; vgl. auch Whartons Schrift, The Occasion of the Word of God; s. o. Anm. 3.

[19] Vgl. M. Polanyi’s Einsichten über »tacit knowledge« in Personal Knowledge, New York (1958) 1962.

[20] Vgl. I. T. Ramsey’s »disclosure models« in Religious Language, An empirical Placing of Theological Phrases, New York (1957) 1963.

[21] M. Frisch, Tagebuch 1946-1949, Frankfurt 1950, 30 f. – Ähnlich J. Wharton, aaO. 35.

[22] Siehe dazu den schönen Beitrag von R. McAfee Brown, »My Story and »The Story««, im genannten Symposion über »Story«, Theology Today, Juli 1975, 166 ff.

[23] Gewöhnlich sind nicht-katholische Theologen nur bereit, diese oder ähnliche Überlegungen auf einer psychologischen Ebene gelten zu lassen, wollen sie aber nicht mit theologischen Gedanken über Anthropologie oder den »neuen Menschen« vermengen. Aus solcher Einseitigkeit könnte eine große Armut in der theologischen Anthropologie resultieren, nicht zu reden von der praktischen Vernachlässigung der Persönlichkeitsformierung in Gemeinden und kirchlichen Ausbildungsstätten.

[24] Nicht eben als Beweis aber doch als interessante Beilage seien hier jüngste Berichte über die Forschungen von Ph. Liebermann (Brown University) und Ed. Crelin (Yale University) über den Neanderthaler Menschen erwähnt, die von der Möglichkeit sprechen, daß dieser primitive Mensch ausstarb wegen des Fehlens einer brauchbaren Sprache! (Parallelen zum Knochenbau von Tieren zeigten, daß dieser frühe Mensch mindestens drei in allen Sprachen wichtige Vokale nicht hätte von sich geben können).

[25] Ich übergehe hier die Diskussion um verschiedene Rollenbegriffe, z.B. bei T. Parsons, Dahrendorf, Luhmann; und gleichfalls um die auf Bernsteins Untersuchungen folgenden Arbeiten über Sprache und Entwicklung von Kindern.

[26] Die rapide Entwicklung der Black Muslim Organisation in den USA seit etwa 1960 bietet hochinteressante Beispiele: auf der Suche nach Identität der Schwarzen wurden ganze Bündel von stories in der Form von Urmythen erfunden, die den heute Lebenden ein völlig neues Identitätsbewußtsein zusprechen. – Vgl. im Kontrast die Wirkung biblischer stories in der Darstellung von J. H. Cone, »The Story Context of Black Theology« im genannten Symposion über »Story«, 144 ff.

[27] Ebenso undiskutiert lassen wir die Frage, in welcher Weise anredende, doxologische Sprache »Rohmaterial« der Theologie werden kann. Ich bin dieser Frage verschiedentlich nachgegangen, vgl. Memory and Hope (s. o. Anm. 4), 89-96, 166-76 und 220 ff. Grob summiert ist das Ergebnis dies, daß – wenigstens in biblischen und patristischen Texten – anredende Sprache auf stories beruht und nur unter bestimmten Umständen zum Ausgangspunkt neuer stories werden kann und ferner, daß ein Prozeß der »Scholastifizierung« immer dann einzutreten drohte, wenn dieser Zusammenhang aus dem Auge verloren war, z.B. wenn man aus doxologischen Aussagen theologische Lehren machte.

Zur Kriterien- und Kanonfrage vgl. meinen oben Anm. 5 genannten Aufsatz. – Zur Problematik einer »biblischen Theologie« s. den schönen Aufsatz von J. Barr, »Trends and Prospects in Biblical Theology«, Journ. of Theol. Studies, New Series, Vol. XXV, 1974, 265-282.

[28] Der jüngste Beitrag dürfte das Buch von Ulrich Simon, Story and faith in the biblical narrative, London 1975, sein. – Paul van Buren, The Edges of Language, An Essay in the Logic of a Religion, London 1972, bes. 35ff, 75f, 122f, 141 f und die Summierung 162—169, will zwar keine »narrative Theologie« vertreten, aber mißt bei seinen Überlegungen zur Sprache des christlichen Glaubens der story eine wichtige Bedeutung bei: die Ineffabilität Gottes (nun in kritischer Distanz zu seinem Buch The Secular Meaning of the Gospel, 1963) ist »am Rand der Sprache« in der story erreichbar, die Israel über seine Geschichte und die ersten Chri-sten über Jesus erzählten.

Weshalb E. Jüngel seinen gelehrten Aufsatz »Metaphorische Wahrheit«, in: Metapher, Sonderheft der EvTh, 1974, 71-122, im Untertitel als Beitrag »zur Hermeneutik einer narrativen Theologie« bezeichnet, ist mir nicht ganz einsichtig und wird im Text nur an der einen Stelle (113) gestützt, wo Metaphern als notwendig auf Erzählungen ruhend bezeichnet werden. Sollte die Analyse von Metapher im Ganzen ein solcher Beitrag sein? Um dies beurteilen zu können, ist mir das über die wertvollen Analysen von Aristoteles‘ und Nietzsches Metapherverständnis hinausgehende eigene Verständnis Jüngels von Metaphern nicht klar genug geworden, vielleicht, weil wir – bei gemeinsamem Interesse – von zu verschiedenen sprachphilosophischen Voraussetzungen an die Problematik herangehen. Ist nun Metapher in der Sprache nur scheinbar eine Besonderheit (wie mit Bezug auf »traditionelle Sprachlehre« – was ist das? – öfter gesagt wird) oder ist sie dies auch nach Jüngels eigener Meinung (91 ff, 100, 104, 100 ff), oder ist die Sprache überhaupt »durchgängig metaphorisch strukturiert«, wie es Thesen 11 und 12 (120), nun im Einklang mit etlichen Analytikern, sagen? Oder ist sie dies nur, wenn sie (und wie?) »Anredecharakter« hat (108ff, 115ff u. ö.)? Diese Unklarheiten wären bei Berufung auf (und Auseinandersetzung mit) einschlägige Arbeiten zur Metapher (in Beziehung auf Modell, Analogie, etc.) etwa von M. Black (1962), M. B. Hesse, R. B. Braithwaite, F. Ferré u. a. und I. T. Ramsey und seine Interpreten – die nun wirklich über Aristoteles und Nietzsche in dieser Frage hinausgehen – vielleicht behebbar gewesen. – Ich hoffe, daß diese Bemerkungen vom Leser nicht als Polemik sondern als Anregung aufgefaßt werden.

[29] Vgl. die Sammlung Russische Heiligenlegenden, hg. von E. Benz, Zürich 1953, mit Einleitung und Kommentaren. In einem festgefügten Kontext kann Berichtssprache (bestehend aus »Ist-Sätzen«) doch den Effekt von Anredesprache (»Soll-Sätzen«) haben, wenn auch seit David Hume und Kant und besonders der neueren analytischen Philosophie grundsätzlich dieser Funktionswechsel problematisiert oder negiert worden ist.

[30]Diese kritischen Einschränkungen schließen nicht aus, daß in bestimmten Situationen das geplante Erzählen von stories an die Stelle theologischer Arbeit treten kann und auch sollte, vor allem dann, wenn theologische Arbeit und Austausch in Gefahr sind, im Formelhaften zu verharren oder wenn theologische Summierungen, »autonom« gewordene »Ableitungen« (vgl. oben 3.5) und dgl. als Verkündigungsinhalte mißverstanden werden oder zu Scheindifferenzen und Scheinübereinstimmungen mißbraucht werden. – In einem frühen Stadium der Vorplanung der nächsten Vollversammlung des Ökumenischen Rates – damals war für 1975 noch Jakarta vorgesehen – träumten einige der Gesprächspartner, auch ich, von einer Vollversammlung, in der Vertreter der Gliedkirchen nur ihre stories erzählen sollten, um diese vielen, divergierenden Einzel-stories am Schluß in einem großen Gottesdienst zu »bündeln«. Aber die Genfer Spezialisten wußten gleich einzuwenden, daß sich viele Gliedkirchen nicht in dieses bescheidene Konzept fügen würden. In Wahrheit würde es sich hierbei aber nicht um einen Ersatz für theologische Reflexion handeln, sondern um eine Bereitstellung des reichen »Rohmaterials« von Kirchen aus verschiedensten Kulturen, um danach umso verantwortlicher den theologischen Aufgaben nachgehen zu können.

Hier der Text als pdf.

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