Max Brod, Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas: „Man könnte Kafkas religiöse Grundüberzeugung in die Sätze formen: »Das Gött­liche ist da; aber es ist unserem menschlichen Fassungsvermö­gen inkommensurabel. Sehr oft (von Ausnahmen abgesehen) entsteht eine trübe Brechung des ursprünglichen Göttlichen im Sensorium des Menschen. Die »kaiserliche Botschaft‹ erreicht dich nicht. Aber wenn du sie ständig in Liebe erwartest (›Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt‹), dann tust du das Richtige.«“

Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas[1]

Von Max Brod

Der Glaube und die Verzweiflung

In Kafkas Werk findet sich viel Skeptisches, das an den Grundlagen des Glaubens rüttelt. Dennoch ist er kein Dichter des Unglaubens und der Verzweiflung. Er ist vielmehr ein Dichter der Prüfung des Glaubens, der Prüfung im Glauben. Daher keiner von jenen, bei denen sich der Zweifel zur star­ren Grimasse der Gottesleugnung verhärtet hat. Vielmehr muß man ihn jenen zurechnen, die unter unsäglichen Mühen den Glauben suchen, die mitten in der Verzweiflung unserer liebe-leeren Zeit die schmale Flamme der Hoffnung sorgsam hegen, sie immer wieder verlöschen sehn und denen dennoch zuwei­len, in gnadenhaften Augenblicken, in Perioden der Er­hebung ein Ahnen der Erlösung geschenkt wird.

»Schreiben als Form des Gebetes« — das ist eine der Haupt­erkenntnisse, zu denen Kafka bei Betrachtung seiner selbst gelangt. Und an anderer Stelle konstatiert er: »Glauben heißt: das Unzerstörbare in sich befreien, oder richtiger: sich befreien, oder richtiger: unzerstörbar sein, oder richtiger: sein.« Immer wieder kehrt er zu dem Satz zurück: daß in jedem Menschen ein göttlicher Kern, etwas »Unzerstörbares« ist, an das man auch dann glaubt, wenn man mit dem zer­legenden Intellekt bis zu diesem Unzerstörbaren nicht vor­dringen kann und daher die Welt ringsum (wie es heute so oft naheliegt) Zusammenstürzen sieht. »Nicht jeder kann die z Wahrheit sehn, aber sein« — so lautet einer der wichtigsten Wahrheitssprüche Kafkas. Die Wahrheit sein, die Wahrheit erleben, sein ganzes Leben zur Wahrheit machen: das ist der Zielpunkt, der inmitten aller Verzweiflung den Beinahe-Verzweifelnden vor dem totalen Ausgeliefertsein bewahrt.

Die Kulissen, innerhalb deren sich dieser dramatische Kampf um Rettung einer Seele (gleich: Rettung der Welt) abspielt, sind bei Kafka sehr düster. Sie können leicht mit den Kulis­sen der vollständigen und abgezirkelten Verzweiflung, des Nihilismus verwechselt werden. Doch solch eine Verwechslung ist Irrtum. Die schmale Grenzzone nachzuweisen, die dennoch vorhanden ist, die zwischen der Position Kafkas und der Position unentrinnbarer Verzweiflung liegt: das ist die kom­plizierte Aufgabe, die sich immer wieder vor dem gewis­senhaften Interpreten hinbreitet und der er immer nur un­vollkommen, annäherungsmäßig gerecht werden kann.

Ein einfaches Ja ist freilich nicht die Art, in der Kafka dem Anruf Gottes antwortet. Vielleicht kann heute, in einer der schlimmsten Perioden der Menschheitsgeschichte, ein solch un­gebrochenes Ja verantwortlicherweise gar nicht zum Tönen gebracht werden.

Du-Sagen zu Gott? Es gibt nichts, was der Haltung Kafkas entfernter läge. Er hatte überdies für so allgemeine Lösungen wenig übrig, auch politisch glaubte er (bei dem starken sozi­alen[2] Einschlag, der seinen Bemühungen innewohnte) vor allem an tastende Fortschrittsversuche der Menschheit. Frei­lich auch an einen tiefen Instinkt für das Richtige. Der aber war ihm ein zartes, launenhaftes, manchmal freilich unglaub­lich fein witterndes und kräftig zupackendes Instrument. Manchmal. Meist allerdings führt uns das Tasten kläglich irre. Unberechenbare Zufälle helfen gelegentlich auch wieder weiter in diesem Meer des Chaos, das wir gar nicht übersehen. Oder diese Zufälle vernichten uns. Dennoch bleibt als Gebot bestehen: Harre getreulich aus![3] Ergebnis: das Göttliche ist seiner ganzen Art nach dem Menschen und seinen Maßen inkommensurabel. Für diese Eigenschaft ›inkommensurabel‹ findet Kafka immer neue Gleichnisse. Daher die vielen Tierge­schichten in seinem Werk. Wie Gott dem Menschen nicht oder nur sehr lückenhaft verständlich werden kann (Hiob), so auch das Tier dem Menschen nicht oder nur lückenhaft. So auch der Mensch dem Tier nicht, wie Kafka in seiner melan­cholischen Travestie des Atheismus, den ›Forschungen eines Hundes‹ es gestaltet hat, in denen der Mensch für den Hund unsichtbar, unerahnbar geworden ist. Man könnte Kafkas religiöse Grundüberzeugung in die Sätze formen: »Das Gött­liche ist da; aber es ist unserem menschlichen Fassungsvermö­gen inkommensurabel. Sehr oft (von Ausnahmen abgesehen) entsteht eine trübe Brechung des ursprünglichen Göttlichen im Sensorium des Menschen. Die »kaiserliche Botschaft‹ erreicht dich nicht. Aber wenn du sie ständig in Liebe erwartest (›Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt‹), dann tust du das Richtige.« — Was die eben erwähnten beglückenden ›Ausnahmen‹ anlangt, so ist ein weiteres Aphorisma Kafka bedeutsam: »Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeutet eben: Unmöglichkeit von Krähen.«

Mit diesem Satz (und einigen analogen in seinem Werk) hat Kafka aus Eigenem eigentlich eine Variante des ontologischen Gottesbeweises[4] gegeben. Schon diese Bemühung unterschei­det unseren Dichter von jenen unter seinen Nachfahren, die (wie Sartre, Beckett und andere) die transzendente Welt ausstreichen, also Antipoden Kafkas sind, sei es auch von ihm beeinflußte. Antipoden, die doch so oft mit ihm in einem Atem genannt werden. — Daß unsere Zeit eine Zeit der Ver­zweiflung ist, da der Fortschritt der Technik sich fort­schrittsfeindlich auswirkt: das braucht nicht mehr betont zu werden. Die Nuklear-Experimente zeigen deutlich, was uns bevorsteht, wenn die Herzen nicht radikal zur Umkehr ge­bracht werden. Zu eng hat starre Geisteskraft die Elemente an sich herangerafft. »Die ewige Liebe nur vermags zu scheiden.« Noch sind nicht alle Auswege zu dieser Liebe hin verlegt. Aber es ist höchste Zeit, sich zu besinnen. Eine solche Periode der letzten Minute, wie wir sie jetzt erleben, hat es, welthisto­risch gesehen, vielleicht noch niemals gegeben.

Die letzte Minute gebiert Verzweiflung (neben ihr freilich auch im Feuer gehärtete Hoffnungen), die Verzweiflung ge­biert Autoren des Negativismus, die es sich angelegen sein lassen (wie einst Markion, der in dieser Hinsicht weiter ging als sonst irgendwer), den Glauben zu zerstören, daß die Welt das Werk eines guten Schöpfergottes sei.

Ist auch Kafka ein solcher Markionite oder Existentialist des glaubenslosen Flügels dieser Bewegung, der Kierkegaard mißverstanden hat? — Man muß sagen, daß es weite Strecken gibt, auf denen Kafka mit den Negativisten in gleichem Takt zu marschieren scheint. Aber dann kommt doch immer wieder, wie im Folgenden eingehend dargestellt werden soll, — kommt ein Punkt, an dem Kafka die der heutigen Strö­mung entgegengesetzte Richtung einschlägt. Und gerade die Punkte dieser Art sind entscheidend, sie konstituieren als Thesen ein ganz anderes Bild als das, unter dem Kafka be­rühmt geworden ist. Meiner Meinung nach ergeben gerade diese Thesen, innerst durchdacht, Rettungsmöglichkeiten der Menschheit, obwohl sie weniger auffallend und weniger ein­prägsam sind als die gewöhnlich allein gesehenen negativen Züge im Werkbild Kafkas.

In grobem Umriß formuliert: Nicht das, was Kafka mit der negativistischen Fraktion der Existentialisten (Sartre) gemein­sam hat oder gemein zu haben scheint, als welche Fraktion die Absolutheit von Werten leugnet, nicht diese Zerbröcklungssucht macht Kafkas besondere Bedeutung im Sinne eines religiösen Denkers aus. Dieses Zerbröckelnde ist bei Kafka da, aber durch die Verzweiflung schimmert Positives durch, und dieses Positive bildet den Kern, sei es da und dort noch so zart, noch so vorsichtig und verschlüsselt, ja zuweilen gerade­zu ängstlich, verschreckt wiedergegeben. — Daß Kafkas dichterische Bedeutung, die Originalität und Echtheit seiner gestaltenden und sprachlichen Aussage über allem Zweifel, über alle theoretischen Kontroversen hinweg feststeht, be­darf keiner Darlegung. Offene Türen werden dadurch, daß man sie einrennt, nicht bemerkenswerter.

Es ist aber immerhin und jenseits der von niemandem be­strittenen Dichtergröße Kafkas wichtig, daß diese Größe über­dies von absoluten Werten her bedingt und bestimmt ist, was ihr eine ganz besondere Art und Würde (Würde auch in der humorhaften Form) verleiht. In diesem Sinne behauptet ›engagierte Kunst‹ ihre Bedeutung, nur muß sie von absoluten Werten her engagiert sein. Ich wage die Behauptung, daß dies bei Kunst höchster Ordnung immer der Fall ist, selbst dann, wenn die absoluten Werte (wie etwa bei Gotthelf) gelegentlich die Maske zeitbedingter Zielsetzungen vors Gesicht nehmen. Kafka hat noch vor dem Graus der völlig entwickelten Dik­taturen und der Atombombe, vor der Apokalypse des ge­knechteten Individuums gelebt —, aber er hat diese Schrecken ahnungsvoll, prophetisch vorausgenommen. Daher die gespenstisch-unglückhafte stockende dunkle Luft, die in sei­nen Romanen fühlbar ist. Es ist die Antizipation der Schreckenszeit weit über das persönliche Schicksal des Dichters hin­aus (so zum Beispiel in der Verhaftungsszene, im Geheimver­fahren des ›Prozeß‹)[5], was heute einen Teil der Wirkung Kafkas erklärt, soweit sie legitim ist und nicht auf Verwir­rung des Gefühls beruht. Das Zeitgeschehen spürt sich von Franz Kafka gleichsam auf frischer Tat ertappt. Es hat ein schlechtes Gewissen vor ihm. Denn er hat ja alles schon im vorhinein warnend beschrieben. Trotzdem sind wir den falschen Weg, den der Knechtungen und der Liebesleere, gedan­kenlos weitergeschritten.

Im allgemeinen wird leider nicht dieses »schlechte Gewissem unserer Zeit genauer analysiert, wenn man die starke Wir­kung betrachtet, die Kafka auf viele, namentlich auf die unverführte Jugend ausübt, die die Reinheit und Aufrichtigkeit seiner Darstellung liebt. Man sieht die Sache anders: Grund dieser Wirkung sei der Pessimismus Kafkas, des in seine Selbstauflösung gleichsam wollüstig versinkenden Ohnmachts­menschen. Viele haben dargelegt und werden es zweifellos auch weiterhin schreiben (denn dieser Mars regiert die Stun­de): daß Kafka ein Autor der Dekadenz, der unentrinnbaren Verlorenheit ist, die keinen Himmel und kein richtendes Sit­tengesetz mehr über sich sieht, die sich an keine Tatsache mehr klammert als an das Nichts des dem Tode und der Verdamm­nis preisgegebenen Ichs. Solche unentwegt auf Kafkas Pessimismus Deutende werden auch dann nicht eines Bes­seren belehrt, wenn man ihnen Tagebuchaufzeichnungen des Dichters wie die vom 16. Oktober 1921 vorweist, in der es mit rührender Bescheidenheit und Selbst-Unterschätzung (ge­gen die ich zu Kafkas Lebzeiten immer vergebens anzukämp­fen hatte und die sein einziger Fehler war), aber doch mit ausdrücklicher, deutlicher Ablehnung der Verzweiflung fol­gendermaßen heißt:

»Wenn mein Fundus auch noch so elend sei, »unter gleichen Umständen‹ (besonders mit Berücksichtigung der Willens­schwäche) sogar der elendeste auf der Erde, so muß ich doch, selbst in meinem Sinne, das Beste mit ihm zu erreichen su­chen, und es ist leere Sophistik zu sagen, man könne damit nur eines erreichen und dieses eine sei daher auch das Beste und es sei die Verzweiflung.«

Ich leugne nicht etwa, daß es andere Tagebuchstellen gibt, in denen Kafka dem, was er hier als »leere Sophistik« bezeich­net, verfallen erscheint. Aber ich will ja auch gar nicht nach­weisen, daß es bei Kafka Stimmungen der Verzweiflung nicht gibt. Das wäre ein törichtes Unterfangen. Alles was ich bezeu­gen will, liegt in dem einen Satz beschlossen: Nicht nur sol­che Stellen gibt es bei ihm, er ist nicht der Dichter des aus­schließlichen Pessimismus, sondern es finden sich bei ihm auch Wege der Hoffnung, Wege der Erlösung, die um so subtiler, aufrichtiger, überzeugender locken, je seltener sie sich zeigen. — Eine Reihe von Sätzen, die diese Hoffnungs- und Aktivitäts-Komponente bei Kafka belegen, liest man im wei­teren Verfolg dieser Arbeit. Man könnte aus ihnen und an­dern Stellen, die ich nicht alle anführen kann, ein ganzes Kafka-Brevier des positiven Lebens, ein Trostbüchlein, ein Kompendium der rechten Weisung zusammenstellen. Deut­licher als bisher würde man sich dann bewußt werden, wenn man Kafkas Werk studiert: daß man dem Ringen einer edlen Seele um Selbstbehauptung beiwohnt, in welchem diese Seele manchmal schwach wird und den Kampf verliert, manchmal aber auch das Schlachtfeld behauptet und ins freie Licht blickt. Gegen die schrecklichen Vereinfachen, die in Kafka den ewigen Nur-Verlierer sehen wollen: gegen die wende ich mich!

Daß es gerade das Motiv unaussagbaren Leidens, das Motiv der Angst, der Verengung und Unfreiheit ist, das bei ihm eine besonders eindringliche Ausgestaltung empfängt: das ist unbestreitbar. Dennoch gibt es einen bedeutsamen grundsätz­lichen Unterschied zwischen ihm und den großen Poeten der Dekadenz, deren Nachfolge heute überall auftaucht. Um dies deutlicher zu erklären, muß man unterscheiden zwischen der imaginären Welt von Gestalten, die ein Dichter kraft seines Genies bildet, — und dem Lebensrhythmus und Elan, mit de­nen er sich zu dieser seiner selbstgeschaffenen Welt ver­hält.

Eine Welt der Schrecken, der Alpträume, des Überwältigtseins durch dämonische Mächte und Richtersprüche spannt sich bei Kafka aus, in dieser Hinsicht ist er den poètes maudits verwandt, steht (freilich nur auf den ersten Blick) neben E. A. Poe, Baudelaire, E. Th. A. Hoffmann, neben Flauberts ›Bouvard et Pécuchet‹, dieser umfassendsten Epo­pöe des universalen Mißlingens. Den koboldhaften Dilettan­ten Bouvard und Pécuchet hat Kafkas ganze ironische, boh­rend nachdenkliche Liebe gegolten. Doch für Kafka charakte­ristisch ist, daß er in dieser Welt höllischer Minuszeichen, die sich ihm aufnötigt, nicht zu verweilen gedenkt, daß er mit aller Kraft aus ihr hinausstrebt. Ja, daß man die Richtung, in der er geht, geradezu mit seinen eigenen Worten umschrei­ben kann: »Hier ankere ich nicht.«

Er tendiert aus der Gottverfinsterung unserer Tage in ein an­deres Klima, zu Freiheit und Ordnung hin, selbst wenn sein Wunsch, sich frei einordnen zu können, immer wieder ge­äfft und hintertrieben wird. Die Strebung bleibt, wird allen Hindernissen zum Trotz nicht aufgegeben.

Dagegen zeigt sich bei den genuinen Dekadenten wie etwa bei E. Th. A. Hoffmann und den andern genannten Herrschern der Nachtseite oft ein geradezu lustvolles Verweilen in grauenvollen Schwächezuständen, ein Indulgieren, ein kauzi­ges Sichvergnügen an den Schaudern des Verfalls und Unter­gangs, wobei, wie bei Hoffmann, manchmal ein kräftig-bie­deres Moralsprüchlein beigeklebt ist, das aber niemanden täuscht. Selbstverständlich ist mit solch einer Angabe der weltanschaulichen Position eines Autors nichts über oder gegen seine dichterische Kraft, die Leuchtstärke seiner Vision gesagt. Daß auch die Gefühle eines Schwächlings, eines preziösen Dandys mit erlauchtester Intensität, mit Donnerworten dar­gestellt werden können, gehört zum Alphabet jeder Kunst­betrachtung, — wiewohl ein geheimnisvoller Zusammenhang der höchsten künstlerischen Gestaltung mit der äußersten Reinheit des Ethos, mehr geahnt als aussprechbar, im Hin­tergrund all dieser so komplizierten Beziehungen (siehe das oben über engagierte Kunst Gesagte) verborgen liegen mag.

Wo steht ein Autor und wohin tendiert er? (»Hier ankere ich nicht«)

Man muß erforschen und wissen, nicht bloß wo sich gleich­sam der geometrische Ort aller Gebilde eines großen Dichters befindet, sondern auch ob er zu diesem Ort hinstrebt oder von ihm weg.

Homers Welt ist die eines Heldenzeitalters; der Sänger be­wegt sich in ihr mit unüberbietbarer Sicherheit und gleich­zeitig bejaht er sie. Er will sie. Auch da, wo er sie beweint, wie in jenem herzbewegenden Zwiegespräch zwischen dem Greis Priamos und Achilleus (gegen Ende des Gedichts).

Die Welt Edgar Allan Poes ist die der Auflösung, der schil­lernden, farbige Blasen werfenden Selbstzerstörung. Poe be­wegt sich in ihr mit der gleichen Sicherheit wie Homer in seinem festfundierten Götter- und Heroen-Kosmos; ja bei Poe ist dieser Sicherheit über Abgründen ein gewisses diaboli­sches Behagen beigemischt, das sich mit der kranken Fanfare seines ›Nevermore‹ dem Leser verführerisch schön einhäm­mert. Poe will diese seine Welt der Morbidezza. Er kann sie ebensowenig verneinen wie Homer seine blutenden oder azur­haft lichten Horizonte.

Kafka bewegt sich etwa in einer ähnlichen Welt wie Poe. Aber er will diese Welt Poes nicht. Er fühlt sich in ihr durch­aus nicht behaglich, er weiß sich höchst fremd in ihr. Tat­sächlich hat ihn ihre Darstellung nicht interessiert, so weit er nicht selbst (aber mit dem Vorzeichen nein) der Darstellende ist. Er hat Bücher vom Typus Poe nicht gelesen. Sondern Goethe, Stifter und Hebel. Er begehrt auf gegen die Welt des kalten Zerstörens, der Folterungen, der bösen Gerichte, der tückischen Rechtsverdrehungen, des Alleinseins. Mit seiner ganzen literarischen Arbeit protestiert er gegen die von ihm so meisterlich gezeichnete Sphäre des Distanziertseins, der Gleichgültigkeit, des Tötens, die ihm einmal auch als Bild der ›Alexanderschlacht‹ erscheint, das an der Wand des Schul­zimmers hängt (dieses Gemetzel!) und das man durch seine guten Taten »noch in diesem Leben« unsichtbar machen, an­nullieren, »verdunkeln oder gar auslöschen« soll. — Kafka sucht jenseits des Weltverderbs eine Insel der Freiheit und Reinheit, der gerechten Regelung und Arbeit für alle, wie dies im Schlußkapitel seines Romans ›Amerika‹ geradezu jungenhaft naiv geträumt ist.

All diese Komplikationen übersieht man oft, wenn man von Kafka spricht. Daher ist es gut, auf das zu hören, was er selbst sagt. Als eine Art Glaubensbekenntnis ist mir immer das folgende Aphorisma erschienen:

»Läufst du immerfort vorwärts, plätscherst weiter in der lauen Luft, die Hände seitwärts wie Flossen, siehst flüchtig im Halbschlaf der Eile alles an, woran du vorüberkommst, wirst du einmal auch den Wagen an dir vorüberrollen lassen. Bleibst du aber fest, läßt mit der Kraft des Blicks die Wurzeln wach­sen tief und breit — nichts kann dich beseitigen und es sind doch keine Wurzeln, sondern nur die Kraft deines zielenden Blicks —, dann wirst du auch die unveränderliche dunkle Ferne sehn, aus der nichts kommen kann als eben nur ein­mal der Wagen, er rollt heran, wird immer größer, wird in dem Augenblick, in dem er bei dir eintrifft, welterfüllend und du versinkst in ihm wie ein Kind in den Polstern eines Reisewagens, der durch Sturm und Nacht fährt.«

Deutlicher kann ein Dichter seinen Glauben an die göttliche Gnade, an die Erlösung nicht ausdrücken. Der »Reisewagen« des Vaters trägt ihn aus allen Qualen und plätschernd lauen Unreinlichkeiten davon. Dasselbe hat Kafka in einer andern Aufzeichnung gestaltet: »Dieses Gefühl: ›hier ankere ich nicht‹ — und gleich die wogende, tragende Flut um sich füh­len!« Oder in jener andern: »Mit dem Himmel Brust an Brust. Friede, Versöhnung, Versinkung«. Das Gleichnis vom Reisewagen halte ich nicht bloß um seiner plastischen Schön­heit und Eindringlichkeit willen, sondern auch deshalb für be­sonders glücklich, weil der Dichter hier, jenseits der bekannten dogmatischen Diskussion, beides als zusammenwirkend in Erscheinung treten läßt: die göttliche Gnade wie auch den Anteil des tätigen Menschen, den »zielenden Blick«, und weil in dem, was Kafka mit den Worten »flüchtig im Halb­schlaf der Eile« als das zu Vermeidende angibt, wirklich das Hauptlaster unserer Zeit getroffen ist.

»Halbschlaf der Eile« — es ist (ich kann da Erfahrung mit­teilen) von geradezu pädagogischer Wirkung, wenn man mehrmals am Tage das Geschehen durch diesen Wortfilter hindurchgehen und das Trübe Zurückbleiben läßt, wenn man sich selbst mit Kafkas Worten immer wieder zu kräftigerer Besonnenheit und sinngemäßerer Durchleuchtung des Vorbei­rinnenden aufruft. Kafkas Mahnung, auf die Erlösung »zu zielen«, hat meines Erachtens eine um so größere Bedeutung, weil er eingestandenermaßen in den Niederungen und Trä­nentälern schreibt, in denen es fast gar keine Hoffnung gibt. Um so kostbarerer sind die seltenen Durchblicke in helleres Gelände. Auch um so beweiskräftiger, denn gerade die Selten­heit ist eine Bürgschaft dafür, daß sich Kafka nichts eingere­det hat, daß diese Durchblicke phrasenlos, ernst gemeint und aufrichtig sind. Ein Autor, der allzu leicht dazu neigt, alles in versöhnlichem Licht zu sehen, ist mit seinen Hoffnungen und Erlösungssprüchen meist rasch zur Hand und bei weitem nicht haushälterisch genug. Das Salbungsvolle ist eine Ge­fahr, der selbst Dostojewski in der Figur seines Staretz (›Brüder Karamasow«) nicht ganz entgangen ist. Kafka er­weist sich als strenger. Wenn er sagt »Ich hoffe«, so kann man sicher sein, daß es sich um eine völlig reale und durch­geprüfte Hoffnung handelt.

In dieser Hinsicht erreicht Kafka manchmal eine geradezu primitive Größe und Zweifelsfreiheit. So wenn er schreibt: »Daß es uns an Glauben fehle, kann man nicht sagen. Allein die einfache Tatsache unseres Lebens ist in ihrem Glaubens­wert gar nicht auszuschöpfen. Hier wäre ein Glaubenswert? Man kann doch nicht nichtleben. Eben in diesem ›kann doch nicht« stecht die wahnsinnige Kraft des Glaubens; in dieser Verneinung bekommt sie Gestalt.«

Schließlich darf man bei Beurteilung dieser Dichterperson die traurigen Familien- und Berufsumstände sowie die lange, tödliche Krankheit nicht vergessen; all diesem hatte Kafka sein Werk abzuringen. Er tat es mit Leidenschaft, geradezu mit Heroismus, wobei er sich selbst alles andere als heroisch erschien. Wenn man mit einundvierzig Jahren sterben muß, wenn man schon als junger Mensch sich frühem Tode verfal­len weiß: so ist billigerweise eine unbefangene Weltschau kaum zu erwarten. Es scheint mir, daß bei all den Hemm­nissen, die sein Leben unheilvoll beherrschten, Kafka einen Überschuß, ein ganz erstaunliches Maximum von freiem Willen, Gläubigkeit, Kompromißlosigkeit des Guten verkör­pert hat, das, richtig durchdacht und durchfühlt, für viele beispielhaft werden könnte.

Man könnte nun einwenden: Viele Darstellungen verzweifel­ter auswegloser trügerischer Situationen — und einige wenige Hoffnungsstrahlen gibt es also bei Kafka —, warum soll den letzteren eine überwiegende Bedeutung zukommen? — Nun, zunächst behaupte ich ja eine ›überwiegende Bedeutung« gar nicht; ich bin schon zufrieden, wenn man die seltenen Hoff­nungsdurchblicke nicht ganz wegeskamotiert, wie es die meisten Kafka-Erklärer tun. Dann aber finde ich gerade in der Seltenheit, wie eben dargelegt, eine besondere Bürgschaft der Echtheit. Dazu kommt, daß das Positive aus sich selbst von größerem Gewicht ist als das Negative. So führt Buber in seinem unschätzbaren Buche ›Zwei Glaubensweisen« (verglei­che auch ›Bilder von Gut und Böse‹) den Satz aus, daß das Böse im Menschen schwächer ist als das Gute und daß dies in den beiden Positionen Gottes, in seinem strafenden Gericht wie in seinem gnadenhaften Erbarmen, eine Entsprechung findet. Die Gnade ist nämlich die stärkere der beiden Positionen. »Das Maß der Güte Gottes ist größer als das Maß der Ver­geltung«, lautet ein Talmudsatz, den Buber bei dieser Gelegen­heit heranzieht. — Ganz ähnlich hat Kafka den Vorrang des Positiven vor dem Negativen prägnant ausgedrückt, und damit eine Selbstinterpretation non plus ultra in dem hier behaupteten Sinne gegeben, indem er in einem seiner schlagendsten Aphorismen sagt:

»Er ist der Meinung, man müsse nur einmal zum Guten über­gehen und sei schon gerettet, ohne Rücksicht auf die Vergan­genheit und sogar ohne Rücksicht auf die Zukunft.«

Die Autonomie und geradezu die Ewigkeit einer einzigen einmaligen guten Tat, ihr ›kairos«, konnte, wie mir scheint, keine eindringlichere Formulierung finden als dieses Aphorisma Kafkas, den (all solchen Äußerungen zum Trotz) einen Dekadenten zu nennen, heute geradezu ein Gesellschaftsspiel geworden ist. Es hängt das damit zusammen, daß sich heute die Sucht ins Krankhafte gesteigert hat, allem eine möglichst finstere selbstzerstörerische Deutung zu geben, so auch dem Werk Kafkas. Mit Recht hat daher Werner Weber in seinem Essaybuch ›Figuren und Fahrten« die entscheidende Distink­tion gemacht: »Verzweiflung aus Mode ist eine Schändung der Verzweiflung aus Schicksal. Diese hat Grenzen. Jene wird über das Herz hinaus in den Lügenraum des Modischen hin­ein prolongiert.« Ein großer Teil dessen, was sich ›Schwarze Literatur« nennt, wird durch dieses Aperçu getroffen. Frei­lich bleibt bestehen, daß die sich entwickelnden politischen, sozial-unethischen Verhältnisse heute eine derartige schwarze Deutungs-Sucht nicht unbegreiflich erscheinen lassen.

Für besonders charakteristisch halte ich einen Brief Franzens an seine Freundin Milena, der sich auf die Feier des franzö­sischen Nationalfeiertags in Prag bezieht.

»Es ist französischer Nationalfeiertag, die Truppen mar­schieren unten von der Parade nachhause. Es hat — das fühle ich, in Deinen Briefen atmend — etwas Großartiges. Nicht die Pracht, nicht die Musik, nicht das Marschieren; nicht der alte, aus einem (deutschen) Panoptikum entsprungene Franzose in roter Hose, blauem Rode, der vor einer Abteilung marschiert, sondern irgendeine Manifestation von Kräften, die aus der Tiefe rufen: ›trotzdem, ihr stummen, ge­schobenen, marschierenden, bis zur Wildheit vertrauensvol­len Menschen, trotzdem werden wir euch nicht verlassen, auch in eueren größten Dummheiten nicht und besonders in ihnen nicht‹. Und man schaut mit geschlossenen Augen in jene Tiefen und versinkt fast in Dir.«

Die göttlichen Geheimnistiefen mit ihrem Versprechen, den Menschen beizustehen, sie zu erlösen… sie zeigen sich in Kafkas Aphorismen deutlicher und häufiger als in den Tagebüchern, in denen er sich viel Negatives, Angstvolles von der Seele schreibt (ähnlich in manchen Briefen), deutlicher auch als in den Romanen und Skizzen, in denen er um er­zählerischer Gestalt willen sich seinem fabulierenden Genius, seinen zuzeiten höchst grausamen Imaginationen hingibt. In den Aphorismen dagegen und in einigen Briefen, natürlich auch an manchen Sta­tionen des erzählenden Werks, zwingt sich der Dichter zur Selbstkontrolle, er will nichts anderes geben als objektiv Gültiges, Leitlinien der Wahrheit für sich wie für alle. In den Erzählungen, so schrieb ich schon einmal, zeigt Kafka, wie der Mensch verwirrt wird und sei­nen Weg verfehlt, in den Aphorismen wird dagegen der rechte Weg selbst gezeigt, und Entwirrung kündigt sich an (Biographie, Seite 214 dieser Ausgabe).

Daher taucht gerade in den Aphorismen immer wieder je­nes ›Unzerstörbare‹ auf, das das Zentrum von Kafkas Glau­ben bildet und mit dem man sich bis heute so viel weniger beschäftigt hat als mit den Episoden, in denen er den Glau­ben nicht festhalten kann und für einige Zeit, wie ich durch­aus nicht abstreite, in schmerzliches Grübeln ohne Ausweg versinkt. Diesem krampfhaften Zustand stehen dann Durch­brüche zum Glauben gegenüber, und zwar solche von stärk­ster Entschlossenheit, die Sinnhaftigkeit und Lenkung anzu­erkennen. »Es gibt nur ein Ziel, keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern«, heißt es mit eindrucksvollem Ernst. Ähn­lich an anderer Stelle: »Erkenntnis haben wir. Wer sich be­sonders um sie bemüht, ist verdächtig, sich gegen sie zu bemühn.« — Oder: »Stummheit gehört zu den Attributen der Vollkommenheit.« — Hier zeigt sich der eigentliche, der kompromißlos glaubende und dem Glauben entsprechend aktiv werdende Kafka, der Kafka der höchsten Augenblicke. Daher gelangt er zu dem extrem platonisch anmutenden Satz, der, nebenbei bemerkt, nicht die Ansicht des Verfassers der vorliegenden Schrift ist, oder nur durch gewisse Modifikatio­nen, deren es in unseren Freundschafts-Debatten versuchsweise immer wieder etliche gab, in Übereinstimmung mit ihr gebracht werden könnte (was aber außerhalb des Gebiets dieser Studie liegt). Der Plato-Satz Kafkas lautet: »Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir sinnliche Welt nennen, ist das Böse in der geistigen, und was wir böse nennen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augenblicks unserer ewigen Entwicklung.« Dieser Satz hat bei Kafka eine Ergänzung: »Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwa­chen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zer­schmettert den, der sie anzuschauen wagt.« Hier bedeutet die Warnung vor Schwäche der Augen dasselbe, was in dem Gleichnis vom Reisewagen als Warnung vor dem »Halbschlaf der Eile« erscheint. Es ist die »Kraft des zielenden Blicks«, was als Gegenmittel, als einzig menschenwürdiges Verhalten empfohlen wird. Konkret ausgesprochen in einer Mahnung an sich selbst, die er in sein Tagebuch einträgt: »Zeitweilige Befriedigung kann ich von Arbeiten wie ›Landarzt‹[6] noch haben …, Glück aber nur, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann.« An einer so entschie­denen Feststellung dürfte doch eigentlich niemand vorbei­gehen, der Kafka zu interpretieren unternimmt. Es liegt mir fern, das Postulat aufzustellen, man möge Kafka von nun an nur unter dem Aspekt solch weltbejahender positiver Forderungen sehen. Das wäre absurd. Aber billigerweise darf man wohl verlangen, daß in Darstellungen der Kafka-Welt auch dieser Aspekt mit berücksichtigt erscheine, daß er nicht ganz und gar verschwiegen werde, daß sich der Interpret nicht in Elendsgewimmer und Ratlosigkeits-Exzessen er­schöpfe.

Ich habe einmal darauf hingewiesen, daß jeder der großen Autoren eine besondere Seite und Teilansicht des Daseins emi­nent deutlich gemacht hat, so Goethe das Tröstliche, Flaubert das Trostlose, Dante das Wohlorganisierte, sogar bis in die Lichtregionen der Ekstase hinein, Thomas von Aquino die Gnade, Dostojewski die Sünde, Hamsun das Elementhafte. In diesem Sinne ist durch Kafka die Undeutlichkeit des Mensch­seins deutlich geworden. Aber obwohl er es liebt, Grenz­fälle zu zeichnen, in denen das Gute und das Böse nur sehr schwer oder gar nicht zu scheiden sind, verzweifelte Fälle also (wie die Sortini-Episode im ›Schloß‹, auf die erst viel später durch die kleine Bemerkung Olgas, daß das Ganze nur als Prüfung der Familie Barnabas gemeint war, ein blasses Licht fällt): obwohl er also im Komplizierten geradezu verschwen­derisch wüstet, stellt er manchmal doch auch ganz einfache Fälle dar, in denen nach dem biblischen Wort die Lehre ganz nahe, die Entscheidung zwischen ›gut‹ und ›böse‹ eindeutig ist.

So gibt es in den Fragmenten eine (jetzt bereits veröffentlich­te) Skizze, die mit den Worten beginnt: »Es war einmal eine Gemeinschaft von Schurken.« Hier wird dargelegt, wie eine Gruppe von Menschen böse Taten verübt, jedoch fest zusam­mensteht, derart, daß die einzelnen einander gegenseitig ver­zeihen, für einander sophistische Entschuldigungsgründe vor­bringen. »Wie? Darum machst du dir Kummer?« sprechen sie einer zum andern. »Du hast doch das Selbstverständliche ge­tan, so gehandelt, wie du mußtest. Alles andere wäre unbe­greiflich.« Sie reden sich so eifrig in ihre Selbstgerechtigkeit hinein, daß sie sogar im Tode in den Himmel aufzusteigen gedenken und auch wirklich aufsteigen. Und dann spricht Kafka zum Schluß das klare Verdammungsurteil: »Im Gan­zen war es ein Anblick reinster Kinderunschuld, wie sie flogen. Da aber vor dem Himmel alles in seine Elemente zer­schlagen wird, stürzten sie ab, wahre Felsblöcke.«

Wie in seinem Werk die Sinnhaftigkeit des Daseins letzten Endes bejaht wird (dies eben ist wesentliches Symptom des Glaubens), wie von hier aus selbst in schwierigsten Situatio­nen (und allerdings mit zeitweisem Aussetzen des Sinn-Verständnisses) ein Rat, eine Hilfe zumindest angestrebt wird: so war Kafka auch im Leben der aufopferndste Freund. Wo er konnte, half er. Wies liebevoll und immer sehr klug zu­recht. Sparte nicht mit seinen Kräften, wenn es darum ging, auffahrende Leidenschaften zu beschwichtigen. Aus dem Briefband ersieht man, wie er mir immer, auch noch in Steg­litz, als er selbst schon schwerkrank war, in meinen persön­lichsten Wirrnissen ordnend beistand. Als ich mit einem an­gesehenen Schriftsteller in Streit geriet, trat er mir sekundie­rend zur Seite; worüber ich vielleicht gelegentlich noch die Dokumente veröffentlichen werde. Die gleiche Erfahrung stets bereiter, energischer Hilfsbereitschaft konnten auch seine übrigen Freunde mit ihm machen. Für besonders beweis­kräftig in ihrer Lebenszugewandtheit halte ich die durch Klaus Wagenbach ans Tageslicht gebrachten Briefe[7] an Fräulein Minze E., die ich, als ich die ›Biographie‹ und meine zwei anderen Bücher über Kafka schrieb, noch gar nicht kannte, und die das dort gegebene Bild bestätigen. Kafka hatte 1919 das junge Mädchen, das aus Teplitz stammte, in der Pension Stüdl in Schelesen (Deutschböhmen) kennenge­lernt, wo er und sie Genesung nach langer Lungenkrankheit suchten. Er wächst später in eine pädagogische Aufgabe hin­ein, indem er Minzes Leben zu beeinflussen sucht, er warnt sie vor »Süßlichkeit, Unwahrheit, Künstlichkeit«, vor allem, was an Dahn und Baumbach erinnert (die offenbar bei An­fang der Bekanntschaft Lieblingsschriftsteller der jungen Dame waren), aber auch vor Anklängen an Schnitzlers ›Anatol‹, an Wedekind, an die ›Kameliendame‹ und ›Kleopatra‹. Er sieht einen Weg für sie, auf dem eine Schule für landwirt­schaftliche Ausbildung in den Mittelpunkt tritt, um Minze für die Erschließung des Bodens in Palästina vorzubereiten. Kafka unterstützt Minze eifrig beim Suchen der richtigen Er­ziehungsstätte, tröstet und stärkt sie bei Rückschlägen, bei Enttäuschungen, ist unermüdlich, immer wieder auf das sitt­liche Ziel hinzuweisen, das seiner Überzeugung nach trotz allen Schwierigkeiten, die sich in den Weg stellen, unerschüt­tert bleibt. Es ist keine Liebesbeziehung, aber liebevoll gesteht er: »Man hat Angst um Sie und möchte Sie doch nicht an­ders haben wollen.« »In der Unendlichkeit, in der Sie die Welt jetzt sehn, ist doch neben der Wahrheit eines mutigen Herzens auch die Täuschung der 19 Jahre.« Er will seiner Schülerin sehr positiv ethische, klar umgrenzte Begriffe bei­bringen. Und jene, die ihn heute noch ›dekadent‹ finden, werden vielleicht über seine nahezu schulmeisterliche Strenge erstaunt, wo nicht indigniert sein. Minze hatte in ihrem Brief »schöne Stunden« und »Dummheiten« in einem Atem ge­nannt. Darauf antwortet er sehr ernsthaft: »›Schön‹ ist doch wohl die Stunde, in der man besser ist als sonst und ›dumm‹ die, in der man schlechter ist. Die ›schönen Stunden‹ er­kauft man nicht mit trüben Stimmungen, im Gegenteil, ›schöne Stunden‹ geben noch Licht aller grauen Zukunft. Für ›Dummheiten‹ zahlt man allerdings Lehrgeld, und zwar so­fort, selbst wenn mans nicht weiß, mit der linken Hand macht man die ›Dummheit‹ und mit der Rechten zahlt man gleichzeitig Lehrgeld unaufhörlich, bis man nicht mehr wei­ter kann. Und ›Dummheiten‹ allerdings macht jeder Mensch, liebe Minze, wie viel, wie viel! Man ist so überbeschäftigt damit, daß man kaum Zeit zu etwas anderem hat. Was aber kein Grund ist, sich damit abzufinden und das tun Sie auch gewiß nicht, sonst wären Sie ja keine liebe Minze.«

Er wird manchmal recht deutlich in seinem Zurechtweisen: »Natürlich werden Sie den notwendigen Halt nicht in der Schule eingerammt bekommen, sondern müssen ihn in sich haben, aber vielleicht werden Sie ihn dort in sich finden, das wäre ganz gut denkbar.« Die Verwandten des Mädchens wollen sie in ihrem Heimatort Teplitz festhalten, sind gegen die Wahl eines ungewöhnlichen selbständigen Lebensweges. Aus seiner eigensten Freiheitssehnsucht hervor und ganz im Sinne der großen Erziehungsbriefe an seine Schwester Elli schreibt Kafka gegen das Haften an der Familie: »Ich kann Teplitz, das ich noch nie gesehen habe, nicht leiden. Es ist eben Ihr Heimatort und für einen nur irgendwie beunruhig­ten Menschen ist der Heimatort, selbst wenn er sich darüber gern täuscht, etwas sehr Unheimatliches, ein Ort der Erinne­rungen, der Wehmut, der Kleinlichkeit, der Scham, der Ver­führung, des Mißbrauchs der Kräfte.« Er lehnt alle Seiten­sprünge des Mädchens ab. Sie möge zu ihrem Entschluß ste­hen. »Sie sind doch kein Hase, Minze.« Er wirft sich in seiner Art, mit seiner persönlichen Lebensfärbung ganz auf den Standpunkt der großen lebensbejahenden Ethiker. »Jeder hat seinen beißenden nächtezerstörenden Teufel in sich und das ist weder gut noch schlecht, sondern es ist Leben: Hätte man den nicht, würde man nicht leben. Was Sie in sich verflu­chen, ist also Ihr Leben. Dieser Teufel ist das Material (und im Grunde ein wunderbares), das Sie mitbekommen haben und aus dem Sie nun etwas machen sollen. Wenn Sie auf dem Land gearbeitet haben, so war das meines Wissens keine Ausflucht, sondern Sie haben Ihren Teufel hingetrieben so wie man ein Vieh, das sich bisher nur in den Gassen von Teplitz genährt hat, einmal auf eine bessere Weide treibt. Auf der Karlsbrüche in Prag ist unter einer Heiligenstatue ein Relief, das Ihre Geschichte zeigt. Der Heilige pflügt dort ein Feld und hat in den Pflug einen Teufel eingespannt. Der ist zwar noch wütend (also Übergangsstadium; solange nicht auch der Teufel zufrieden ist, ist es kein ganzer Sieg), fletscht die Zähne, schaut mit schiefem bösen Blick nach sei­nem Herrn zurück und zieht krampfhaft den Schwanz ein, aber unter das Joch ist er doch gebracht. Nun sind Sie ja, Minze, keine Heilige und sollen es auch nicht sein und es ist gar nicht nötig und wäre schade und traurig, wenn alle Ihre Teufel den Pflug ziehen sollten, aber für einen großen Teil von ihnen wäre es gut und es wäre eine große gute Tat, die Sie damit getan hätten. Ich sage das nicht, weil es nur mir so scheint, — Sie selbst streben im Innersten danach.« Spä­ter heißt es in dem gleichen Briefe vom März 1920: »ein eigenes Kind hätte für Sie eine entscheidende, vielleicht er­lösende Bedeutung« — und all die vielen Stellen aus dem Werk Kafkas kommen einem in den Sinn, an denen er Nach­kommenschaft (ganz im alten partriarchalischen Sinne) als einen der höchsten Lebenswerte preist. — Aus Meran erkun­digt er sich angelegentlich bei Minze, ob sie die landwirt­schaftliche Schule (Ahlem) schon bezogen hat. Er läßt nicht locker. Es kommt zu einer Zwischenlösung, das Mädchen wird zunächst ›Assistentin‹ auf einem Landgut. Kafka bewundert sie, sie kann schon ein Schweinchen halten. »Wie viel lieber ist mir Minze auf dem Düngerkarren, als Kleopatra auf ih­rem goldenen Thron«, heißt es mit Anspielung auf ein frü­heres Photo im Kleopatra-Stil. Endlich wird die jüdische Landwirtschaftsschule Ahlem Realität. Minze tadelt Ahlem. »Und nun, da Sie einmal dort sind«, schreibt Kafka, »mögen Sie ruhig mit vielen Dingen in Ahlem auch unzufrieden sein, gewiß haben Sie recht, warum sollte es auch besonders gut sein, es ist eine westjüdische Sache, alle diese Sachen stehn ja meist auf Abbruch da, vielleicht werden Sie selbst noch ein­mal einen Balken von Ahlem nach Palästina tragen.« Als Lektüre empfiehlt er ihr die »Memoiren einer Sozialistin« von Lily Braun. »In Ihrem Alter, glaube ich, war sie auch schon nur auf sich gestellt und mit der Moral ihrer Klasse (eine solche Moral ist jedenfalls lügnerisch, darüber hinaus aber fängt das Dunkel des Gewissens an) hatte sie viel Leid, aber sie hat sich durchgekämpft wie ein streitbarer Engel. Frei­lich lebte sie in ihrem Volk. Was Sie darüber sagen, nehme ich nicht als etwas Endgültiges, auch glaubte ich nicht, bei weitem nicht, daß Sie den einzelnen Juden wegen seines Judentums lieb haben sollen oder daß zwanzig jüdische Mädchen oder auch hundert, um Sie gruppiert, Ihnen den Halt eines Volkstums werden geben können, aber eine Ahnung der Möglichkeiten vielleicht. Und dann: vielleicht braucht die Frau wirklich das Volkstum weniger für sich, aber der Mann braucht es und so braucht es auch die Frau für ihn und ihre Söhne. So etwa.« Gleich in den nächsten Sätzen aber warnt er vor Chauvinismus. So sucht und findet er überall das richtige Maß und die Mitte. Mit den Worten: »Glücklichen Kampf!« schließt er diesen bedeutsamen Brief. — Auch noch aus Matliary schreibt er seinem Schützling, verfolgt Minze treulich auf weiteren Lebensstationen, Orts­veränderungen, macht ihr weiterhin Mut zu selbständigen Entschlüssen. Er erzählt von seinen Erfahrungen im pomologischen Institut Prag, dann »in der größten Handelsgärtnerei von Böhmen, (Maschek, Turnau)«, ist ein wenig stolz auf sei­ne Versuche einer eigenen landwirtschaftlichen Laufbahn. Minze will er jetzt nicht sehen, erst später am Lago Mag­giore »mit Ihrem Mann und Kindern, eine ganze Reihe lang«. »Übrigens, warum muß es ein europäischer See sein, auch der Kinereth- oder der Tiberias-See sind schön. Die bei­liegenden Ausschnitte — ihrer Bedeutung entsprechend zer­lesen — handeln ein wenig davon.« Noch im Winter 1922/23 dankt er Minze für Übersendung von Blumen; und Anfang 1923, als Antwort auf einen Brief, in dem sie ihm vermutlich schreibt, wie schwer ihr die von ihm gefor­derte Umstellung falle, antwortet er: »Daß es schwer ist, Minze, wie sollte ich das nicht wissen. Es ist ein ganz ver­zweifeltes jüdisches Unternehmen, aber es hat, so weit ich sehe, Großartigkeit in seiner Verzweiflung. (Vielleicht ist es übrigens gar nicht so verzweifelt, wie es mir heute nach einer selbst für meine Verhältnisse ungewöhnlich schlaflosen, zer­störenden Nacht erscheint.) Man kann nicht die Vorstellung abweisen, daß ein Kind verlassen in seinem Spiel irgendeine unerhörte Sessel-Besteigung oder dergleichen unternimmt, aber ( der ganz vergessene Vater doch zusieht und alles viel gesicherter ist als es scheint. Dieser Vater könnte zum Beispiel das jüdische Volk sein.«

Ich empfehle, auch den Rest dieses Briefes zu lesen, desglei­chen den Brief an Hugo Bergmann (Professor an der Univer­sität in Jerusalem) aus Müritz, Juli 1923, also aus Kafkas letztem, halbwegs gesundem Sommer.

Pädagogischen Charakter, wie er einem ›Nihilisten‹ durchaus nicht anstehen würde, haben auch die schönen Briefe an Fräulein Grete Bloch, die vorläufig noch nicht veröffentlicht wurden. Mit Sorgsamkeit überwacht Kafka sogar den Schlaf der ihm befreundeten Dame (über die Beziehung vergleiche Biographie, S. 209 ff. dieser Ausgabe): »Was hat es für einen Sinn, im halbbeleuchteten Zimmer zu schlafen? Solche Ver­suche sind nicht recht. Wozu das Licht, da Sie doch immerhin schlafen? Muß das Licht nicht Ihren Schlaf stören oder zumindest schlecht beeinflussen? Besonders da es Gaslicht zu sein scheint. Und wie kann denn dann das Fenster während der Nacht ein wenig offen bleiben, wie es doch sein muß? Ich persönlich würde mich mit solchen Fragen nicht aufdrängen, das tut nur der Naturheilkundige in mir.« Er empfiehlt Lektüre: »Schlafen ist besser als Lesen; nur unter diesem Vorbehalt nenne ich Ihnen ein Buch, allerdings ein prachtvolles und eines überdies, in dem alles steckt, was an Wien Gutes ist. Bitte lesen Sie es! ›Mein Leben‹ von Gräfin Lulu Thürheim, Verlag Georg Müller, 2 Bände. In der Universitäts­bibliothek bekommen Sie es gewiß.« Er will die ganze Le­bensweise des Mädchens reformieren (dieser Brief ist vom 3. März 1914): »Liebes Fräulein Grete, den Naturheilkundigen überrascht es nicht, daß Sie Kopfschmerzen haben, dem Freund tut es aber sehr leid. Wie ist es aber möglich, bei ; Ihrer Lebensweise Kopfschmerzen abzuhalten, da Sie soviel arbeiten, kaum ausgehn, gar nicht turnen, abends auf dem Kanapee liegen, um es dann mit dem Bett zu vertauschen, bei geschlossenem Fenster schlafen, in der Nacht Gaslicht bren­nen lassen, fast jeden Tag (einmal schrieben Sie so) quälende Nachrichten bekommen, von Ihrer Familie sich verlassen fühlen und darunter leiden (F., die öfters bei Ihrer Familie gewesen ist, erzählte, daß Ihre Mutter sich nach Ihnen sehnt und glücklich wäre, wenn Sie in Berlin einen Posten hätten) — schließlich hält es der beste Kopf nicht aus, wenn so von allen Seiten auf ihn losgeschlagen wird. Würden Sie nicht als erste und zarteste Änderung Ihrer Lebensweise auf meinen Rat für eine Zeitlang vegetarisches Essen für sich einführen? Ich kann mir überhaupt nicht denken, daß Sie in dieser kleinen Hölle von Pension, die Sie übrigens sehr klar über­schauen und dadurch schon ein wenig unschädlich machen, besonders gut versorgt sein sollten. Oder kocht der (oder das) ›Trampel‹ gar so vorzüglich? Und Fleisch richtet in so einem übermüdeten und geplagten Körper wie es der Ihre ist (um Gotteswillen, bis 11 Uhr im Bureau!) nur Verwüstun­gen an; die Kopfschmerzen sind nichts anderes als ein Jam­mern des Körpers darüber. Nun gibt es aber in der Opolzer Straße in der Nähe des Hofburgtheaters das beste vegetari­sche Speisehaus, das ich kenne. Rein, freundlich, eine ganz an­genehme Wirtsfamilie. Vielleicht ist es sogar näher bei Ihrem Bureau als Ihre Wohnung, in die Sie wie ich annehme nur laufen, um nach dem Essen zurückzulaufen. Daß die Pension in der ›Thalisia‹ (so heißt das Speisehaus) billiger ist, als Ihre bisherige Pension, ist ganz gewiß und Billigkeit ist Ihnen doch wichtig, da Sie (daran dachte ich früher gar nicht; wer darf denn das von ihnen verlangen?) auch noch Geld weg­schicken müssen. Daß Sie aber dort viel besser und mit Freude essen werden (wenn auch vielleicht nicht gleich in den ersten Tagen), daß Sie sich überhaupt freier und widerstandskräf­tiger fühlen werden, daß Sie besser und im Dunkel schla­fen und frischer und hoffentlich ohne Kopfschmerzen wach sein werden, daran ist für mich gar kein Zweifel. Wenn Sie das doch versuchen wollten.« Er beharrt mit Intensität auf seinen Ratschlägen: »Sind die Kopfschmerzen schon ver­schwunden? Es genügt mir gar nicht, wenn Sie für meinen Rat nur danken und ihn nicht wenigstens auch ausprobie­ren. Schade, daß das vegetarische Gasthaus in Prag so schlecht und schmutzig eingerichtet ist, daß ich Sie gar nicht dahin werde einladen können.« Daneben stehen Sätze von hoher Einsicht und Abgeklärtheit, mit denen er die an ihrer Fa­milie Leidende zu trösten sucht: »Ich glaube gefunden zu ha­ben, daß Eltern im allgemeinen gerechter gegen Kinder sind als umgekehrt. Es hat, sogar bis in eine gewisse Tiefe, den ge­genteiligen Anschein und ist doch nicht so. Sobald durch ge­wisse Lebensumstände die natürlich immer vorhandenen Ge­gensätze straff gezogen werden, ist das erste die Entstehung von Hochmut hier und dort. Die Eltern kennen die Kinder von Grund aus und sehn noch über sie hinweg und ebenso glau­ben die Kinder gegenüber den Eltern zu stehn. Sich demüti­gen ist schwer, besonders in einem so genau umschriebenen Verhältnis, es ist aber auch für die Beurteilung nicht ent­scheidend.« Auch über ihre Arbeit, die ihr widerwärtig ist, sendet er Fräulein Grete tröstende Worte von starker Über­zeugungskraft, zeigt sich als der weltaufgeschlossen geduldige Berater, als den auch ich ihn so oft in praktischen Fällen ken­nengelernt habe. Mit Ausfällen gegen sich selbst spart er dabei allerdings nicht: »Ich habe meine Fähigkeit des Schrei­bens gar nicht in der Hand. Sie kommt und geht wie ein Gespenst.« Als Vorleser dagegen läßt er sich gelten und gibt dabei seiner Begeisterung für Grillparzer Ausdruck. »Der arme Spielmann ist schön, nicht wahr? Ich erinnere mich, ihn ein­mal meiner jüngsten Schwester vorgelesen zu haben, wie ich niemals etwas vorgelesen habe. Idi war so davon ausgefüllt, daß für keinen Irrtum der Betonung, des Atems, des Klangs, des Mitgefühls, des Verständnisses Platz in mir gewesen wäre, es brach wirklich mit einer unmenschlichen Selbstver­ständlichkeit aus mir hervor, ich war über jedes Wort glück­lich, das ich aussprach. Das wird sich nicht mehr wiederholen, ich würde niemals mehr wagen es vorzulesen.« Er weiß, wie sehr er dem Mädchen als Mentor wichtig, ja notwendig ist, und beantwortet einen Verzweiflungsausbruch von ihr fol­gendermaßen: »Sehn Sie doch, wie notwendig mein gestriger Brief war. Sie dürfen mich nicht aufgeben, das geht ganz und gar nicht, und ich werde es mir nicht gefallen lassen. Es besteht auch gar kein Grund dafür.« Er legt alles darauf an, ihren Mut, ihr Selbstbewußtsein zu stärken: »Ich verstehe nicht ganz, was Sie mit der Beschreibung Ihres allgemeinen Verhaltens zu Menschen meinen. Es ist ebenso bestimmt wie allgemein gesagt, kann aber weder für das Allgemeine noch für mich passen, paßt also wieder nur auf einen ganz besondern Fall, der Ihren armen unruhigen Kopf nicht läßt und von dem ich nichts oder zu wenig weiß. Mir gegenüber stimmt gar nichts davon, was Sie sagen. Sie haben sich mir gegenüber so richtig und vor allem so unbeirrt, durch sich und mich unbeirrt, verhalten, als wären Sie nicht ein ande­rer Mensch, sondern mein eigenes mit selbständigem und gutem und liebenswertem Leben begabtes Gewissen. Glauben Sie es mir! Vielleicht täuschen Sie sich im allgemeinen auch über Ihr Wesen. Vielleicht sehen Sie zu sehr von sich ab, sind zu gut, zu heldenhaft. Es sieht manchmal so aus. Es wird nicht wenige Menschen geben, die Ihnen dankbar sein müs­sen.« Hier gibt es auch eine wichtige Stelle, in der Kafka ein durchaus positives Lebensideal, das der Treue, formuliert. »Wegen wessen quälen Sie sich denn, liebes Fräulein Grete? Und so halsbrecherisch? Mir hätten Sie nicht wohlgetan, mir täten Sie nicht immerfort Gutes? Mir, der ich Ihnen gegenüber immer das Gefühl habe, daß es nur zweierlei reines, tränen­loses, an die Grenzen unserer Kraft schlagendes Glück gibt: einen Menschen haben, der einem treu ist und dem man sich treu fühlt und dann sich selbst treu sein und sich voll­kommen auszunützen, sich ohne Asche zu verbrennen.« — Der körperlichen wie der seelischen Gesundung, der Natur­heilkunde, der Abneigung gegen Medikamente, der »Fluch-Würdigkeit der heutigen Medizin« gelten viele Zeilen. Eine einfache natürliche Lebensweise ist das hinter all diesen Diatriben stehende Sehnsuchts-Bild.

Die Briefe an Freunde und Frauen, vor allem an Minze, ge­hören zu dem Aufschlußreichsten, menschlich Rührendsten, Gütigsten, was Kafka außerhalb seines dichterischen Werks hinterlassen hat. Es müßte nicht mit rechten Dingen zu­gehen, wenn speziell die Minze-Briefe nicht zumindest einen Teil der Kafka-Dekadenz-Legende zerstörten, die man aus falschen Prämissen konstruiert hat. Kafka erscheint in diesen Briefen durchaus nicht als ratloser Mensch, sondern als ein Mann, der das Leben zu meistern und in einer von ihm be­stimmten Richtung zu formen unternimmt.

Frühzeitig erkannte Kafka in sich die Gefahr, dem Gift des lieblosen oder bloß korrekten Sich-Isolierens zu erliegen (›Die Verwandlung« ist ein Symbol dieser Isolation). Die Gefahr war ambivalent: denn Selbst-Isolation ist ja für den Schaffen­den bis zu einem gewissen Grade gleichzeitig eine Notwendig­keit. Nur in der Stille des Alleinseins hört der Schaffende das einzig richtige Wort; nur da darf der Schaffende hoffen, sich selbst in der tiefsten Schicht seines Gläubigseins und da­mit schließlich auch die Unendlichkeit der Geisteswelt zu ver­stehen. So mündet das Alleinsein, von dessen Segen Kafka in den Tagebüchern so oft spricht, doch wieder in die große Liebe. Im richtigen Alleinsein, das nichts Egozentrisches, nichts ›Junggesellenhaftes‹ mehr an sich hat, weitet sich das Herz. Die Wahrheit führt zur rechten Gemeinschaft. »Geständnis, unbedingtes Geständnis, aufspringendes Tor, es erscheint im Innern des Hauses die Welt, deren trüber Abglanz bisher draußen lag« — so lautet eine der Haupterkenntnisse Kaf­kas. Das Äußere wird innerlich erfahren. Und mit folgenden Worten bekennt er sich zum Kollektiv der Menschheit: »Mit­teilen kann man nur das, was man nicht ist, also die Lüge. Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen.« In einem andern Aphorisma, das mit den Worten beginnt »Er war früher Teil einer monumentalen Gruppe …«, schildert er, wie er einst zu allen Bestrebungen der Menschheit, zu den Kün­sten, Wissenschaften, Handwerken Beziehung hatte. Er hat die Gruppe leider verlassen, aber geblieben ist »ein Verlangen nach den vergangenen Zeiten«. Es trübt die Gegenwart. »Und doch ist dieses Verlangen ein wichtiges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst.« In ihm war nun frei­lich diese Lebenskraft in den Jahren der Krankheit (nicht im letzten Jahr, in dem er durch die Verbindung mit Dora Dymant wieder Kraft schöpfte) arg gefährdet, beinahe gebro­chen. Doch erzieherischerweise suchte er, das Gefühl für die Gemeinschaft einem jungen Mädchen einzupflanzen, für das er Freundschaft empfand. Nicht ohne Bewegung wird man gerade den Minze-Briefen entnehmen, wie stark dieses Er­zieherische in Kafka war. »Das Unzerstörbare ist eines«; heißt es in einem der Aphorismen, »jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiel­los untrennbare Verbindung der Menschen.«

In den Gesprächen mit Janouch (und auch in anderen Zu­sammenhängen) erregt ihn das Schicksal der ganzen Mensch­heit, namentlich der arbeitenden Menschen, deren Zukunft er von einem neuen Bürokratismus bedroht sieht. In diesen Gesprächen äußert er geradezu (gleichsam das Buch von Djilas Die neue Klasse‹ vorausnehmend): »Je weiter sich eine Überschwemmung ausbreitet, um so seichter und trüber wird das Wasser. Die Revolution verdampft, und es bleibt nur der Schlamm einer neuen Bürokratie. Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier.« — »Am Schluß jeder wirklich revolutionären Entwicklung erscheint ein Napoleon Bonaparte.« — Diese Bemerkungen Kafkas fallen im Anschluß an eine Arbeiterdemonstration mit Fahnen und Standarten. »Die Leute sind so selbstbewußt, selbstsicher und gut auf­gelegt. Sie beherrschen die Straße und meinen darum, daß sie die Welt beherrschen. In Wirklichkeit irren sie doch. Hinter ihnen sind schon die Sekretäre, Beamten, Berufspolitiker, alle die modernen Sultane, denen sie den Weg zur Macht berei­ten.« — Damit ist aber nicht gesagt, daß Kafka die Hoffnung auf eine gerecht-soziale Entwicklung der Menschheit aufgibt. Im Schlußkapitel des Amerika-Romans zeichnet er die Vision einer Gesellschaft, in der Raum, Arbeit und Auslangen für alle ist. Er sieht das Kollektive von der erlebten Hölle seiner Isoliertheit her und deshalb doppelt sehnsüchtig, — was zu den geheimnisreichen widerspruchsvollen Wirkstoffen seiner hohen Dichtung gehört. Das Soziable und Soziale, das Ge­rechte und menschlich allen Gemeinsame ist nicht nur hier, ist immer wieder sein letztes Wort.

Kafkas religiöse Entwicklung in der Reihe seiner drei Romane

Ich stelle die These auf, daß die Kafka-Interpretation sehr oft falsche Wege eingeschlagen hat, weil sie die Entwicklung des Autors nicht gesehen hat.

Man vergißt allzu leicht, daß Kafka wiewohl sein Wirken beklagenswert kurz war, doch nicht immer der gleiche Mensch geblieben ist, daß er (trotz widriger Lebensumstände, ja in­mitten der Schrecken seiner tödlichen Krankheit) eine wesentliche innere Reifung durchgemacht hat. Man sieht ihn zu sehr als statische Einheit, nicht als einen Wachsenden, nicht seinen dynamischen Aufstieg.

Die drei großen Romane sind symbolische Etappen seines Weges. Von ihnen schildert der erste (»Amerika«), in jeder Hinsicht ein Experiment des noch unfertigen Erzählers, einen jungen Menschen, der verführt wurde, der eigentlich unschuldig, passiv, immer wieder in die Gravitationskraft des Bösen hineingerät, — doch seine Natürlichkeit und Naivität bewah­ren ihn vor der bereitwillig genug sich anbietenden Beschmut­zung. Karl Roßmann, der jugendliche Amerikapilger, ist eigentlich ein Musterknabe, in seiner Reinheit eine der lie­benswertesten Spiegelungen des Kafkaschen Geistes, übrigens, wie der Dichter gewissenhafterweise selbst dargelegt hat, nicht völlig sein Eigentum, sondern den Knabengestalten von Dickens verpflichtet. Nach Berührung dieser hellsten Figur mußte das Pendel des Schaffens ins Gegenspiel, in dunkelste Nacht hinüberschwingen, — und Kafka ließ neben dem energischen, mit dem unfehlbaren Blick für das Rechte begabten Jungen den schwankenden, von vielerlei Zweifeln und Trägheiten geplagten Josef K. des »Prozeß«-Romans erstehen. Ist in »Amerika« in erster Reihe die lichte Seite von Kafkas Seele Figur geworden, so bringt der »Prozeß« fast nur die dunklen Züge aus der Konfession des Dichters, — beide Bücher geben also einseitige Darstellungen. Wobei freilich mit großer Behut­samkeit auch das, was verteidigend für K. oder anklagend gegen Roßmann spricht, ins Treffen geführt und dem inne­ren Gerichtshof, dem Gewissen, unterbreitet wird. Trotz einer gewissen Herzenskälte und Rechenhaftigkeit, die er sich selbst zum Vorwurf macht, trotz seiner Leichtfertigkeit, trotz der Flüchtigkeit »im Halbschlaf der Eile« bleibt auch im »Prozeß« K. ein Mann des Gewissens. Als solcher richtet er sich selbst, erkennt seine Fehler und büßt. Die schaurige Exekution am Schluß ist meines Erachtens als Selbstmord zu deuten. So ge­sehen verliert der Held des »Prozeß«-Romans viel von seinem Unsympathisch-Flatterhaften; denn dieses Flatterhafte, eines echten großen Gefühls Unfähige, ist ja gerade das, woran er leidet, woran er untergeht. Freilich, ganz in den Rang eines Mannes einzurücken, der den Kampf gegen die Dämonen aufnimmt: das bleibt ihm versagt.

Vielleicht hat Kafka den dritten Roman, das »Schloß« deshalb geschrieben — ahnungsvoll, nicht etwa rational planend —, hat der Hauptperson wieder das autobiographische Initial K. verliehen, um durch diese Chiffre anzudeuten, daß hier eine höhere Reifestufe des gleichen Individuums erreicht ist. War »Amerika« die These (der schuldlose, unverdorbene Mensch), der »Prozeß« die Antithese (der Verdorbene, matt um seine entschwindende Schuldlosigkeit sich lässig Balgende), — so bietet das ›Schloß‹, Kafkas letztes großes Werk, gleich­sam die Synthese dar, die Summe seines Lebens, seinen ; ›Faust‹. Der K. des ›Schloß‹-Romans ist weder ein reiner Tor wie Karl Roßmann, noch eine verloren hintreibende Seele wie Josef K. im ›Prozeß‹, — er ist aktiv, einer, der deftige Le­benserfahrung hat, eine kämpfende Gestalt, in der die Wider­: Sprüche (im Sinne Hegels) einander aufheben und das ganze Niveau steigern. Steigern auch in der Richtung eines hintergründigen Humors, der in den beiden andern Romanen zwar auch da und dort aufflackert, hier aber mit den beiden . Gehilfen, dem Gemeindevorsteher et cetera breit an die Rampe tritt. Im ›Schloß‹ nimmt K. sein Schicksal herzhaft in die Hand, hat sich kein lüsternes, sondern ein bescheidenes Ziel gesetzt und hält daran fest: eine Familie zu gründen, seßhaft zu werden, in einer Gemeinschaft auf anständige Art für den Lebensunterhalt zu sorgen. Er will redlich arbeiten, ist mit j sich selbst eins, stellt jenes Lebensprogramm auf, das Kleist sich in seiner Schweizer Zeit, am Thuner See (und knapp vorher) gesetzt hat, und geht mehr an den äußeren Widerständen einer harten unhumanen Umwelt zugrunde als an seiner Unzulänglichkeit. (Freilich verschmilzt ›außen‹ und ›innen‹ zuweilen auf geheimnisvolle Art.) Soweit mein allzu bescheidener Freund überhaupt fähig war, sich selbst zu bejahen, — hier finden sich die stärksten Ansätze dazu. An­sätze, die sich wohl zu höchst wesentlichen Gebilden weiterer Dichtungen oder eines heiligen Lebens ausgeformt hätten, wenn Krankheit, Erschöpfung und Tod (das rätselhafte Einschlafen vor jenem Schloßbeamten Bürgel, der einmal — ein einziges Mal — ein vereinzelter Fall in diesem Buch — Gnade für Recht anbietet) — wenn Krankheit und Tod nicht den weiteren Aufstieg verhindert hätten. — K. im ›Schloß‹ ist weitaus die männlichste Gestalt, die Kafka ge­schaffen hat. Männlich, also auch dramatisch, — denn er stellt sich dem Schicksal, das ihn dann zermalmt. Das ›Schloß‹ ist, wie es zeitlich das späteste ist, so auch Kafkas farbenreichs­tes, bedeutendstes, Licht und Schatten am gerechtesten verteilende Werk.

Der freundschaftliche Umgang mit Kafka vollzog sich nach andern Gesetzen als der Umgang mit der weitaus überwie­genden Zahl von Schriftstellern und Dichtern, mit denen das Leben mich zusammengeführt hat. Während fast alle Autoren, die ich kenne (es gibt nur wenige rühmliche Aus- nahmen), stets nur von ihren eigenen Werken und Plänen erwählen, sobald das Thema schöpferischer Arbeit angeschlagen 1 wird, während sie kaum jemals sich danach erkundigen, was der Gesprächspartner schreibt oder plant; während sie, falls sie sich doch eine derartige Frage abringen, dies wie im Schlaf, mit geringem Interesse und oft in deutlicher Weise nur höf­lichkeitshalber tun, lagen die Dinge bei Kafka gerade umge­kehrt. Er fragte mit großem Feuer, ja mit Inbrunst und echtestem Anteil nach den Arbeiten, die man vorhatte oder gerade vollendete; er förderte diese Arbeit durch Rat, durch Briefe, durch häufige Nachfrage; von seinen eigenen Werken dagegen sprach er höchst selten, meist nur, wenn man ihn drängte und seine Abwehr, seine Scheu durch spontane Liebe überwinden konnte; nur ganz ausnahmsweise kam er aus eigenem Antrieb auf sein ›work in progress‹ zu reden.

In der Seltenheit dieser Eröffnungen liegt es begründet, daß ich mir das wenige, was er mir über seine Schriften und Absichten kundgetan hat, so genau gemerkt habe. Daher kann ich heute die volle Verantwortung dafür übernehmen. So habe ich ja auch jede (auch die dem falschen Schein nach be­langloseste) Zeile, die er mir geschrieben hat, aufbewahrt — und das zu einer Zeit, in der er völlig unberühmt, ja unbe­kannt war. Was er mir über sein Werk und seine künstleri­schen Überzeugungen gesagt hat, habe ich meist sofort wört­lich in mein Tagebuch notiert.

Im Nachwort zum Roman ›Amerika‹ (1927) führe ich an, was Kafka mir über die geplante Fortsetzung des leider un­vollendeten Romans mitgeteilt hat. Ich hebe jetzt und hier drei Ausdrücke durch Kursivdruck hervor: »Mit rätselhaften Worten deutete Kafka lächelnd an, daß sein junger Held in diesem ›fast grenzenlosen‹ Theater Beruf, Freiheit, Rückhalt, ja sogar die Heimat und die Eltern wie durch paradiesischen Zauber wiederfinden werde.«

Manche Betrachter des Kafkaschen Werkes wollen nun einen Widerspruch zwischen diesem Überlieferten und der (gleich­falls von mir veröffentlichten) Tagebuchnotiz konstruieren, in der der Dichter selber über das Schicksal des Amerika-Helden (Roßmann) und der zentralen Figur des ›Prozeß‹-Romans (K) Aufschluß gibt. Im Tagebuch heißt es: »Roß­mann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niederge­schlagen.«

Auch ich selber war lange der Ansicht, daß hier ein Wider­spruch besteht, und habe ihn damit zu erklären gesucht, daß mir Kafka seinen Plan zu einer Zeit mitgeteilt habe, in der er noch an einen auch im irdischen Sinne versöhnlichen Schluß dachte; später hätte er dann den Plan geändert. Dies würde mit der Arbeitsmethode Kafkas übereinstimmen, über deren Wesen er mir öfters das Folgende gesagt hat: »Man muß wie in einen dunklen Tunnel hineinschreiben, ins Dunkle hinein, ohne daß man weiß, wie sich die Figuren wei­terentwickeln werden.« Auch sonst hat Kafka bei der Be­urteilung von Kunstwerken oft das Kriterium aufgestellt: daß die Gestalten eines echten Dichters sich selbständig machen, aus sich selbst heraus leben, aus sich selbst hervor sich be­wegen und daß ihr Schicksal manchmal Wendungen nimmt, die den Autor und Schöpfer überraschen.

Bei neuerlicher Beschäftigung mit dem Roman ›Amerika‹ hat sich mir indes eine zweite Möglichkeit eröffnet, die, wie es scheint, das Problem in neuer Weise aufhellt. Die beiden oben dargelegten Pläne widersprechen einander gar nicht. Roß­mann ist wirklich vom Autor ›umgebracht‹ worden; das Schlußkapitel ist eine Vision, deren Zeit (falls man da über­haupt noch von Zeit und Raum sprechen kann) die Zeitlosig­keit, die Ewigkeit ist, aber vom irdischen Leben her gesehen; also ein eigenartiges Zwischenreich und jenseitiges Leben, in dem ja wahrlich für jeden Platz ist, in dem »alle gebraucht werden«. Roßmann ist in die Transzendenz eingegangen, in eben jenem Sinne, den Karl Jaspers formuliert: »Der Mensch als Einzelner in seiner Existenz … ist in seiner Bindung an den transzendenten Gott und durch diese unabhängig gegen­über aller Welt.«

Liest man in dieser Beleuchtung das, was mir Kafka über den geplanten Schluß des Romans ›Amerika‹ gesagt hat, so ge­winnen die Worte ›Paradies‹ (das ja wahrhaftig keine Lokali­tät des Erdenglobus ist) und der von mir instinktiv gebrauch­te Ausdruck ›rätselhaft‹ eine Bedeutung, in der die ganze Doppelbodigkeit, die schwebende Qualität der Kafkaschen Aussage, auch seiner privaten, manchmal ans Mystifikatorische streifenden Mitteilungen sich manifestieren.

Wohl ist am Schluß des Romans Roßmann »aufgenommen«. Dieses Wort ist nicht etwa meine Erfindung in der Dramati­sierung des Romans. Kafka selbst gebraucht es und dessen Synonyma (»Kommen Sie rascher, es hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden« — und viele ähnliche Wen­dungen). Aber der Beruf, in den Roßmann »aufgenommen« worden ist, ist kein irdischer Beruf. Man könnte in vielem, was dieses Schlußkapitel in seiner Phantastik, in seiner kind­lich verspielten, trompetenblasenden, heiter verkitschten Engels­glorie gegenüber dem zweckbedingten Leben Amerikas auszeichnet, in vielem, was hier von bizarren, ins Scherz­hafte und ironisch Biedermännische entrückten Gestalten ge­sprochen wird, Hinweise auf ein dem Irdischen fernes Sein, auf eine Existenzform der Freiheit und himmlischen Heimat finden. Damit ist der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden Aufzeichnungen über den Plan, den Kafka für den Schluß hatte, aufgehoben.

Mit diesem ins Metaphysische, nicht ins Praktisch-Meßbare weisenden Abschluß, der das Wort zwar nicht eines Religions­stifters, wohl aber eines religiös bedingten Dichters ist, ver­liert Kafkas Roman nichts von jenem zarten Tropfen der Tröstlichkeit, von dem ich in meiner Darstellung der Welt Kafkas einiges gesagt habe. Daß in der Kafka-Welt diesem einen Tropfen des Trostes und der Helligkeit Unsummen von Leid, von Unmenschlichkeit gegenüberstehen: darin stimme ich mit jedem ernsthaften Bewunderer Kafkas selbstverständ­lich überein. Man darf nur über der Verzweiflung, die in Kafka zu Wort kommt, die schmale, aber entscheidende Kom­ponente der Hoffnung nicht völlig vergessen, die in einigen seiner Werke (nicht in der ›Verwandlung‹ — beispielsweise) trotz allem durchblickt. Aus neun Elementen der Verzweif­lung und einem Element Hoffnung ist das Werk dieses Un­vergleichlichen gemischt. Das Hinübergehen Roßmanns in eine Existenzform, in der das Sinnlose, das Mörderische, das Ge­hetzte des modernen Menschen nicht mehr vorkommt, gibt dem Buch einen milden Pianissimoausgang. Ich zitiere noch­mals Jaspers (›Der philosophische Glaube‹): »Die biblische Religion (mit diesem Ausdruck meint Jaspers Fundamente, die dem Christentum wie dem Judentum gemeinsam sind) lebt ohne tragisches Bewußtsein oder in überwundener Tra­gik.« So ist auch in ›Amerika‹ zuletzt die Tragik des Mensch­seins überwunden. Der Mensch wird nicht mehr erniedrigt, er ist (frei nach Hegel) in der dreifachen Bedeutung des Wortes ›aufgehoben‹: vernichtet, aufbewahrt, emporgetragen. Im Roman wird überdies die Erlösung nicht etwa apodik­tisch, sondern im Umkranz vieler Zweifel ausgesprochen, da­mit wie für Roßmann so auch für den, der sein Schicksal nacherlebt, schwebender Raum für die Freiheit der Entschlie­ßung bleibe.

Man vergleiche mit dem so gesehenen Schluß den dissonanten Ausgang des wesentlich pessimistischeren ›Prozeß‹-Romans; der Held stirbt, und der Autor bemerkt gleichsam über sei­nen eigenen Tod das Folgende: »›Wie ein Hund‹, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.« Von solch nihili­stischem Klima der Schmach sind wir in »Amerika« weit ent­fernt und gewinnen, wenn wir Sinn für Nuancen haben, all­mählich die rechte Erkenntnis der Spannweite, mit der Kafka Zweifel und Glauben zusammenfassend an seine Brust reißt.

In »Amerika« ist die Schuld, vielmehr der Fehltritt des Hel­den klar umrissen. Es ist mehr ein Unglücksfall als ein Vergehen. Und auch in jedem der späteren Malheure, die Roß­mann erlebt, schwingt ein ›eigentlich unschuldige mit einer Ironie nach, die ihren eigentümlichen Platz zwischen Unheim­lichkeit und gutmütiger Komik erstaunlich präzis innehält. — Wofür aber wird Josef K. in jenem geheimnisvollen Prozeße bestraft, dessen oberste Instanz dunkel, unzugänglich, ja mehr als einmal in ihrem Verhalten unverständlich und ta­delnswert erscheint — ganz ähnlich wie auch im Buche ›Hiob‹ Gott zunächst unzugänglich, rätselhaft bleibt und weder von Hiob noch von Hiobs Freunden (von diesen auch zum Schluß nicht) richtig gesehen wird?

Josef K. wird um seiner Lieblosigkeit willen, um seiner Nur-Korrektheit und Kühlherzigkeit willen bestraft — oder, wie mir scheint, er bestraft sich selbst, mißbilligt und maßregelt sich. Das geheimnisvolle Gericht, über das er oft so verachtend denkt, das er im Grunde aber doch anerkennt, ist sein Gewis­sen, vor dem er mit seinem Leben, mit der Flüchtigkeit, Lässigkeit, Gleichgültigkeit seines Erdenwandelns unzufrieden ist. In dieser anfangs zurückgedrängten, später sich immer deutlicher kenntlich machenden Unzufriedenheit liegt schon die Strafe, das Urteil, liegt zugleich die Sühne, die Katharsis des ›Prozeß‹-Romans. Josef K. liebt niemanden, er liebelt nur, deshalb muß er sterben. Mit den Menschen, mit denen Amt und Tagesumgang ihn zusammenbringen, ist er verfein­det, bestenfalls sind sie ihm schattenhaft unwichtig, — auch das Mädchen, Fräulein Bürstner, zu dem ihn eine Art von Verlangen zieht, bleibt ihm als Mensch schattenhaft, inter­essiert ihn nur als Sexualwesen. Sie hebt sich nur wenig aus der Reihe schwacher Liebes-Velleitäten heraus, die in dem Roman da und dort flackernd aufzüngeln, ohne je die Sphäre des Gebannten, Lemurischen ganz zu verlassen, ohne ins volle Licht des Menschseins zu treten. Sogar zu seiner Mutter hat Josef K. nur eine konventionelle Beziehung, er schickt ihr, die fern von ihm auf dem Lande lebt, Geldunter­stützung, sorgt für ihren Unterhalt, besucht sie aber nur ein­mal im Jahr, an ihrem Geburtstag — und ein hochwichtiges, leider unvollendetes Fragment eines Romankapitels, das vie­len Lesern entgangen zu sein scheint, erzählt, wie Josef K. auch diesen Geburtstag, das letzte Band mit dem Mutterher­zen, vergessen hat. — So lebt er einsam und kalt, dabei glaubt er aber durchaus das Rechte und Geziemende zu tun, eben dies ist seine zweite Sünde: Selbstgerechtigkeit. Also: das kalte Herz und die Selbstgerechtigkeit gemeinsam haben das Netz geschmiedet, in dem er sich verfängt. Der ›Prozeß‹, die symbolische Verhaftung gleich am Anfang ist es, die das dichte Netz nicht etwa zusammenzieht — sondern im Gegen­teil zerreißt, wie der Blitz eine schwarze Wolkenlandschaft.

Nun sollte er aus seinem Alltag, seinem »Halbschlaf der Eile« erwachen. Aber Josef K. wehrt sich zuerst gegen die Er­kenntnis seiner Sündhaftigkeit, alle klagt er an: das Gericht, das Verfahren, die oberen Richter wie die ausführenden Or­gane, alle klagt er an, nur sich selbst nicht; überall findet er Fehler, Lächerlichkeiten, ja Unflätigkeiten — nur an sich selbst nicht. Langsam und allmählich nur wird ihm klar, welch unlauteren Geistes Kind er ist. Der Prozeß ist zugleich seine Läuterung, sein Aufstieg zur Einsicht, zur Wahrheit über sich selbst. Zur Umkehr ist es zu spät. Angedeutet wird die Reue gleichwohl, im Schlußmonolog — in vereinzelten sparsamen Sätzen da und dort, wie in der so unendlich rührenden Be­merkung, daß die Angeklagten während des Verfahrens, das sie erleiden, immer schöner zu werden pflegen. Hier ist offen­bar Umkehr, Läuterung des Angeklagten gemeint. Kafka ist kein Autor, der seine Grundsätze siebenfach unterstreicht und (wie etwa Strindberg oder Tolstoi oder auch Rilke) an­gelegentlich der Beachtung des Lesers einhämmert. Kafka ist der sich scheu verbergende, der allzu leicht verwundbare Empfindungsmensch, einer, der erraten sein will, der keine Schüler heranzieht, wie etwa auch Kierkegaard davon über­zeugt war, daß er allein und ohne die Möglichkeit einer Nachfolge dastehe. Man mag diese Einstellung sogar in ge­wisser Hinsicht inhuman finden, so voll von zarter Wahr­heitsliebe und so stolz sie ist. Es gibt aber sowohl bei Kafka wie bei Kierkegaard entgegenstrebende Neigungen im Her­zen der beiden Autoren selbst, Züge der didaktischen, der pädagogischen Anlage, die ihre harte Abgegrenztheit mildern. — Wie dem auch sei (wir haben hier nicht zu richten, son­dern wo möglich das Charakteristische festzustellen): mehr als ein Wort hie und da, wie zufällig hingeworfen, ein Wort, das Läuterung anvisiert, mehr als Andeutung des Guten darf man bei Kafka nicht erwarten — und vor allem im »Prozeß‹-Roman nicht, seinem sonnenfinsternisähnlichsten Werk. Dennoch — auch im ›Prozeß‹ stehen solche Worte — und wer gut hört, der findet sie.

Etwas anderes im »Schloß«. Der Unterschied der beiden Werke ist entscheidend, obwohl manche äußerlichen Umstände große Ähnlichkeiten aufweisen und obwohl man beispiels­weise in den beiden flegelhaften Verhaftungsorganen des »Pro- zeß‹ unschwer Familienverwandte jener beiden Kobolde fin­den wird, die das »Schloß« aussendet, die irrlichterhaft und ironisch »Gehilfen« heißen, obwohl sie schlecht und recht nichts anderes als »Verhinderer«, »Störenfriede« und »Denun­zianten« sind. Der Urform der beiden Bälle vergleichbar, die im Fragment »Blumfeld, ein älterer Junggeselle« spuken. Ähn­lichkeit also in äußeren Details — große Unterschiede dagegen zwischen beiden Romanen im Aufriß, im Plan, in der Ge­samthaltung. Im ›Prozeß‹ ist der Held passiv, im ›Schloß‹ ein aktiv Bemühter. Im ›Prozeß‹ schließt sich Josef K. junggesellenhaft (wie Kafka es nennt) von der menschlichen Ge­meinschaft aus. Und der Junggeselle ist, wie schon aus Kaf­kas erstem Buch, der ›Betrachtung‹, hervorgeht, sein äußer­stes Schreckbild, seine Negativ-Inkarnation — während der Typ, der ihm als erwünscht vorschwebt, der des von vielen Kindern umgebenen Patriarchen und Familienvaters ist. (Seltsam für einen ›Negativisten‹.) Nun, der Held des ›Schloß‹-Romans ist soziabel, er strebt nach Ehe und Ein­wurzelung, nach Eingliederung in eine dem Gemeinwohl die­nende Arbeit. Er hat jene Umkehr zum tätigen Leben, die im ›Prozeß‹ unmöglich erscheint, bereits vollzogen, ehe sozusagen der Vorhang aufgeht — ehe der ›Schloß‹-Roman beginnt. — Man kann den Unterschied zwischen den beiden Romanen, zu denen ›Amerika‹ ein vergleichsweise harmloses Vorspiel bildet, vielleicht am besten so fassen: Im ›Prozeß‹ läuft der Held immerfort vor der obersten Instanz davon, sie lädt ihn vor, verfolgt ihn unter vielerlei Gestalt, er sucht sich zu ent­ziehen — im ›Schloß‹ dagegen läuft der Held immerfort auf die oberste Instanz zu, er sucht mit Aufgebot aller Kraft den Weg zum ›Schloß‹ — und bei seinen Bemühungen denkt man wohl an eine andere Gestalt, die unter vielen Irrungen den Weg zu einem Schloß der Erlösung, zum Montsalvatsch sucht, an Parsifal, der schon einmal im Schloß war, von dort eines Versagens wegen (so verzeihlich es uns in seinem damaligen Geisteszustand erschien) hinausgewiesen wurde und Jahr­zehnte lang den Aufstieg nicht wiederfindet. Wie durch Zauberwort ist ihm der Weg verschlossen.

Das ›Schloß‹ und der ›Parsifal‹, zwei große Dichtungen von den Irrfahrten der Menschenseele, spirituale Odysseen. In beiden Werken entscheidet eine dem Anschein nach gering­fügige Verfehlung des Helden, gleichsam ein Verstoß gegen die unbekannte Hausordnung der Burg, — da eine Herzens­trägheit, dort die Notlüge und Ungeduld des Arbeits- und Heimatlosen. Beidemal verzweifelte, lang fortgesetzte Bemü­hungen, den Weg dennoch, auch gegen den Willen der Burg­regierung zu finden. Und zuletzt die Gnade. Denn auch Kafka wollte zuletzt seinem K. Gnade zukommen lassen, sei es auch eine Gnade erst im Sterben, — dem Helden des ›Schloß‹-Romans wird zuletzt das Wohnrecht zwar nicht de jure, aber doch gnadenweise zugebilligt. Kafka hat den Ro­man nicht vollendet, mir aber im Gespräch den von ihm in­tendierten Schluß erzählt, — wie ich dies bereits im Nachwort der Erstausgabe des ›Schloß‹ mitgeteilt habe.

So bietet der Roman vom ›Schloß‹ in gewissem Sinne einen lebenspositiveren Anblick als der ›Prozeß‹. Dennoch aber preßt es einem die Seele zusammen, wenn man miterlebt, wie K. im ›Schloß‹ bei all dem besten Willen, der ihn aneifert, doch nur ein Fremder unter den Bauern bleibt, doch nur von der wankelmütigen Frieda und von der Paria-Familie des Dorfes einigermaßen anerkannt wird, — wie alle seine An­strengungen, so zähe er sie unternimmt, ihm nur wenig nüt­zen. Das Unterliegen des Lebensbejahenden bietet, so be­trachtet, einen noch gramvolleren Anblick als die Verwerfung des Lebensunfähigen, Liebeleeren. Somit muß man zu der Feststellung, daß der Roman vom ›Schloß‹ im ganzen dem Leben zugewandter, weltfrömmer ist als der ›Prozeß‹, doch auch wieder mancherlei Einschränkung erwägen. Man merkt eben bei jeder urteilsmäßigen Einreihung, die man einem Werk Kafkas gegenüber zu tätigen bemüht ist: an wie un­endlich zarte und differenzierte Materie man rührt. Jedes allzu eckige Wort stört schon die vom Dichter geschaffene und in der Schwebe gehaltene Balance. — So viel wird man aber festlegen dürfen, daß Kafka nicht nur in den Aphorismen von der hochtalentierten Höllenmeute der Autoren wesent­lich verschieden ist, die nur ein Versagen und Verzagen ken­nen, deren Dichtung ein Sich-Selbst-Aufgeben und eine Auf­lösung der geordneten Welt ist, — daß er auch in der auf­steigenden Reihe seiner Romane zu den Lehrmeistern des Menschengeschlechtes gehört.

In jüngster Zeit hat Martin Buber am kräftigsten auf die lebenspositive Haltung Kafkas hingewiesen, besonders ein­dringlich in dem Essay ›Schuld und Schuldgefühle‹ (Vor­lesung, gehalten an der School for Psychiatry in Washing­ton 1957) und in dem Buche »Zwei Glaubensweisen« (1950)[8]. In dem Essay stellt Buber unter anderem dar, daß Kafka im ›Prozeß‹ »die gerechte Anklage einer unzugänglichen ober­sten Instanz durch ein lotteriges und grausames Gericht durch­geführt werden läßt«. Die im ›Prozeß‹ enthaltene Türhütergeschichte ist für Buber »Kafkas konzentriertestes Bekennt­nis« und die Verbindung dieser Parabel mit der Schlußkatastrophe wird dadurch hergestellt, daß der Dichter seinen Hel­den bei seinem Gang zum Tode sich »in einer starken, wie­wohl immer noch rein verstandesmäßigen Selbstbesinnung sammeln läßt«. In dem Menschen, den K. noch ganz zuletzt in einem fernen Fenster stehend erblickt, möchte Buber den Dichter selbst sehen, der seinem Geschöpf zu Hilfe eilen möchte, es aber nicht darf. Gegenüber andern Kafka-Inter­preten weist Buber nach, daß die Anklage gegen K. durchaus keine »wahnsinnige Absurdität«, nicht sinnlos, sondern be­rechtigt war. Den Umfang dieser Berechtigung und damit die positive, nicht etwa (wie bei so vielen Nachahmern Kafkas) nihilistisch-spielerische Grundlage des »Prozeß‹-Romans habe ich oben darzustellen gesucht. — In den Schlußpartien von »Zwei Glaubensweisem hat Buber Kafka mit dem Apostel Paulus konfrontiert. Er holt mächtig aus. Gottesferne bildet den Hintergrund. Vom alttestamentarischen Zorn, der den Sünder züchtigt, unterscheidet Buber den weit umfassenderen paulinischen ›Abgrund voll des Zornes‹, in dem Gott das ›Gesetz‹ gibt, damit man darüber strauchle und der Gnade durch den erlösenden Christus um so radikaler bedürftig werde. In diesem ganzen ›Zeitabgrund‹ regiert das Böse, dem automatisch und unter Streichung der Spontaneität mensch­licher Sittlichkeit Macht über die Menschenwelt verliehen ist. Buber drückt das exemplarisch in folgenden Sätzen aus: »In alledem ist für die unmittelbare Beziehung Gottes zu seiner Kreatur, wie sie alttestamentlich auch noch im äußersten Zür­nen zutage trat, kein Raum mehr: Gott zürnt nicht, er gibt den Menschen in die Hand des Gewaltwesens Zorn und läßt ihn foltern — bis Christus rettend erscheint… Es ist der in sich verzahnte Weltablauf, der als objektiver ›Zorn‹ den Menschen zermalmt, bis Gott durch seinen Sohn die Erwähl­ten aus der Maschinerie herausholen läßt. Der mit einer Art von Vollmacht tobenden Dämonie des ›Zorns‹ stellt Paulus in der Dimension der vorchristlichen Geschichte kein göttliches Erbarmen gegenüber.« — Dieser paulinischen Konstruktion des Weltablaufs führt Buber klar die pharisäische Lehre von den Middot, den Maßen, den Verhaltungsweisen Gottes entgegen. Eine wichtige Ergänzung findet dieser Hinweis auf die Middot durch das Buch Martin Bubers »Bilder von Gut und Böse« (Köln 1952). In diesen ›Bildern‹ gibt Buber entgegen der Doktrin des Apostels Paulus von der Erbsünde (und dem radikal Bösen in uns) seine eigene, dieser pessimistischen Sicht diametral entgegengesetzte Lehre. Nach Bubers Darstel­lung (die er auf die Paradies-Szene unter dem Baum der Er­kenntnis, auf die Erzählung von der Ermordung Kains und von der Sintflut stützt) ist im urbiblischen Sinne das Böse nicht polar dem Guten entgegengesetzt und nicht ebenso stark wie das Gute (das wird es erst in der iranischen Avesta), sondern ist ein Nicht-Tun, ist die Entscheidungslosigkeit. Richtungslosigkeit der Seele. »Das Böse kann nicht mit der ganzen Seele getan werden; das Gute kann nur mit der gan­zen Seele getan werden.« Diese grundlegende Erkenntnis von der Schwäche des Bösen im Menschen hat in den ›middot‹ Gottes ihre himmlische Entsprechung. »Immer umfaßt der lebendige Gott die ganze Polarität des der Welt an Gut und Übel Widerfahrenden … Der Wandel (sc. von einer midda zur andern) bedeutet also nichts andres, als daß einmal die eine, ein andermal die andre Erscheinungsweise Gottes die Führung hat, je nach dem Wesen dessen, was Gott vollbrin­gen will. Doch sind sie — und das ist das Wichtigste — ein­ander an Macht nicht gleich: die Midda der Gnade ist die stärkere.« Diese Einsicht in die middot führt wieder zur un­mittelbaren Beziehung des ganzen Menschen zum ganzen Gott, dem offenbaren wie dem sich verbergenden zurück. »Sie ist die Gestalt, in der das pharisäische Judentum durch seine Lehre von den Middot die alttestamentliche Emuna, das große Vertrauen zu Gott, wie er auch sei, erneut hat. Sie schließt die zwei großen Imagines aus, die die paulinische Weltkonzeption der unmittelbaren Emuna entgegengestellt hat: die Dämonie, der dieser Äon übergeben ist, und das Mitt­lertum eines Christus an der Schwelle des kommenden.« Paulinisch dagegen bleibt, wie oben erwähnt, die mit einer Art von Vollmacht tobende Dämonie, die Zermalmung des Menschen und seiner Triebe in einer gnadenlosen (von dem einen einzigen Ausweg der Christusgnade abgesehen gnaden­losen) »Maschinerien Ich glaube, daß diese Grundeinstellung des Paulus, ebenso wie die der Apokalypsen, ohne einen um­fassenden Blick auf die damaligen Zeitereignisse, auf die anscheinende Unabwendbarkeit der römischen Gewaltherr­schaft nicht verstanden werden kann, so sehr ihr Hauptzug uns als allmenschlich und allzeitlich antritt. Es hat immer wie­der derartige »paulinische Zeitalter‹ gegeben, nicht nur jene Epoche, in der der jüdische Staat und darüber hinaus wich­tige Teile der jüdischen Lebensordnung und anderer großen Kulturen durch die unwiderstehliche äußere Gewalt der Römer zerschlagen wurden. Buber erkennt Rechtens in unserer Zeit ein solches paulinisches Zeitalter und hat ihm, hat der Welt­stunde, in der der Hegel-Nietzsche-Ruf »Gott ist tot« durch die Hinterhäuser der Literatur erschallen konnte, sein bedeutsames Buch »Gottesfinsternis« entgegengehalten, in dem mit Sartre, Heidegger und Jung streng und ohne Umschwei­fe, eindeutig Abrechnung gehalten wird. In den Schlußkapiteln der ›Glaubensweisen‹ ergänzt er diese und andere streitbare Auseinandersetzungen mit sogenannt modernen Denkformen durch Hinweis auf drei Bücher: Emil Brunners Werk »Der Mittlers das einen seiner Hauptakzente auf den paulinischen Zorn und Grimm Gottes setzt, und Franz Kaf­kas Romane »Der Prozeß« und »Das Schloß«. Schon die oben zitierte »Maschinerie« (der »in sich verzahnte Weltablauf«, der den Menschen zermalmt) hat Assoziationen an Kafkas ›Strafkolonie‹ ge­weckt. Nun wird zunächst die heute öfter vernommene Ansicht ausgeführt, laut der ein Zusammenhang der paulinischen Weltschau in einer gewissen pessimistischen Modifikation mit dem Weltbild Kafkas bestehen soll. »Es gibt einen Paulinismus des Unerlösten, einen also, in dem der feste Ort der Gnade eliminiert ist: man erfährt hier die Welt, wie Paulus sie erfuhr, als in die Hände unabwend­barer Gewalten gegeben, nur der manifeste Erlösungswille von oben, nur Christus fehlt.« Es ist eine »in Permanenz er­klärte Apokalyptik«. Daß ein solches Weltbild entstehen und sich nunmehr auch mancher außerchristlicher Kreise bemächti­gen konnte, ist (laut Buber) nicht etwa auf Wandlungen unserer subjektiven Auffassung zurückzuführen, sondern hat objektive Gründe in Wandlungen der Weltsituation, — wo­mit wohl auf das Zeitalter der ethischen Depravation, der Vermassung, der Technisierung, die in der Atombombe kul­miniert, hingewiesen werden soll. Den ›Paulinismus des Unerlösten‹ aber, der um einen entscheidenden Grad noch ver­zweifelter ist als Paulus, da hier die Christusgnade gestrichen ist, bringt Buber nur deshalb mit Kafka in Verbindung, um die Verschiedenheit der beiden Haltungen zu demonstrie­ren.

»Kafka ist«, so sagt Buber, »von dieser Behandlung (sc. Gleichsetzung mit einem Paulinismus plus Unerlöstheit) un­betroffen geblieben.« Denn er ist, wiewohl äußerst exponiert, doch im Grunde ›geborgen‹. »Der Jude, sofern er nicht vom Ursprung getrennt ist, auch noch der exponierteste Jude, also Kafka, ist geborgen. Wohl vermag er sich nicht mehr ›im Versteck deiner Flügel‹ (Psalm 61,5) zu bergen, denn der Zeit, in der er lebt, und mit ihr ihm, ihrem exponiertesten Sohn, verbirgt Gott sich; aber in der Tatsache des Nurverborgenseins Gottes, um die er weiß, ist er geborgen.« Das heißt: Für Kafka ist Gott nicht tot, er weiß um Gottes Sein, auch wenn es für ihn ein verborgenes, ja sogar ein durch häßliche Masken und neckende Zwischeninstanzen unerreich­bares Sein geworden ist. (Vergleiche hiezu auch den Schluß der »Kaiserlichen Botschaft? von Kafka.) Kafkas Geborgensein verträgt sich illusionslos mit dem vordergründigen Weltlauf, den er in den drei großen Romanen wie in vielen Erzählun­gen so kraß in seiner ganzen schikanenreichen Labyrinthhaftigkeit abmalt. Bei aller manifesten Unsinnigkeit, Widersin­nigkeit, Vergeblichkeit, ja Schmählichkeit der Geschehnisse hört Buber doch ein »Es kann nichts dir etwas anhaben« aus dem summenden Chaos Kafkascher Begebenheiten und Gleich­nisse heraus. Ein Tor, das zur Welt des Sinns führt, ist für jeden Menschen vorbestimmt, auch wenn er es nicht weiß und sich, diesem Nicht-Wissen fallweise erliegend, ein Leben lang von diesem Tor wegscheuchen läßt (Kafkas Legende ›Vor dem Gesetz‹). Buber zitiert ein Aphorisma Kafkas. »Wir wur­den geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt, uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; daß dies auch mit der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht gesagt.« Und höchst dankenswer­terweise kommentiert Buber im Gegensatz zu den vielen, die in Kafka einen nichts als nihilistischen Schriftsteller sehen wol­len, dieses wichtige Aphorisma durch den folgenden, ein­leuchtenden Passus:

»So leise und scheu äußert sich der Antipaulinismus aus dem Herzen dieses paulinischen Schilderers der Vordergrundhölle: das Paradies ist noch da, und es wirkt uns zum Dienst. Es ist da, das heißt, es ist auch hier, wo der dunkle Strahl das gepeinigte Herz trifft. Sind die Unerlösten erlösungsbedürf­tig? Sie leiden an der Unerlöstheit der Welt. Die unerlöste Seele weigert sich, die Evidenz der unerlösten Welt, an der sie leidet, gegen die eigne Erlösung herzugeben. Sie kann sich weigern, denn sie ist geborgen. Dies ist das Gesicht des in die­ser Zeit der größten Verborgenheit Gottes ins Judentum eingedrungenen Paulinismus ohne Christus, eines Paulinis­mus also gegen Paulus. Düsterer als je vorher wird der Welt­lauf gezeichnet, und doch wird erneut, mit einem noch ver­tieften ›Trotz alledem«, ganz leise und scheu, aber unzwei­deutig, die Emuna (der Glauben) verkündigt. In all seiner Zurückhaltung bekennt doch der in der verfinsterten Welt umirrende Spätling (Kafka) mit jenem deuterojesajanischen Sendboten der leidenden Völkerwelt (Jesaja 45, 15): ›Wohl, du bist ein Gott, der sich verbirgt, Gott Israels, Heiland!« So muß in einer Stunde der Gottesfinsternis die Emuna sich wandeln, um an Gott zu beharren, ohne die Wirklichkeit zu verleugnen.«

So weit die höchst wesentliche Darlegung Bubers.

Im Gleichnis vom ›Reisewagen‹ aber (und an mehreren gleich­sinnigen Stellen) hat Kafka bei aller Zurückhaltung doch auch den Rettungsgedanken weitergeführt, der ›Verborgenheit Gottes« die Hoffnung auf Erlösung manifest gegenüber­gestellt, seine persönliche Hoffnung und die Hoffnung der Welt.

Quelle: Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1966, S. 303-336.


[1] Dem Abschnitt liegt folgender Text zugrunde: Max Brod, Verzweiflung und Er­lösung im Werk Franz Kafkas. (Frankfurt am Main:) S. Fischer 1959. — Vom Autor neu durchgesehen.

[2] Auf den starken sozialen Einschlag im Werk Kafkas, auf seinen rege betrach­tenden Anteil am politischen Leben, insbesondere auf die Art, in der seine Be­rufsarbeit an der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt seinen Sinn für die Lage der ausgebeuteten Schichten geweckt und geschärft hat, habe ich schon in meiner Kafka-Biographie hingewiesen (S. 75-80 dieser Ausgabe), ferner in dem Buch »Franz Kafkas Glauben und Lehre‹, in meinem Roman ›Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung«; vergleiche auch Gustav Janouchs ›Gespräche mit Kafka«.

[3] Daher Kafkas Ablehnung der Ungeduld in den »Betrachtungen über Sünde, Leid etc.‹, Aphorisma 2 und 3. In seinen Tagebüchern heißt es ferner: »Nicht ver­zweifeln, auch darüber nicht, daß du nicht verzweifelst. Wenn schon alles zu Ende scheint, kommen doch noch neue Kräfte angerückt, das bedeutet eben, daß du lebst.« An anderer Stille: »Starker Regenguß. Stelle dich dem Regen entgegen, laß die eisernen Strahlen dich durchdringen, gleite in dem Wasser, das dich fort­schwemmen will, aber bleibe doch, erwarte so, aufrecht, die plötzlich und endlos einströmende Sonne.« — Man sollte denken, daß schon diese Bemerkungen ihn aus dem Kreis der hoffnungslos Verzweifelten sichtbar ausschließen.

[4] Eine ernst zu nehmende Verteidigung des ontologischen Arguments findet sich im Buch von Franz Brentano »Vom Dasein Gottes« (Aus seinem Nachlaß herausgegeben von Alfred Kastil, Verlag Felix Meiner, 1929), Seite 19-59. Das Buch erschien erst nach dem Tode Franz Kafkas.

[5] Ein anderes Beispiel dieser Vorausschau, für die ich keine rationalen Erklärun­gen habe (es sei denn die von Schopenhauer in seinen »Parerga« I »Versuch über das Geistersehen‹ angeführten), findet sich in Kafkas ›Tagebüchern‹, wo unter dem Datum vom 6. Juni 1914 in Form einer Erzählung das Erlebnis eines »Magistrats­beamten Bruder« erzählt wird, das lebhaft an Szenen während des Krieges erinnert, der erst zwei Monate später ausbrach (Seite 387 des Bandes ›Tagebücher‹). Ferner die unter den ›Fragmenten‹ des Bandes »Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande« (Seite 404, 405) publizierte Szene einer Deportation, dergleichen es zu Kafkas Lebzeiten in unseren Breiten nicht gab. Das Erstaunliche ist die Fülle präziser De­tails, mit der Kafka die traurigen Geschehnisse vorhersieht.

[6] Eine der zu Kafkas Lebzeiten veröffentlichten Novellen.

[7] Jetzt im letzten Band der Kafka-Gesamtausgabe »Briefe 1902—1924« publiziert.

[8] Felix Weltsch legt in etwas abweichender Interpretation auf Kafkas Unsicherheit inmitten des Glaubens an das Unzerstörbare« den Hauptakzent. »Er hat diese Unsicherheit inmitten des Glaubens mit einer ungeheuren Intensität erlebt.« (Felix Weltsch ›Religion und Humor im Leben und Werk Franz Kafkas«, 1957.) Meiner Meinung nach ist die (sei es auch nur zeitweilige) Überwindung dieser »Unsicherheit« das Entscheidende.

Hier der Text als pdf.

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