Walter Brueggemann, David verschont Saul in der Wüste von En-Gedi. Kommentar zu 1. Samuel 24,1-23: „Geschichte ist keine Abfolge von zufälligen Ereignissen. Geschichte ist die Verwirklichung einer Verheißung, die „erniedrigt und erhöht“, die „arm macht und reich“, die „erniedrigt und erhöht“. Saul wird nun erniedrigt, verarmt, zu Fall gebracht. Die Erzählung verweilt jedoch nicht bei Saul. Sie richtet ihr Augenmerk auf den, der zum Herrschen bestimmt ist.“

David verschont Saul in der Wüste von En-Gedi. Kommentar zu 1. Samuel 24,1-23[1]

Von Walter Brueggemann

Dieses Kapitel weist enge Parallelen zu Kapitel 26 auf. Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei den beiden Berichten um traditionelle Wiedergaben desselben erinnerten Ereignisses. Diese beiden Kapitel bilden den Abschluss der dramatischen Entwicklung hin zur endgültigen Annahme Davids als König und zur endgültigen Absetzung Sauls. David und Saul werden in diesen Erzählungen als meisterhafte Redner dargestellt. Für Israels Erzähler sind die Reden für die Entwicklung des erzählerischen Dramas in der Tat am wichtigsten. Israels erzählerische Vorstellungskraft stützt sich vor allem auf Reden, wie in diesem Kapitel deutlich wird. Die dramatische Handlung besteht darin, dass Menschen öffentlich zueinander sprechen. Kapitel 24 besteht aus einem kurzen erzählerischen Bericht über die Handlung (V. 1-5), gefolgt von zwei ausgedehnten, gut ausgearbeiteten Reden von David und Saul (V. 9-15, 16-21). Sogar im einleitenden Teil der Verse 1-7 muss David sprechen, um seine Männer zu „überreden“.

1-7. Die Handlung der Erzählung ist kurz und schnell erzählt. In 23,27-28 wurde David in letzter Minute durch das Eingreifen der Philister gerettet, die Sauls Aufmerksamkeit von ihm ablenkten. In Vers 1 kehrt Saul von seinem Philisterzug zurück. Wir erfahren nichts über den Konflikt mit den Philistern, der zwischen 23,27-28 und 24,1 stattfand. Offensichtlich hat der Erzähler gerade kein Interesse an der Philisterfrage. Saul kehrt zurück, um David im Süden in der Gegend von En-gedi zu verfolgen. Der Erzähler hat auch kein Interesse an den geographischen Besonderheiten. Die Begegnung zwischen David und Saul hätte überall stattfinden können; es bedurfte nur eines Schauplatzes, etwa einer Höhle, für das heimliche Vorgehen Davids und die beiden langen Reden.

Was den Erzähler interessiert, ist diese dramatische „letzte“ Begegnung zwischen den beiden Gegnern. Der Übergang von der öffentlichen Frage der Philister zur konkreten Begegnung mit David ist abrupt: „Saul ging hinein, um sich zu erleichtern. David aber saß mit seinen Männern im Innersten der Höhle“ (V. 3). Schnell sind beide Hauptfiguren gefunden: Saul in der Verwundbarkeit, David in der Sicherheit des Verstecks. Als wir sie das letzte Mal zusammen betrachteten (23,26), war Saul der starke, aggressive Mann und David der verletzliche Flüchtling. Jetzt, innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums, kehrt sich die Situation völlig um: Saul ist verletzlich, David ist stark. Der Erzähler spekuliert nicht über diese Umkehrung. Solche Umkehrungen geschehen typischerweise zu Davids Gunsten. Der Erzähler überlässt es uns, uns zu wundern (oder zu amüsieren), dass der verletzliche König und der sichere Prätendent zufällig zur gleichen Zeit in derselben Höhle auftauchen.

In der kurzen Erzählung der Verse 1-7 ist Saul völlig passiv. Er sagt weder etwas noch tut er etwas. Er ist anderweitig beschäftigt. Das Gespräch findet zwischen David und Davids Männern statt. David und seine Männer haben Saul verwundbar in der Höhle gefunden. Die Männer haben sich an ihre eigene Gefährdung durch Saul erinnert (23,24-26). Sie sehen jetzt keinen Grund mehr, ihren Feind und den Feind Davids nicht zu beseitigen (V. 4). Außerdem vertrauen sie David vollkommen. David soll tun, was „gut in seinen Augen“ ist.

Davids Reaktion ist sehr detailliert beschrieben. Er scheint der Aufforderung seiner Männer fast nachzugeben. Schließlich muss er auf ihr treues Vertrauen in ihn reagieren. Er macht eine erste spielerische Geste und schneidet den Rock des Gewandes von Saul ab (V. 4). Er nähert sich dem König und setzt sein Schwert ganz nah an der Person des Königs an. Wir können uns kaum vorstellen, wie diese Tat in der Dunkelheit unentdeckt geschehen konnte. Aber es geschieht.

Wie Gunn beobachtet hat (1980, S. 92-95), ist diese Geste sehr nuanciert und kann auf ver­schiedene Weise gelesen werden. Erstens ist das Stück des Gewandes ein Beweis dafür, dass Saul tatsächlich David zur Verfügung stand und David sich weigerte, Saul zu beseitigen. David hat das Leben des Königs verschont! Zweitens deutet die doppelte Verwendung von „abschneiden“ (V. 4-5) auf eine Handlung hin, die Saul, Sauls Zukunft und Sauls Erben beendet hätte. Dasselbe Verb „ausrotten“ wird dreimal von Jonatan in seinem leidenschaft­lichen Plädoyer für Davids Standhaftigkeit verwendet (20,14-16). Drittens deutet Gunn an, dass „den Rock abschneiden“ ein spielerischer Euphemismus dafür ist, den Penis abzuschnei­den und Saul so hilflos, ohne Männlichkeit und ohne Zukunft zu machen. Davids Handlung könnte dieses drastische Ergebnis natürlich nur symbolisieren und andeuten, denn David berührt Sauls Person nicht wirklich.

Der Vorfall wird so geschildert, dass der Erzähler auf verschiedenen Ebenen der Grimmigkeit, des Wohlwollens und des Humors zu hören ist, die alle dazu dienen, Davids Anmut und seine Männlichkeit im Gegensatz zu dem bemitleidenswerten Saul zu betonen, der in Verletzlich­keit und Hilflosigkeit hockt. Der Erzähler lädt den Zuhörer ein, sich die Szene mit all ihren starken Kontrasten vorzustellen. Davids Männer sind zurückhaltend, Saul wird bemitleidens­wert, David ist triumphierend und großmütig. Wenn die Verbindung zu Jonatans Flehen in 20,14-17 stimmt, dann praktiziert David, indem er sich weigert, Sauls Männlichkeit und Zukunft „abzuschneiden“, genau die ḥesed, um das Jonatan gebeten hat.

Der Erzähler ist jedoch noch nicht fertig mit Davids heimlichem Vorgehen. David hatte auf das Drängen seiner Männer reagiert und sich Saul überhaupt genähert. Unmittelbar nach seinem Handeln wird David von Scham und Reue ergriffen, dass er sich dem König genähert hat. David spricht eine Formel der hohen königlichen Theologie, um sowohl sein eigenes Handeln zu kritisieren als auch seine Männer vor weiteren Aktionen zu warnen (V. 6). Viel­leicht war Davids heimliches Vorgehen in Vers 4 nur ein Trick, um den Blutdurst seiner Männer abzuwehren. So wie die Erzählung es darstellt, siegt jedoch Davids treues Herz. David ist derjenige, der nach JHWHs eigenem Herzen handelt (13,14; vgl. 16,7). Jetzt wird sein empfindsames, gehorsames Herz getroffen. Er bereut seine Tat gegen Saul und weigert sich, weiterzugehen. Die Gegenüberstellung der Verse 4 und 5 wendet also den Eifer von Davids Männern ab und stellt David in bestem Licht dar. David stoppt, was „in seinen eige­nen Augen“ richtig war, bevor er dem „Gesalbten des Herrn“ mehr als nur symbolischen Schaden zufügt.

Das anfängliche Handeln Davids und seine Reue als Reaktion auf sein Handeln dienen drei Zwecken. Die Männer werden durch Davids Argumentation „überzeugt“. David wird positiv dargestellt. Saul verlässt die Höhle und zeigt damit an, dass er in Sicherheit ist und die drama­tische Episode nun beendet ist. Wir werden auf die beiden Reden vorbereitet, für die die Sze­ne in der Höhle die Vorbereitung ist.

8-15. David spricht zuerst. Es ist eine selbstbezogene Rede, die die Unschuld und die Gnade Davids zeigen soll. Die Rede zielt darauf ab, David ins Recht zu setzen und damit unweiger­lich auch Saul ins Unrecht zu setzen. David spricht Saul als König an (V. 8). Er verneigt sich tief und mit gebührendem Respekt. In der Rolle des immer noch gehorsamen und pflichtbe­wussten Dieners des Königs behauptet David, dass JHWH Saul „in seine Hand gegeben“ hat (V. 10). Dies ist die Sprache des „heiligen Krieges“, die gegen die Philister (23,4) und gegen alle Feinde JHWHs und seines Volkes verwendet wird. Die Sprache legt nahe, dass Saul ein Feind Davids und JHWHs ist. David und Saul waren nicht zufällig in der Höhle; ein Akt JHWHs hat Saul an David „ausgeliefert“.

„Aber ich habe dich verschont!“ (v. 10). Ich war barmherzig (ḥws). Der Ausdruck ist nicht ḥamal, der Ausdruck, der für Agag verwendet wird (vgl. 15,9), aber der Sinn ist derselbe. David hätte Saul, der sein Feind (und der Feind JHWHs) ist, „völlig vernichten“ können. Aber David tat es nicht – aus Gehorsam gegenüber Saul und aus Ehrfurcht vor dem Thron. JHWH hat dich „in meine Hand“ gegeben, aber „ich werde meine Hand nicht ausstrecken“. David ist unschuldig. Er „schnitt“ den Rock des Gewandes ab, aber das ist alles, was er „abschnitt“. Er hat Sauls Genitalien nicht „abgeschnitten“. Er hat weder Saul noch Sauls Thron noch Sauls Zukunft „abgeschnitten“.

Davids Rede soll Saul von Davids Unschuld und von seiner fortdauernden Achtung überzeu­gen. Die Rede hat aber auch andere Zuhörer. Auch der Leser, der die Rede hört, ist angesprochen. David (und der Erzähler) wollen, dass jeder Zuhörer von Davids Unschuld überzeugt ist; David hat die Ansprüche des „Gesalbten JHWHs“ nicht verletzt.

Die Rede will den Zuhörer auch reizen. Meint David alles, was er in dieser zwingenden Aus­sage gesagt hat? Ja, sicher, offensichtlich, unmissverständlich. Aber David ist sicher kein unschuldiger, kleiner, achter Sohn mehr. David weiß um Macht und öffentliches Auftreten, um Propaganda und öffentliche Meinung. David weiß, dass in Israel mächtige Kräfte in seinem Namen unterwegs sind. David braucht keine plötzliche Initiative zu ergreifen und die Sache nicht gewaltsam durchzusetzen. David weiß um das geduldige, vertrauensvolle Warten. Er spürt, dass er nicht mehr lange zu warten braucht. Dieser verzweifelte Mann, Saul, wird sich selbst zerstören. Davids Rede ist eine Rede der Unschuld, aber wir dürfen uns nicht von der Unschuld, mit der sie vorgetragen wird, täuschen lassen.

David verwendet ausdrücklich eine juristische Sprache (Vv. 12-15). Er möchte in den Augen Sauls – oder zumindest in den Augen des zuhörenden Israels – rehabilitiert und freigespro­chen werden und bittet Saul, die Beweise sorgfältig zu prüfen, die Art von Beweisen, die sich für ein Gericht eignen. Saul hat bereits entschieden, dass David ein Verräter ist. Aber mit welcher Begründung (vgl. 20,32)? Es gibt keine Beweise gegen David, die vor Gericht oder in der öffentlichen Meinung Bestand haben würden. Vielleicht hat David auf Kosten Sauls mit den Menschenmassen gespielt (18,7.13-16). Vielleicht hat David die Tochter Sauls ausgenutzt (18,20-28). Vielleicht hat David den Sohn Sauls verführt (18,1-5). David hat jedoch keine aktiven, schädlichen oder zerstörerischen Handlungen gegen Saul unternommen. David besteht darauf, dass er unschuldig ist. In diesem Plädoyer der Selbstverteidigung bittet David nur darum, dass Saul frei genug von seinen Leidenschaften und seiner Wut sei, um die Beweise zu prüfen und die Gerechtigkeit JHWHs walten zu lassen (V. 12). Das Sprichwort in Vers 13 deutet darauf hin, dass, wenn David böse (schuldig) wäre, es Beweise für eine solche Schlechtigkeit gäbe. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,16; vgl. Joh 10,31-32; 18,23). Aber Saul kann keine Beweise anführen. Es gibt keine schuldigen Früchte aus Davids Hand.

David folgt dem Sprichwort mit einem wunderbaren Bild der Selbsterniedrigung (V. 14). Du, Saul, König von Israel, wendest so viel Energie für mich auf. Aber bedenke, wer ich wirklich bin – ein toter Hund oder, noch weniger, ein Floh auf einem Hund (vgl. 18,18.23). Ich bin keine wirkliche Bedrohung. Seht euch an, wer ich wirklich bin. David bittet darum, dass die tödliche Verfolgung durch Saul aufhört, weil er kein Verräter ist. Die Erzählung hat die unmit­telbare Gefahr für David im Blick. Der Erzähler baut Davids Rede zu einem kraftvollen, dramatischen Appell auf. David muss gerettet werden, und nur die Antwort von Saul kann ihn retten.

In der Rede Davids geht es jedoch um mehr als um die unmittelbare Rettung. David (oder der Erzähler) legt eine Bilanz für die langfristige Zukunft vor. In der Zukunft wird David der Nachfolger Sauls sein. Der Erzähler kennt den Ausgang der Geschichte und zweifelt selbst in dieser Gefahr nicht an Davids letztendlichem Triumph. In der Zukunft, wenn David etabliert ist, wird etwas über Davids Umgang mit Saul gesagt werden müssen. Dann wird es nach dieser sorgfältig ausgearbeiteten Rede eine Rechtfertigung aus Davids eigenem Mund geben.

Die Rede von David ist meisterhaft konstruiert. David ist technisch korrekt in seinem Plädoyer und technisch unschuldig. Da jeder Punkt in seinem Fall separat betrachtet wird, kann kein einziges Beweisstück ihn anklagen. Im Großen und Ganzen hat Saul jedoch nicht unrecht, wenn er weiß, dass es eine dunkle Verschwörung gegen ihn und für David gibt. Wir haben gesehen, dass Saul den Begriff „Verschwörung“ bewusst verwendet hat, auch wenn er das Wort halb wahnsinnig ausgesprochen hat (22,8, 13). Der Erzähler hat uns jedoch geschickt und listig erkennen lassen, was Saul nicht sehen kann, nämlich dass David die Verschwörung nicht gesponsert hat. Die Verschwörung ist die Absicht JHWHs, von der Saul nichts weiß und zu der Saul keinen Zugang hat. Das Problem für Saul liegt viel tiefer als alles, was David zugeschrieben wird. Saul scheint selbst in seiner Angst vor David zu wissen, dass David nicht für alles verantwortlich ist, was ihm widerfahren ist. Saul muss diese Fragen in seiner Antwort an David klären.

16-22. Jetzt muss Saul antworten. Am Anfang (V. 8) und am Ende seiner Rede (V. 14) hat David Saul „König“ genannt. In Vers 11 hat er Saul „mein Vater“ genannt, ein Wort der besonderen Wertschätzung und Verehrung. Saul antwortet in gleicher Weise, „mein Sohn David“ (V. 16). Sauls anfängliche Aussage ist ein meisterhafter erzählerischer Kunstgriff. Warum fragt er, wessen Stimme das ist (V. 16)? Ist es zu dunkel, um sie zu sehen? Die Sprache erinnert stark an Isaak, der schwach war und seinen Sohn nicht erkennen konnte (Gen 27,18, 32). Soll die Frage, die Saul in den Mund gelegt wird, an Isaak erinnern? Ist Saul, wie Isaak, alt und schwächlich? Hat Saul Angst, überlistet zu werden? Hat Saul es mit einem David zu tun, der so schnell, listig und prinzipienlos ist wie der verstohlene Jakob? Ist David im Begriff, Saul in dieser gewaltsamen Begegnung etwas wegzunehmen, das ihm nicht zusteht, so wie Jakob es von Isaak und Esau wegnahm?

Auch Sauls Antwort an David wird in einer juristischen Sprache gehalten sein, die den von David gestellten Fragen angemessen ist. Zu Beginn ist Saul jedoch noch nicht zu einer solch harten, präzisen Rede bereit. Zunächst erkennt er David an und anerkennt ihre besondere Beziehung. Bevor er darüber hinausgehen kann, bricht er in Verletzlichkeit und Pathos zusammen: „Saul erhob seine Stimme und weinte“ (V. 16). Er weint, weil er sich jetzt dem stellen muss, was er schon lange weiß. Er weint, weil er sich nun der Wahrheit stellen muss, der er bisher ausgewichen ist. In dem Moment, in dem er sich der Realität Davids stellt, muss sich Saul der Wahrheit seines eigenen Lebens stellen.

Kein Wunder, dass er weinen muss, denn er muss nicht nur anerkennen, dass David gewinnen und er verlieren wird, sondern auch, dass sein ganzes Bemühen, treu, wirksam und mächtig und sogar „gerecht“ zu sein, gescheitert ist. Er ist gescheitert am „bösen Geist“ und an der Entschlossenheit Gottes, an der List Davids – und daran, dass Saul letztlich nicht der sein konnte, der er so sehr sein wollte. Hier gibt es sowohl eine Tragödie als auch ein Scheitern. Unter beidem, der Tragödie und dem Scheitern, liegt das untröstliche, unartikulierte, ungemessene Pathos eines leer gewordenen Lebens. Saul muss weinen. Er muss vor Gott und vor David weinen. Wenn er geweint hat, dann kann er sprechen. Es ist sein ehrliches, hemmungs­loses Weinen, das es ihm ermöglicht, sich der nun unwiderstehlichen und offensichtlichen Zukunft zu ergeben, die David ist. Aus dem Weinen heraus kann Saul nun die geforderte juristische Sprache aufgreifen. Der Erzähler hat Saul nicht gedrängt. Er hat Saul Zeit gegeben, damit er sprechen kann.

Saul bleibt bei der Sprache, mit der David das Gespräch begonnen hat. David hat behauptet, er sei nicht böse (schuldig; V. 13). Jetzt räumt Saul ein: „Du bist gerechter (unschuldiger) als ich; denn du hast mir Gutes vergolten, während ich dir Böses vergolten habe“ (V. 17). Dies ist die Stimme eines geschlagenen Mannes, der aus dem Kampf aussteigen will. Saul ist ein „böser Mann“ (so sagt er selbst), während David ein guter Mann ist. Das Bekenntnis ist von Pathos erfüllt. Das Urteil Sauls über sich selbst fasst die gesamte Saul-David-Erzählung zusammen. Wie kam es dazu, dass David Saul ablöste? Man könnte Saul als eine tragische Figur betrachten (Gunn 1980; Humphreys).

Der Erzähler beharrt jedoch auf einer moralischen Komponente in der Wendung der Dinge. Es geschah aus Gründen des „Guten“ und des „Bösen“. Wie ist es dazu gekommen, dass Saul zum Bösen geworden ist? War Saul vom Schicksal bestimmt? War es Gottes Wille, dass Saul so handeln sollte? War es unvermeidlich angesichts von David, der immer stärker wurde? Sauls innere Debatte über die Konkretheit von Gut und Böse in dieser Begegnung kommt schließlich zu dem Schluss, für den der Erzähler so lange gekämpft hat: David hat ein Recht auf das „Gute“. Selbst der Mund Sauls räumt ein, dass David „Gutes“ zukommen muss (V. 19).

In Vers 20 spricht Saul die Worte aus, auf die der Erzähler gewartet hat: „Ich weiß.“ In 23,17 hatte Jonatan David berichtet: „Auch mein Vater Saul weiß das.“ Aber wir hatten nur Jonatans Wort dafür. Jetzt haben wir die Schlussfolgerung aus Sauls eigenem Mund. Wir haben die ganze Zeit über Davids sicheren Sieg gewusst. Der Erzähler und Jonathan haben es gewusst. Das gemeinsam geteilte Wissen über Davids Zukunft bedeutet nichts, wenn Saul es nicht weiß. Solange Saul das Recht Davids auf die Zukunft nicht kennt und anerkennt, werden die Spannungen, der Konflikt und die Unruhe in Israel nie aufhören. Wenn Saul das nicht anerkennt, können die alten Hoffnungen des gescheiterten Israels noch sehr lange ein zerstörerisches Nachhutgefecht führen. Selbst in seinem Scheitern hat Saul es in der Hand, die Verwirklichung des verheißenen Königreichs Davids zu verhindern, JHWHs Entschluss über Israels Zukunft zu durchkreuzen. Aber Saul hat aufrichtig geweint, und nun braucht er nicht mehr vor der Realität von Gottes Zukunft zurückzuschrecken, die ihn ausschließen wird. Schließlich sagt Saul in einem verzweifelten Moment der Wahrheit: „Du sollst König sein“ (V. 20). Der hebräische Satz enthält zur Betonung einen absoluten Infinitiv („du sollst König sein“) und sollte mit „Du sollst tatsächlich König sein“ wiedergegeben werden. Saul ist nun der letzte, der David die Erlaubnis erteilt. Saul weiß, dass nichts die kommende Herrschaft Davids aufhalten kann.

Dann kommt Saul endlich zu seinem Appell: „Und nun“ (V. 21). (Die Worte werden in der RSV weggelassen.) Saul kommt schließlich zu der kleinen Sache, die ihn sehr beschäftigt. Saul hat seinen Anspruch auf den Thron aufgegeben. Sein magerer Appell an David ist, dass David meinen Samen und meinen Namen nicht „ausrotten“ wird (V. 21). Das Verb „ausrotten“ ist weiterhin in Gebrauch. Saul wiederholt die Bedenken, die schon Jonatan geäußert hatte (20,14-16). Saul will seine Verluste begrenzen. Das Verb „abschneiden“ ist das Verb, das in den Versen 4-5 in Bezug auf den Rock verwendet wird. Saul bittet: Schneide mir nicht die Zukunft ab, so wie du mir den Rock abgeschnitten hast. Saul macht sich keine Illusionen mehr darüber, König zu sein.

Nichtsdestotrotz ist Saul immer noch das Oberhaupt einer Landfamilie in Benjamin (2. Sam. 9,9-10; 16,4; 19,24-30). Saul (und seine Nachkommen) haben immer noch Anspruch auf einen angesehenen Platz im öffentlichen Leben von Benjamin. Saul kämpft mit der Frage, wie die Macht übertragen werden kann: Wie kann man die Macht abgeben und dennoch in der Öffentlichkeit überleben? Das ist eine Frage, die sich in jeder rücksichtslosen Gesellschaft stellt, in der man gewinnen oder verschwinden muss. Saul weiß, dass er den Thron verloren hat. Er weiß nicht, ob er und seine Familie auch für die Geschichte verloren sind. Muss er aus dem zukünftigen Leben Israels verschwinden? Wird David so rücksichtslos sein? Saul bleibt nichts anderes übrig, als sich und seine Familie dem treuen Schwur Davids anzuvertrauen. Die Situation von Saul (und Jonatans Erben) ist bedrohlich, denn neue Herrscher leben in der Angst, dass die alten besiegt werden.

Die Schilderung von Davids Antwort ist kurz und knapp: „David schwor Saul“ (V. 22a). Der Erzähler geht nicht näher darauf ein. Er verlangt nicht, dass David wortgewaltig wird. David antwortet nicht auf das große, wortgewaltige Zugeständnis, das Saul gerade gemacht hat. „Gott schreibt keine Dankesbriefe“. Saul hat jedoch das Versprechen erhalten, das er brauch­te, auch wenn es minimal und untertrieben ist. Saul hat von David alles bekommen, was er erwarten kann. Saul geht in sein Haus, nachdem er im Austausch für ein knappes Versprechen alles zugegeben hat (V. 22b). David und seine Männer bleiben in den Felsen, wo es sicher ist, denn David ist noch nicht als König eingesetzt (V. 22c). In seinem knappen Versprechen an Saul hat David nichts Neues zugestanden. Er wiederholte nur, was er bereits Jonatan geschworen hatte (20,14-17).

David hat gewonnen, und zwar viel mehr, als er verlangt hat. In seiner Rede an Saul bat er nur darum, dass die Verfolgung beendet wird. Er bat darum, von Sauls Anschuldigung des Verrats freigesprochen zu werden. Er bat darum, gerechtfertigt zu werden, für rechtschaffen befunden zu werden. Aber er hat Saul nie um die Krone gebeten. Er bittet Saul nicht, abzudanken oder ihn gar als möglichen Nachfolger zu benennen. David wird keine aktive Rolle bei der Sicherung der Krone übernehmen. Er wird nicht nach der Krone greifen, sondern sie nur als Geschenk erhalten (Gunn 1975).

Die Erzählung berichtet von der langsamen, stetigen Verwirklichung von Gottes Plan. David braucht diesen Prozess nicht zu überstürzen, aber er braucht auch nicht daran zu zweifeln. Saul kann die Entschlossenheit Gottes nicht vereiteln. David ist ein Mann auf dem Weg zur Macht, der von Gott bestimmt ist. Geschichte ist keine Abfolge von zufälligen Ereignissen. Geschichte ist die Verwirklichung einer Verheißung, die „erniedrigt und erhöht“, die „arm macht und reich“, die „erniedrigt und erhöht“ (1. Sam. 2,6-7). Saul wird nun erniedrigt, verarmt, zu Fall gebracht. Die Erzählung verweilt jedoch nicht bei Saul. Sie richtet ihr Augenmerk auf den, der zum Herrschen bestimmt ist. David ist ein rechtschaffener Mann. David wird nicht versagen. Davids Gnade gegenüber Saul, sowohl in der Episode selbst als auch in dem Schwur für die Zukunft, kostet David nichts von seiner sicheren Zukunft. Die Zuhörer der Geschichte haben die tiefe Überzeugung, dass in Davids sicherer Zukunft auch ihre eigene sichere Zukunft liegt. Da David auf dem Weg zum Thron ist, werden die Zuhörer mit ihm gehen – bis zum Ende der Erzählung.

Quelle: Walter Brueggemann, First and Second Samuel, INTERPRETATION. A Bible Commentary for Teaching and Preaching, Louisville, Kentucky: John Knox Press, 1990.


[1] In den englischsprachigen Bibeln wird in Kapitel 24 der Vers 1 aus der hebräischen Bibel als Vers 29 dem Kapitel 23 zugeordnet. Somit verschiebt sich die Verszählung in der Kommentierung jeweils um einen Vers gegenüber dem deutschsprachigen Bibeltext nach vorne: Vers 2 im Deutschen entspricht Vers 1 im Englischen usw.

Hier der Text als pdf.

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