Von Jochen Teuffel
1. Definitionsversuche
Was ist Kirchengeschichte? Diese Frage lässt sich stellen. Ich möchte jedoch keine vorschnelle Antwort geben, sondern eine weitere Frage anschließen: Welcher Status kommt der Frage nach der Kirchengeschichte zu? Meine Nachfrage ergibt sich aus der Statuslehre der Rhetorik. Fragen sind nicht x-beliebig gehalten, sie haben jeweils eine eigene Ausrichtung. Je nach Status einer Frage kann das Erfragte eine bestimmte Folge haben. „Was ist Kirchengeschichte?“ Dieser Frage kommt der Begrenzungsstand (status finitionis) zu[1], es geht dabei um eine Begriffsbestimmung. Der Begriff „Kirchengeschichte“ umfasst in seiner Bedeutung nicht alles Mögliche, sondern lässt sich definieren, also begrenzen. Die Begriffsdefinition besteht in einem oder mehreren thetischen Sätzen, die üblicherweise in einem Wörterbuch enthalten sind. Dem „Wörterbuch des Christentums“ zufolge bezeichnet Kirchengeschichte „die historische Entwicklung der christlichen Kirchen und zugleich die diejenige theologische Fachrichtung, die deren historische Erforschung betreibt und sich dabei historischer Methoden bedient.“[2]
Definitionen, die in Wörterbüchern aufgeführt sind, werden selten bestritten. Anders sieht es jedoch mit Definitionen aus, die in Aufsätzen oder Monographien aufgestellt werden. Ich nenne eine Reihe von Definitionen der Kirchengeschichte, die gegenwärtig als nicht konsensfähig diskutiert werden. So hat Gerhard Ebeling bekanntlich in seiner Tübinger Antrittsvorlesung die Kirchengeschichte „als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“ bestimmt[3]. Ähnlich wie Ebeling markiert Dietrich Ritschl als Gegenstand der Kirchengeschichte „die Erforschung der Geschichte der Träger der alt- und neutestamentlichen Sichtweisen“[4]. Martin Schmidt definiert die Kirchengeschichte als „Geschichte der Kirche Jesu Christi in ihrer Lebensbewegung“, deren Motor das Gotteswort ist[5]. Wolfhart Pannenberg gilt die Kirchengeschichte als „Religionsgeschichte des Christentums“[6], wobei diese Religion „durch den Glauben an einen in der Geschichte handelnden Gott konstituiert ist“[7]. In jüngster Zeit hat Albrecht Beutel eine sehr weit gefasste Definition getroffen. Er versteht die Kirchengeschichte „als die Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen“[8].
Ich möchte die unterschiedlichen Definitionen nicht in ihrem jeweiligen konzeptionellen Zusammenhang erörtern. Stattdessen möchte ich verschiedene subjektbezogene Einordnungen der Kirchengeschichte anzeigen.
a) Vor allem im katholischen Kontext wird eine theologische Bestimmung vorgenommen, indem die Kirchengeschichte als historische Ekklesiologie bestimmt wird. Die Kirchengeschichte beschreibt den Weg der Kirche als corpus Christi mysticum durch die Zeiten.
b) Im evangelischen Kontext ist hingegen mit der Betonung der Kirche als creatura verbi als Subjekt der Kirchengeschichte das Gotteswort bzw. die Heilige Schrift benannt worden, wie sie in unterschiedlichen Zeiten rezipiert worden ist.
c) Wo das neuzeitliche Reflexionsschema der Subjektivität nachvollzogen wird, gilt als Subjekt der Kirchengeschichte das Christentum als Religion, wie es sich dem Individuum oder der Gesellschaft erschließt, bestimmt.
d) Profanwissenschaftlich kann als Subjekt die Kirche als religiöse Organisation bzw. Institution innerhalb der Gesellschaft bestimmt werden[9].
2. Die Fragwürdigkeit einer „objektiven“ Geschichte
Auch wenn der Gegenstand der Kirchengeschichte unterschiedlich bestimmt wird, so sind sich die verschiedenen Autoren im Hinblick auf die Methode der Kirchengeschichtsschreibung einig: Der Gegenstand kann muss mit der allgemein geltenden historischen Methodik untersucht werden, die da wären „(a) kritische Untersuchung der literarischen wie monumentalen Quellen; (b) Pragmatisch-genetische Sicht der Ereignisse und ganzer Bewegungen; (c) Objektive, tendenzfreie Beurteilung der Tatsachen, der kausalen Zusammenhänge und treibenden Motive.“[10] Die Berufung auf die historische Methodik geschieht mit dem Anspruch, dass die akademische Kirchengeschichtsschreibung wissenschaftliche, also methodisch nachvollziehbare Forschung zu betreiben hat. Dieser Anspruch korrespondiert mit dem Verständnis von Geschichte als einem zeitgebundenen Geschehenszusammenhang bzw. soziokulturellen Entwicklungsprozess, den es zu erforschen gilt.
Meine Anfrage an die verschiedenen Definitionen von Kirchengeschichte lautet nun: Gibt es überhaupt eine Kirchengeschichte als zeitlichen Geschehenszusammenhang, der gegenwärtig erforscht werden kann? Müsste man nicht an Stelle der einen Kirchengeschichte nicht von vielen Kirchengeschichten sprechen? Bei dieser Anfrage bin ich durch das rhetorische Geschichtskonzept inspiriert worden. In der Rhetorik gilt die Geschichte (bzw. die Historie) als Erzählung geschehener Sachverhalte. Die Betonung liegt dabei auf der Erzählung. So bestimmt Isidor von Sevilla im ersten Buch seiner Etymologie die Geschichte folgendermaßen: „Die Geschichte ist eine Erzählung der Tatsache, durch welche diejenigen Dinge, die in der Vergangenheit getan worden sind, erkannt werden.“[11]
In unserem gegenwärtigen Sprachgebrauch wird der Begriff der Geschichte doppeldeutig verwendet. Zum einen gilt die Geschichte ähnlich wie bei Isidor als „mündliche oder schriftliche, in einem logischen Handlungsablauf gebrachte Schilderung eines tatsächlichen oder erdachten Geschehens, Ereignisses“, zum anderen als „politischer, kultureller und gesellschaftlicher Werdegang, Entwicklungsprozess eines bestimmten geographischen oder kulturellen Bereiches“[12]. Man redet von Geschichte, der eine versteht darunter eine Erzählung von Geschehenem, der andere ein geschehener Entwicklungsprozess.
Reinhard Koselleck hat in seiner Begriffsgeschichte zur „Geschichte“ gezeigt, dass der „geschichtliche“ Geschichtsbegriff mit seinen Konnotationen von Fortschritt und zeitlicher Entwicklung erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgebildet worden ist[13]. Signifikant wird das „geschichtliche Geschichtskonzept“ in der Einführung des Kollektivsingular „die Geschichte“ um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Kollektivsingular wurde durch Umschreibungen wie ‚Geschichte an und für sich‘, ‚Geschichte an sich‘, ‚Geschichte selbst‘ oder ‚Geschichte überhaupt‘ hypostatisch markiert. Dadurch konnte der Begriff der Geschichte ohne ein ihm zugeordnetes Subjekt beobachtet werden. „Die Geschichte selbst wurde, sprachlich gewendet, zu ihrem eigenen Subjekt.“ Damit wird sie zum „Agens menschlichen Schicksals oder gesellschaftlichen Fortschritts“[14], das auch den Zeitaspekt einer prinzipiell offenen Zukunft beinhaltet. Im letzten Drittel des 18. Jahrhundert wird außerdem der Bedeutungsgehalt von ‚Historie‘ als Geschichtskunde vollständig vom Begriff der ‚Geschichte‘ aufgenommen, womit der „objektive“ Ereignis- und Handlungsbereich mit der „subjektiven“ Kunde bzw. Erzählung fusionierte[15]. „Die drei Ebenen: Sachverhalt, Darstellung und Wissenschaft davon wurden jetzt als ‚Geschichte‘ auf einen einzigen gemeinsamen Begriff gebracht. Es handelte sich, wenn der gesamte damalige Wortgebrauch berücksichtigt wird, um die Fusion des neuen Wirklichkeitsbegriffes von ‚Geschichte überhaupt‘ mit den Reflexionen, die diese Wirklichkeit überhaupt erst begreifen lehrte. ‚Geschichte‘ war, überspitzt formuliert, eine Art transzendentaler Kategorie, die auf die Bedingung der Möglichkeit von Geschichten zielte.“[16]
Wenn gegenwärtig von der Geschichte als erforschbarem, soziokulturellen Geschehenszusammenhang die Rede ist, dann ist dieses Geschichtsverständnis ein relativ junges Konstrukt. Bei den antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren steht hinter deren Geschichts- bzw. Historienbegriff das rhetorische Verständnis[17]. Ich halte es für problematisch, den geschichtlichen Geschichtsbegriff in die Vergangenheit zu projizieren, also beispielsweise von einem „Geschichtsverständnis“ des Christentums zu sprechen. In der Bibel ist von Geschichten im Sinne von Erzählungen geschehener Dinge, niemals aber von der Geschichte als Geschehenszusammenhang die Rede. Darauf hat zu Recht James Barr hingewiesen[18]. Der griechische Begriff „historia“ findet sich im Neuen Testament überhaupt nicht, in der Septuaginta wird er nur in den deuterokanonischen Schriften (Est 8,12g; 2Makk 2,24.30.32)[19] bzw. in den Apokryphen (4 Makk 3,19) jeweils im rhetorischen Sinne verwendet. Anstelle der Geschichte als chronologisierten Geschehenszusammenhang ist von der Weltzeit, dem aion bzw. saeculum (haolam), die Rede. Menschen finden sich also nicht in einer sich selbst fortschreibenden Geschichte, sondern in dieser Weltzeit (haolam hase/ho aion houtos) wieder, in Erwartung der künftigen Weltzeit(en) (ho aion mellon, ho aion ho erchomenos). Nur wo man selbst einen „geschichtlichen“ Geschichtsbegriff investiert, kann man hierbei von einem apokalyptischen Geschichtsverständnis in der Bibel sprechen.
3. Gemachte Geschichten
Ich halte es für angebracht, im theologischen Sprachgebrauch auf den Kollektivsingular „die Geschichte“ und deren Derivate wie „geschichtlich“ oder „Geschichtlichkeit“ zu verzichten. Als Grund hierfür nenne ich nicht nur die fehlende Entsprechung zur gelesenen SCHRIFT sondern auch die Fiktivität einer (Universal)-Geschichte. Es gibt keinen chronologisierten Geschehenszusammenhang, der erforscht werden kann. Ver-gangene Ereignisse, Geschehnisse bzw. Tatsachen sind niemanden gegenwärtig. Im gegenwärtigen Rückblick kann keine unmittelbare Einsicht in das Geschehene gewonnen werden. Von Rankes bekanntes (im Anschluss an Thukydides gebildetes) Diktum, die Historie müsse zeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“, übersieht den Status der Ver-gangenheit. Tatsachen (res gestae) sind immer beobachtungs- bzw. erzählabhängig gehalten, da sie für sich nicht bestehen können. Sie sind eben keine Substanzen. Die Gesamtheit der Tatsachen lässt sich nicht halten, sie ist eine Illusion, schließlich ist das Geschehene geschehen ist, gehört der Vergangenheit an und obliegt dem Vergessen. Nur die eigene, augenzeuglich (autoptisch) gehaltene Erinnerung oder die Geschichte (historia) als Erzählung geschehener Dinge in mündlicher oder schriftlicher Form, bewahren vor dem Vergessen. Sie ermöglichen eine anamnetische Vergegenwärtigung von Geschehenem, ohne dass das Geschehnis noch einmal erlebt bzw. wieder zusammengefügt, rekonstruiert wird. Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Experiment lassen sich vergangene Tat-Sachen nicht reproduktiv vergegenwärtigen. Was nicht erinnert oder erzählt wird, gerät bei den Menschen in die endgültige Vergessenheit, löst sich ein für alle Mal auf. In das bereits Vergessene kann kein Einblick mehr gewonnen werden, es lassen sich nur noch Vermutungen darüber anstelle, was geschehen sein könnte; niemand jedoch nachträglich vergangene Tatsachen neu schaffen.
Wir haben es immer nur mit überlieferten, geschriebenen Geschichten zu tun, können diese niemals auf eine geschehene Geschichte hintergehen. Um vergangene Geschehnisse neu erzählen zu können, bleibt man an die Lektüre von Geschichten und anderer schriftlicher Zeugnisse gebunden[20]. Aus der Lektüre von Geschichten und deren selektiven Beurteilung schreibe ich eine neue Geschichte[21]. Dabei wird jedoch nicht eine vorgegebene Menge von zufällig überlieferten Ereignissen (Fakten) aneinandergereiht. Vielmehr werden unter einer selbstgewählten Plotstruktur bzw. Dramaturgie des Geschichtsschreibers die überlieferten Ereignisse in eine zeitliche Abfolge gebracht. Der Geschehenszusammenhang ist also nicht vorgegeben, sondern wird narrativ hergestellt. Die jeweilige Geschichte verdankt sich einer narrativen Konstruktion ihres Schreibers[22]. Durch unterschiedliche Plotstrukturen kann einer Ereignisfolge verschiedene Bedeutungen zugewiesen werden[23]. Geschichte wird gemacht, nicht etwa durch Staatsmänner, Feldherrn, Erfinder oder Reformer als deren Protagonisten, sondern durch Geschichtsschreiber, die in ihrer Geschichte die Plotstrukturen mit Rollenzuweisungen festlegen.
4. Das rhetorische Geschichtenkonzept
Historia magistra vitae, die Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens. Dieses Diktum Ciceros[24] formuliert eine historiographische Aufgabenstellung, die im 16. Jahrhundert vor allem in Italien als Kunstlehren, den artes historicae, entfaltet wurden[25]. So betont Viperano am Anfang seines Traktates „De Scribenda Historia Liber“, dass die Geschichte (historia) nicht die Tatsache (res gesta), sondern die Erzählung der Tatsache (narratio rei gestae) sei[26]. Ihm gilt die Geschichte „als die aufrichtige und einleuchtende Erzählung von Tatsachen, mit dem Zweck, den Umgang mit den Dingen zu lehren.“[27] Der Historiograph hat dazu analog der rhetorischen inventio, der Auffindung des Redestoffes, eine Auswahl (delectus) aus dem überlieferten Material vorzunehmen[28]. Kriterien hierfür sind die Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit der überlieferten Tatsachen[29] sowie deren Eignung für die jeweilige Lehrabsicht. Bei der Anordnung (dispositio) der ausgewählten Tatsachen ist darauf zu achten, dass daraus eine nachvollziehbare, plausible Dramaturgie menschlichen Handelns hinsichtlich Motivation und zeitlicher Abfolge erwächst[30]. Aus dieser Darstellung des Geschehenen sollen die Leser exemplarisch für die Handlungsmöglichkeiten ihres eigenes Leben lernen können: „Der Geschichtsschreiber (historicus) nimmt sich nicht vor, durch die Rede zu erfreuen, was dem Redner und dem Poet aufgetragen ist, sondern Tatsachen (res gestae) zu erzählen, die Beispiele (exempla) des Handelns sein können.“[31]
5. Geschichten, die im Raum der Kirche erzählt werden.
Geschichtenerzählung steht im Dienst der menschlichen Praxis. Diese rhetorische Historiographiekonzept lässt sich auch auf die Kirchengeschichtsschreibung übertragen. Dies setzt jedoch voraus, dass man die Kirchengeschichte als objektiven Geschehenszusammenhang, der sukzessive immer differenzierter erforscht werden kann, aufgibt. Damit wird die Möglichkeit einer Chronologie, beginnend mit dem sogenannten „Urchristentum“ bis hin zur Gegenwart nicht in Abrede gestellt. Diese Kirchenchronologie stellt jedoch nur eine unter vielen möglichen Kirchengeschichten dar. Sie ist keine Meta-Historie, die alle anderen Geschichten in sich aufnimmt. Keine kirchengeschichtliche Seminarbibliothek lässt sich in einem Buch vereinigen. Die Chronologie, die gemeinhin als „die Kirchengeschichte“ firmiert, ist nur eine der Gattungen der Kirchengeschichtsschreibung.
Ich plädiere dafür, auf eine Gegenstandsbestimmung der „Kirchengeschichte“ zu verzichten und stattdessen von Kirchengeschichten zu sprechen. Diese Kirchengeschichten werden für das Leben der Kirche, für die kirchliche Praxis der Gegenwart geschrieben. Sie sind also all die Geschichten, die im Raum der Kirche erzählt und gehört und gelesen werden (ähnlich Hans Reinhard Seeliger, der von einem Kommunikationszusammenhang Kirche spricht). Dabei ist es nicht entscheidend, ob diese Kirchengeschichten von Profanhistorikern oder von Theologen geschrieben werden. Diese Geschichten müssen keine Monumentalgeschichten sein, sondern können ganz unterschiedliche Aspekte umfassen, soziale, ökonomische, politische, juristische, institutionelle, kultische/liturgische, theologische, religiöse und personenbezogene. Unter diesen Gesichtspunkten wird eine Kirchengeschichte als (pragmatische) Humangeschichte (historia humana) und nicht als göttliche Geschichte (historia divina) bzw. heilige Geschichte (historia sacra) erzählt. Göttliche Handlungen werden also nicht aufgenommen, eine Kirchengeschichte ist keine profetisch-anamnetische Gottesrede/Gottesgeschichte.
6. Warum Kirchengeschichten erzählen
Wenn Kirchengeschichten nicht durch den Gegenstand, sondern den Ort ihrer Erzählung definiert sind, dann stellt sich die Frage nach deren Nutzen bzw. Zweck. Ich möchte im folgenden vier verschiedene Zwecke benennen. Diese Zwecke wiederum lassen sich mit vier Weisen des historischen Erzählens verbinden, die ich dem Aufsatz „Die vier Typen des historischen Erzählens“ von Jörn Rüsen entnommen habe[32].
a) Kirchengeschichten als Identitätsstiftung für die ecclesia particularis
Wer zu erzählen weiß, woher er kommt, kann sagen, wer er ist[33]. Für die Wahrnehmung der eigenen Kirchenorganisation spielt die Frage der Herkunft eine wesentliche Rolle. Von daher haben gerade Reformationsgeschichten für die evangelische Kirche eine besondere, identitätsstiftende Bedeutung. Realisiert wird diese Identitätsstiftung über ein traditionales Erzählen. Rüsen schreibt dazu: „Traditionales Erzählen formiert sich in Geschichten, die den Ursprung von Lebensumständen und – verhältnissen so erinnern, dass die von den Umständen und Verhältnissen Betroffenen, die Autoren und Adressaten der Geschichten, ihre aktuelle Zeiterfahrungen als Impulse zur Erneuerung dieses Ursprunges verarbeiten und demgemäß Zukunft als dessen Wiederkehr erwarten und absichtsvoll intendieren können. Solche Geschichten orientieren Handeln im Fluss der Zeit, indem sie den Ursprung der (institutionalisierten) Handlungsregelungen als Sinnstiftung erneuern und bekräftigen. Sie stellen Kontinuität als Dauer dieses Ursprunges vor. Sie realisieren damit ein Muster menschlicher Identitätsbildung, in dem Selbstverständnisse von Handlungssubjekte als ständig sich erneuernde, als immer gleiche, als im Zeitfluss sich gleichsam unbewegt perpetuierende tradiert werden.
Als ein Beispiel für ein traditionales Erzählen, das die eigene Kirchenorganisation in ihrer Herkunft zu bestärken (konfirmieren) sucht, nenne ich die Monographie von Claus-Jürgen Roepke, „Die Protestanten in Bayern“. Der damalige Landesbischof Hermann Dietzfelbinger hat in einem Geleitwort zu diesem Buch folgendes geschrieben: „Wie für die Kirche im Ganzen, so gilt dies auch für die Geschichte einer Landeskirche. Was sie heute ist und welches besondere Profil sie trägt, ist nur aus der Geschichte zu verstehen, von der sie herkommt. Wie jeder einzelne Mensch geprägt ist durch seine Biographie, so ist auch eine Landeskirche geformt durch ihre besondere Geschichte. Und wie einer nicht ohne inneren Schaden einzelne Abschnitte seiner Lebensgeschichte verleugnen kann, so wären wir auch schlecht beraten, wenn wir aus der Geschichte einer Kirche ganze Wegstrecken ausblenden, uns nicht zu ihnen bekennen wollten.“[34]
b) Kirchengeschichten als Exempla, aus denen gelernt werden kann.
Der Nutzen des Exemplarischen als gegenwärtige Handlungsorientierung ist in der rhetorischen Historiographie unter dem Diktum historia magistra vitae betont worden. So stellt Rüsen das exemplarische Erzählen als zweiten Typ des historischen Erzählens vor: „Das exemplarische Erzählen aktualisiert Erinnerungen als empirische Konkretisierungen überzeitlich geltender Handlungsregeln und befähigt seine Adressaten dazu, konkrete Gegenwartserfahrungen unter eben diese Regeln zu bringen und sie dem Zugriff ihres Handelns zu erschließen.“[35] Das exemplarische Erzählen hat in der Kirche seine besondere Bedeutung in den Lebensbeschreibungen von Heiligen, Märtyrern und Bekennern, die Orientierung für das eigene Christsein in der Gegenwart ermöglichen. So ist es ja auch im Artikel 21 der Confessio Augustana festgehalten worden: „Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf“[36]. Als ein Beispiel solchen exemplarischen Erzählens innerhalb der Kirchen nenne ich die Biographie Dietrich Bonhoeffers von Eberhard Bethge.
c) Kritische Kirchengeschichten gegen die Vergötzung der ecclesia visibilis
Innerhalb der Kirchenorganisation wird des Öfteren der Gottesname für menschliche Handlungen beansprucht. Die vermeintliche Korrespondenz mit dem göttlichen Willen kann jedoch dazu führen, dass sich die Kirche dem Hören auf Gottes Wort verschließt und sich selbst vergötzt. Eine Kirchengeschichte, die Motivationen und ideologische Abhängigkeiten kirchlicher Handlungs- und Entscheidungsträger beschreibt, immunisiert gegen Kirchenvergötzung und sensibilisiert für falsche Prophetie. Die adäquaten Form des historischen Erzählens dazu ist das kritische Erzählen: „Kritisches Erzählen formiert sich in Geschichten, die historische Erfahrungen gegen Traditionen und (normative) Handlungsregeln richten, so dass diese ihre Kraft zur Handlungsorientierung verlieren und durch andere Orientierungen ersetzt werden müssen.“[37] „Diese Erzählweise dominiert in den Geschichten, die von der Frage geleitet werden, ob es wirklich so war, wie bisher behauptet wurde, oder auch von der Frage, ob man bestimmte Tatsachen der Vergangenheit wirklich so deuten kann, wie bisher versucht wurde. Sie ist unerlässlich, wenn Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart gegen Deutungsmuster der historischen Erfahrung gekehrt werden, die ihnen nicht mehr entsprechen, damit neue Muster an ihre Stelle treten können.“[38]
Kritische Kirchengeschichten können mit besonderer Ausrichtung auf die jeweilige Institution, die Frömmigkeit oder gesellschaftlichen Bedingungen geschrieben werden. Als Beispiel nenne ich hierfür Ulrich Schindler-Joppien, der am Beispiel der Amtsenthebung des Gunzenhausener Dekans Heinrich Stephani eine Gegengeschichte zu den Hagiographien der lutherischen Erweckungsbewegung in Bayern erzählt[39].
d) Kirchengeschichte gegen das Verhängnis der Gegenwart
Kirche allein in ihrer Gegenwärtigkeit wahrzunehmen, setzt sie in einen alternativlosen Zustand, so und nicht anders. Kirchengeschichten können erzählen, wie es zur gegenwärtigen Situation gekommen ist und zeigen damit Kontingenz an. Dadurch werden Veränderungen vorstellbar. Rüsen schreibt über das genetische Erzählen: „Genetisches Erzählen formiert sich in Geschichten, die Strukturveränderungen eines Systems als notwendige Bedingung dafür erinnern, dass es sich im Zeitfluss auf Dauer stellen kann. Zeitliche Veränderungen werden als Modi der Kontinuierung selbst interpretiert; der Schrecken anders zu werden, wird als Chance sichtbar gemacht, derjenige zu werden, der man immer schon gewesen sein wollte.“[40]
Wenn beispielsweise der Werdegang der evangelischen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert erzählt wird, dann kann damit einer möglichen Resignation über den Zustand der „Volkskirche“ begegnet werden.
[1] Vgl. Quintilian, Institutio oratoria VII,3,1-36; Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 3. A., Stuttgart 1990, 71-80.
[2] Wörterbuch des Christentums, hrsg. v. Volker Drehsen u.a., Gütersloh-Zürich 1988, 618. Ähnlich Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Bd. 11, S. 340.
[3] Vgl. Ebeling, Kirchengeschichte als Auslegung der Heiligen Schrift, in: Ders., Wort Gottes und Tradition, Göttingen 1964, 9-27.
[4] Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, 2. A., München 1988, 93.
[5] Martin Schmidt, Art.: Kirchengeschichte I, in: 3RGG, Bd. 3, Sp. 1422.
[6] Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, 395.
[7] Pannenberg, a.a.O., 398.
[8] Albrecht Beutel, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte, ZThK 94, 1997, 84-110, hier 88.
[9] Vgl. Rudolf von Thadden, Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in: Ders., Weltliche Kirchengeschichte. Ausgewählte Aufsätze, 1989, S. 11-28.
[10] Georg Denzler/Carl Andresen, Wörterbuch der Kirchengeschichte, München, 4. A. 1993, 316.
[11] Isidor von Sevilla, Etymologiae I,41,1: „Historia est narratio rei gestae, per quam es, quae in praeterito facta sunt, dinoscuntur.“
[12] Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 2. A., Mannheim 1989, 596.
[13] Vgl. Koselleck, Art.: Geschichte V.-VII., in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart, 647-717 bzw. Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, 38-66.
[14] Koselleck, Geschichte, 650.
[15] Was auch schon Hegel feststellte: „Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl und subjektive Seite und bedeutet ebensowohl die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst.“ (Die Vernunft in der Geschichte, Bd. 1 der Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. v. Johannes Hofmeister, 5. A., Hamburg 1955, 164)
[16] Koselleck, Geschichte, 657.
[17] Auch wenn Augustin als Kronzeuge eines christlichen Geschichtskonzeptes herangezogen wird, entspricht seine Bestimmung der historia in De doctrina christiana (II,28,42-44) dem rhetorischen Geschichtenkonzept.
[18] James Barr, The concepts of history and revelation, in: Ders., Old an New in Interpretation. A Study of the Two Testaments, London 1966, 65-102.
[19] In 2 Makk 2,14-32 reflektiert der Verfasser über die Aufgabe des Geschichtenschreibens.
[20] Auch die Archäologie liefert keine „geschichtliche Daten“, sondern nur Indizien für die Plausibilität der eigenen Erzählung.
[21] Nur für eine „Zeitgeschichte“ kann neben der Lektüre von Geschichten auf Augenzeugenbefragungen oder eigene Erinnerung zurückgegriffen werden.
[22] Vgl. dazu Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1974; Hayden White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994; Hans Robert Jauss, Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte, in: Reinhard Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, 415-451.
[23] Als Beispiel könnte hier auf die konfessionell geprägte Reformationsgeschichtsschreibung verwiesen werden.
[24] Cicero, De oratore 2,9,36. Vgl. dazu Reinhard Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: Ders, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, 38-66.
[25] Vgl. dazu Eckhard Kessler, Theoretiker humanistischer Geschichtsschreibung. Nachdruck exemplarischer Texte aus dem 16. Jahrhundert, München 1971; Ders., Das rhetorische Modell der Historiographie, in: Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörg Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, 37-85.
[26] Giovanni Antonio Viperano, De Scribenda Historia Liber, Antwerpen 1569, Kap. I, S. 12.
[27] Viperano, Kap. I, S. 13: „(historia) sit rerum gestarum ad docendum usum rerum syncera illustrisque narratio“.
[28] Vgl. Viperano, Kap. VI, S. 26-30.
[29] Vgl. Viperano, Kap. X, S. 42.
[30] Vgl. Viperano, Kap. VII-VIII, S. 31-37.
[31] Viperano, Kap II, S. 16. Vgl. Kap. I, S. 13f; Kap II, S. 15; Kap III, S. 17-22. Luther hat in diesem Sinne den Regenten Geschichten anempfohlen, wenn er in seinem Sermon von den guten Werken schreibt: „Darum wäre es für die Herrschaften das Allernützlichste, wenn sie von Jugend auf die Geschichten sowohl der heiligen als auch der heidnischen Bücher lesen würden oder sich vorlesen ließen. Darin fänden sie mehr Vorbilder und Kenntnisse für das Regieren als in allen Rechtsbüchern. So haben es, wie man liest, die Könige vom Perserland gemacht (Ester 6,1f). Denn Vorbilder und Geschichten geben und lehren mehr, als die Gesetze und das Recht; dort lehrt die gewisse Erfahrung, hier lehren die unbewährten, ungewissen Worte.“ (Calwer Luther-Ausgabe 3, München-Hamburg 1965, 196)
[32] Jörn Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Koselleck/Lutz/Rüsen, Formen der Geschichtsschreibung, 514-605.
[33] Vgl. Dietrich Ritschl, »Story« als Rohmaterial der Theologie.
[34] Claus-Jürgen Roepke, Die Protestanten in Bayern, München 1972, S. 9.
[35] Rüsen, a.a.O., 547.
[36] Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. A., Gütersloh 1991, 79.
[37] Rüsen, a.a.O., 551.
[38] Rüsen, a.a.O., 552.
[39] Das Neuluthertum und die Macht. Ideologiekritische Analysen zur Entstehungsgeschichte des lutherischen Konfessionalismus in Bayern, Stuttgart 1998.
[40] Rüsen, a.a.O., 555.