Joachim Matthes, Reflexionen auf den Begriff „Religion“: „Die vermeintliche Universalität unserer eigenen Kultur ist uns zum Habi­tus geworden. Dass eben dieser Habitus unsere Kompetenz für die ange­messene Wahrnehmung des Fremden empfindlich reduziert, wird uns nur selten bewusst.“

Reflexionen auf den Begriff „Religion“

Von Joachim Matthes

Vor einigen Jahren war ich beteiligt an einem Forschungsprojekt, das am Institute of South­east Asian Studies in Singapore durchgeführt wurde. In die­sem Projekt ging es um die Auswirkungen der schnell fortschreitenden Mo­dernisierung in Singapore auf die verschiedenen dort vertretenen Religions­gemeinschaften. Angeleitet wurde das Projekt von der Frage, ob sich unter dem Einfluss der Modernisierung der singaporeanischen Gesellschaft bei den verschiedenen Religionsgemeinschaften Phänomene ausmachen lassen, die als Säkularisierung verstanden werden können.

Zu dem Programm des Projekts gehörte auch eine Serie von Erzählinter­views. Unter unseren Erzählpartnern war eine damals knapp 22jährige Inde­rin, Studentin der computer science, kurz vor dem Abschluss. Sie stammte aus einer weit verzweigten Brahmanen-Familie mit reicher und lebendiger Hin­du-Überlieferung, die vor drei Generationen aus Tamil Nadu nach Singapo­re eingewandert war. Am Ende unseres Interviews – wir waren schon im Be­griff, das Tonbandgerät abzuschalten – schickte sie ihrer langen Erzählung noch eine Bemerkung nach, die ich hier zitieren möchte.

„Bitte beachten Sie, dass Sie mich gebeten haben, Ihnen zu erzählen, wie ich mich selbst als Hindu sehe. Ich habe nach bestem Wissen darauf geantwortet. Aber bit­te, verstehen Sie das alles nicht so, als hätte ich Ihnen etwas über meine „Religion“ ge­sagt. Ich habe hier in Singapur eine westliche Schulbildung erhalten und glaube, ich weiß ziemlich gut, wie Sie als Bewohner der westlichen Hemisphäre über Mensch und Gott und „Religion“ denken. Ich habe also so zu Ihnen gesprochen, als sei der Hinduis­mus meine „Religion“, damit Sie verstehen können, was ich meine. Wenn Sie selbst Hindu wären, hätte ich in ganz anderer Weise mit Ihnen geredet, und ich bin sicher, wir hätten beide gelacht bei dem Gedanken, dass „Hinduismus“ eine „Religion“ sein könnte oder dass so etwas wie „Hinduismus“ überhaupt existiert. Bitte vergessen Sie das nicht, wenn Sie all das Zeug analysie­ren, das Sie auf Ihren Tonbändern haben.“

Wir wollen hier über Religion in Japan (und Deutschland) reden, und es ist vielleicht nicht ganz abwegig anzunehmen, dass man in einem Gespräch mit einem Japaner eine ähnliche Aussage zu hören bekommen könnte wie die eben zitierte. Knapper und treffender als in ihr könnte kaum beschrie­ben werden, worum es in diesen einleitenden Reflexionen auf den Begriff ‚Religion‘ gehen soll. Ihr Ziel ist es, uns für alle weiteren Überlegungen zu vergegen­wärtigen, was wir denn eigentlich meinen, wenn wir über ‚Religion‘ sprechen, – welche offenen und verdeckten Bedeutungen schon immer mit­gedacht werden, wenn wir uns unter diesem Begriff der Wirklichkeit anzu­nähern anschicken, – zumal in einer vergleichenden Perspektive, die die Grenzen unserer eigenen kulturellen Überlieferung überschreitet.

Ich will versuchen, den Weg dieses sprachlichen Ausdrucks ‚Religion‘ durch die Geschichte des westlichen Denkens nachzuzeichnen, und dabei jene offenen und verdeckten Elemente herauspräparieren, die sich als Erbe vielfältiger Entwicklungen in jenem Bedeutungsgehalt abgelagert haben, den der sprachliche Ausdruck ‚Religion‘ heute für uns hat. Dies wird es uns, so hoffe ich, erleichtern, bei unseren weiteren Überlegungen zum Thema dieser Tagung einigen Denkfallen zu entgehen, die mit dieser Themenstel­lung bereits ausgelegt sind.

1. Religion und Konfession

Der etymologische Ursprung von ‚religio‘ ist nicht zuverlässig erklärt. Für eine Kulturgeschichte des Ausdrucks ‚Religion‘ ist seine Etymologie jedoch ohnehin nicht von entscheidender Bedeutung. Für sie genügt die Feststel­lung, daß es sich um eine Bezeichnung römischer Herkunft handelt.

Im vorchristlichen römischen Weltreich hatte ‚religio‘ einen weit gesteck­ten Bedeutungshorizont. Dieser Ausdruck beschränkte sich nicht, – ja er be­zog sich nicht einmal vorrangig auf das, was man den Kult der Bürger Roms nennen könnte. Vielmehr wurde er gebraucht als eine Sammelbezeichnung für die Vielfalt der im Vielvölkerreich Roms anzutreffenden Kulte, den ei­gentlich römischen eingeschlossen. Als eine, wie man sagen könnte, eher deskriptive Sammelbezeichnung kam diesem Ausdruck auch keinerlei sub­stantielle Bedeutung zu – etwa in dem Sinne, dass man von der Gegeben­heit einer allgemeinen Religion ausgegangen wäre – und die verschiedenen einzelnen Kulte, die im römischen Weltreich gelebt und befolgt wurden, als verschiedenartige, womöglich auch hierarchisch zu ordnende Ausprägungen einer solchen allgemeinen Religion begriffen hätte. ‚religio‘ – das war nicht mehr als ein Sammelname für eine Vielfalt vorkommender Kulte – weit ge­steckt in seiner Anwendungsmöglichkeit und zugleich geprägt durch einen gewissen Geist der Toleranz: Als ‚religio‘ wurde bezeichnet und geduldet, was es an Kulten alles so gab im weiten römischen Reich, – geduldet bis zu dem Punkt, an dem aus der Praxis einer ‚religio‘ eine Bestandsgefahrdung des Reiches zu erwachsen drohte.

In diesem Sinne wurde auch das Christentum als ‚religio‘ bezeichnet – geduldet freilich wurde es nur, bis sein eigener Anspruch, die einzig wahre ‚religio‘ zu sein, als Gefährdung erschien. Mit der Verchristlichung des rö­mischen Reiches seit dem vierten Jahrhundert setzte ein Vorgang ein, in dem Christentum und ‚religio‘ in eins gesetzt, miteinander identifiziert wurden. Die christlich-römische Welt saugte den Sammelnamen ‚religio‘ gleichsam in sich auf; was außerhalb dieser Welt an Vergleichbarem beob­achtbar war, wurde zugleich aus dem Definitionshof dieses Ausdrucks aus­geschlossen und erschien nun als etwas anderes – als Heidentum, Ungläu­bigkeit, – als etwas, dessen Verwandlung ins Eigene, Christliche, als Aufgabe angesehen wurde.

Mit diesem weitreichenden Bedeutungswandel, mit der Identifikation von Christentum und ‚religio‘, verlor der Ausdruck ‚religio‘ an Gewicht und Aussagekraft. Er verschwand nahezu aus dem Sprachgebrauch. Das Werk Thomas von Aquins spiegelt diesen Niedergang des sprachlichen Ausdrucks ‚religio‘ gleichsam auf seinem Tiefpunkt: Religion ist bei ihm Christentum, und so kann in der Theologie des Thomas von Aquin von ‚religio‘ auf ver­gleichsweise niederen Stufen der Begriffshierarchie zur Bestimmung von Einzelunterscheidungen die Rede sein, – etwa in der Unterscheidung zwi­schen moralischer Tugend und mönchischer ‚religio‘.

Erst mit der Reformation erwachte der sprachliche Ausdruck ‚religio‘, nun auch eingedeutscht, zu neuem Leben – und dies gleich in mehr als einer Hinsicht.

Die Identität mit der christlichen Welt durchaus wahrend, wurde ‚Religi­on‘ nun zunächst wiederbelebt als Synonym für ‚Konfession‘. In diesem Verständnis taucht der sprachliche Ausdruck ‚religio‘ im Augsburger Religions­frieden auf. Bald kommt jedoch eine weitere Bedeutungsvariante hinzu. Was sich zuvor gegenüber dem ja auch räumlich abgesonderten oströmischen Christentum noch nicht aufgedrängt hatte, wurde nun im Nebeneinander zweier Grundformen westlichen Christentums auf europäischem Boden ak­tuell: das Erfordernis einer überwölbenden Bezeichnung für beide. Es wur­de jetzt von christlicher Religion gesprochen als von dem, was das Wesen des Christentums ausmacht in den verschiedenartigen Gestalten, die es nun, jedermann vor Ort erfahrbar, angenommen hatte. Auch das oströmi­sche Christentum konnte nun unter diesem Konzept mit erfasst werden.

Im Unterschied zum vorchristlich-römischen Ausdruck ‚religio‘ war die­ser wiederbelebte christliche Religionsbegriff nicht einfach ein Sammelna­me. Von einer deskriptiven Sammelbezeichnung wurde er zu einem sub­stantiell gefüllten Begriff, – zu einer Bezeichnung für das Wesen des Chri­stentums in und hinter seinen Erscheinungen. In dieser Qualität blieb er ganz einbezogen in das neue christliche Selbstverständnis der Zeit, – brach­te es sozusagen angesichts seiner eigenen Spaltung auf seinen Begriff.

Zugleich rückte der neu gefasste Religionsbegriff in das Instrumentarium protestantisch-theologischer Selbstauslegung ein, – etwa in der Form, dass das Verhältnis von Religion und Christentum nun innerprotestantisch aus­gelegt wurde in Analogie zu dem Gegenüber von Gesetz und Evangelium. Das ist die eine Seite an der nachreformatorischen Wiederbelebung und Neufassung des Religionsbegriffes, die zu beachten ist.

2. Religion und Kirche

Es gibt eine zweite Seite an diesem Vorgang, mit der der Religionsbegriff in der christlichen Überlieferung neue Dimensionen erhielt. Schon recht früh erfuhr der Religionsbegriff in der nachreformatorischen Entwicklung eine Wendung auf das Glaubensverhältnis des christlichen Subjekts hin. Der reformatorische Gedanke vom direkten Gottesverhältnis des einzelnen Chri­sten nahm den sprachlichen Ausdruck ‚Religion‘ für sich in Anspruch, – fasste sich in ihn und legte sich über ihn aus.

Dies war zunächst weniger ein theologischer Vorgang als vielmehr ein solcher, der sich innerhalb der aufkommenden protestantischen Laienkultur abspielte. Ihr Selbstverständnis und ihr Selbstbewusstsein formierten sich in Absetzung von den institutionellen kirchlichen Ansprüchen, denen sie sich ausgesetzt fand. Im Bewusstsein der Selbstverantwortung ihres Glaubens vor Gott und im selbstbewussten Anspruch auf die Verwirklichung des Glaubens in einer innerweltlichen christlichen Lebensführung begann sich die protestantische Laienkultur von der kirchlichen Erwartung zu emanzi­pieren, allein über die Teilhabe am eigentlichen kirchlichen Leben erweise sich das wahre Christsein.

Es ist dieser Zusammenhang, in dem der neu gefasste Begriff ‚Religion‘ zu dieser Zeit eine neuartige kulturelle Bedeutung gewann. ‚Religion‘ be­gann nun als selbst verantwortete christliche Lebensform in eine gewisse Opposition zu treten zu ‚Kirche‘ als der verfassten Ordnung, in der sich das (protestantische) Christentum in der Gesellschaft präsentiert. ‚Religion‘ wurde allmählich zur Signatur für eine eigene christliche Lebenswirklichkeit neben der der verfassten ‚Kirche‘, – wenn man so will: zu einer bürgerlichen Kategorie. Diese zweite Seite an der Wiederbelebung und Neufassung des Religionsbegriffes in der nachreformatorischen Zeit ist von kaum zu über­schätzender Bedeutung für die weitere Karriere des Religionsbegriffes in der westlichen Welt, – eingeschlossen seine spätere Verallgemeinerung zu einem wissenschaftlichen Begriff mit universalem Geltungsanspruch.

3. Religion und Mensch

Damit ist eine dritte Seite an der Wiederbelebung und Neufassung des Religionsbegriffes seit der Reformation berührt. Sie bereitet sich bereits vor der Reformation vor, in der (christlichen) Philosophie des ausgehenden Mittelal­ters. Schon bei Nikolaus von Cusanus und bei Masilio Ficino war der Gedanke aufgetaucht, bei ‚Religion‘ handele es sich um so etwas wie eine allgemeine Grundausstattung des Menschen, die ihm durch göttlichen Ratschluss ein­gepflanzt sei und sich in dieser Welt in verschiedenen Formen und verschie­denen Graden ihrer Intensität verwirkliche. Außer Frage stand in diesem Gedanken (immer noch), dass das Christentum die höchste und ‚wahre‘ Ausprägung dieser menschlichen Grundausstattung zur ‚Religion‘ darstellt. Doch es wurde, im Unterschied etwa zu Thomas von Aquin, nicht mehr von einer vollen Identität von Christentum und ‚Religion‘ ausgegangen.

Was sich hier anbahnte, ließe sich rückblickend und in unserer heutigen Sprache als Anthropologisierung des Religionsbegriffes kennzeichnen, – eine Denkmöglichkeit, deren Spuren auch im reformatorischen Denken zu ver­folgen sind, – etwa im Gedanken einer natürlichen Gottesverehrung, die al­len Menschen zu eigen sei. Als dann Bodinus 1593 sein „Colloquium heptaplomeres“ veröffentlichte, konnte der in diesem fiktiven Streitgespräch über ‚Religion‘ einen Katholiken, einen Lutheraner, einen Calvinisten, ei­nen Mohammedaner, einen Vertreter einer dogmenlosen Vernunftreligion und einen religiösen Universalisten zusammenführen unter dem Gedanken, dass es eine allgemeine Religion, angelegt im menschlichen Wesen, gebe, deren verschiedenartige Ausprägungen gleichermaßen zu achten seien, – wenngleich deren Vollendung in der christlichen Religion auch für Bodinus nicht in Frage stand.

Bemerkenswert an diesem fiktiven Colloquium ist auch, dass unter sei­nen Teilnehmern ein Mohammedaner erschien, – ein Vertreter eines ‘Kul­tes’ also, der nach der aquinatischen Identifikation von ‚Religion‘ und Chri­stentum nicht als ‚Religion‘ erschienen wäre, sondern als etwas ‚Heidni­sches‘, als Erscheinungsform von ‚Ungläubigkeit‘. Wir haben hier wohl die erste ausdrückliche Wiederausweitung des Religionsbegriffes über die Erfah­rungswelt des westlich-römischen Christentums hinaus vor uns, – angeleitet von dem Gedanken einer natürlichen Veranlagung des Menschen zur ‚Religion‘, ein Gedanke, der seinerseits das Auseinandertreten von Konfessionen in der westlich-christlichen Überlieferung innerhalb des gleichen kulturellen Geltungsraums voraussetzte.

Als eine Zwischenbilanz können wir jetzt festhalten, dass wir am Ausgang des 16. Jahrhunderts drei Seiten an jenem Bedeutungshof identifizieren können, innerhalb dessen der Religionsbegriff in der Reformationszeit und unmittelbar vor ihr wiederbelebt und neu gefasst worden ist:

  • Die Annahme einer wesenhaften (christlichen) Religion, die hinter und in den nun auseinandergetretenen christlichen Konfessionen ihr Dasein hat,
  • die Ausprägung einer der verfassten Kirche an die Seite tretenden prote­stantischen Laienkultur, die für ihr Selbstverständnis und Selbstbewusst­sein die Signatur ‚Religion‘ in Anspruch nimmt, und
  • eine sich anbahnende konzeptuelle Verallgemeinerung des sprachlichen Ausdrucks ‚Religion‘ über den Geltungsraum christlicher Überlieferung hinaus unter einer Vorstellung von der natürlichen Anlage des Men­schen zur ‚Religion‘.

4. Getrennte Wege

Diese drei unterscheidbaren Seiten am sich nun neu konstituierenden Be­deutungshof des sprachlichen Ausdrucks ‚Religion‘ sind, begriffslogisch und auch soziologisch betrachtet, recht unterschiedlicher Natur. Dennoch ist die Beachtung ihres Wechselspiels unerlässlich für die weitere Karriere des Reli­gionsbegriffes in der okzidentalen Kultur. Wollte man eine graphisch illu­strierende Verlaufskurve dieser Karriere zeichnen, müsste man wohl den Ausgang des 16. Jahrhunderts, an dem sich diese drei Seiten zeigen, als ei­nen Knotenpunkt in eine solche Kurve eintragen. Denn was zu dieser Zeit in Gestalt dieser drei Seiten noch halbwegs konzeptuell zusammengehalten wird in dem Bemühen und in der Anstrengung, das Selbstver­ständnis und die Selbstauslegung der westlich-christlichen Welt in der nachreformatori­schen Zeit als einer Welt zu wahren, trat in der Folge auseinander. Es begann nun eine verwirrende Zerfaserung des Karrierewegs dieses sprachlichen Ausdrucks ‚Religion‘, die gleichwohl ihren inneren Zusammenhang behielt, ihn freilich zugleich, auch sich selbst gegenüber, immer mehr verdunkelte.

Wollte man den Karriereweg des sprachlichen Ausdrucks ‚Religion‘ seit dem Ende des Jahrhunderts der Reformation bis in unsere Tage kennzeich­nen, so könnte man, cum grano salis, sagen: Die dritte Seite seines Bedeu­tungshofes, die wir eben identifiziert und als Verallgemeinerung bezeichnet haben, wächst sich aus und lässt die beiden anderen hinter sich.

Dabei wird die erste genannte Seite, die innertheologische und inner­kirchliche Auseinandersetzung um die Natur des vielgestaltigen Christen­tums als eine ‚Religion‘, nahezu völlig abgekoppelt. Sie wird zur Sache eines eigenen kirchlich-theologischen Diskurses, der zum guten Teil aus sich sel­ber lebt und gegenüber dem allgemeinen Diskurs um ‚Religion‘ in die Rolle des Reagierenden versetzt; von nun an läuft der kirchlich-theologische Dis­kurs um ‚Religion‘ dem allgemeinen Diskurs um ‚Religion‘ ständig nach.

Die zweite eben genannte Seite – das vornehmlich dem Protestantisums eigene, jedoch in der Folge auch den Katholizismus erfassende Spannungs­verhältnis zwischen verfaßter Kirche und ‚Religion‘ als Signatur der relati­ven Eigenständigkeit einer Laienkultur – wird im Sog der fortschreitenden Verallgemeinerung von Religion gleichsam aufgespalten. Einerseits wandert dieses Spannungsverhältnis in den innerkirchlichen und innertheologischen Diskurs ab und etabliert sich dort als ein Dauerproblem, das seine Relevanz außerhalb dieses Diskurses – je länger, desto weniger – behaupten kann. Andererseits aber wandert dieses Spannungsverhältnis in einer sozusagen abstrakten Fassung in die fortschreitende Verallgemeinerung des Religions­begriffes ein und setzt sich dort als ein definitorisches Merkmal fest: Bis auf den heutigen Tag lebt der okzidentale Allgemeinbegriff von ‚Religion‘ – un­ter anderem, aber wesentlich – aus der Annahme, dass ‚Religion‘, was im­mer man so bezeichnet – eine elementare Spannung zwischen Institution und Lebensführung in sielt trage. Das Protestantische an dieser Annahme ist längst vergessen, in jeder Untersuchung über irgendeine ‚Religion‘ aber taucht sie unweigerlich als Bestimmungs- und Messgröße auf.

Mit anderen Worten: Die fortschreitende Verallgemeinerung des Religi­onsbegriffes grenzt die Frage nach der Bestimmung des Christentums als ‚Religion‘ aus sich aus und überlässt sie dem segmentierten kirchlich-theologischen Diskurs. Die reformatorische Problematik nach dem Verhält­nis von Institution und Lebensführung nimmt sie in sich auf und verwan­delt sie in ein abstraktes definitorisches Merkmal von ‚Religion‘.

In drei großen Schüben wurde diese Verallgemeinerung des Religionsbegriffes in Folge vorangetrieben.

5. Religionskritik

Der eine Schub folgte aus den kriegerischen Glaubensstreitigkeiten im Eu­ropa des 16. und 17. Jahrhunderts. In ihrem Verlauf wuchs das Bedürfnis nach einem Verständnis von ‚Religion‘, das jenseits der konfessionellen Ge­gensätze und zugleich jenseits jener weltlichen Machtkonflikte angesiedelt ist, mit denen die konfessionellen Gegensätze verschmolzen waren. Dem Denkmotiv von einer ‚natürlichen Ausstattung des Menschen zur Religion‘ gesellte sich das andere von einer über die Vernunft begründbaren und er­schließbaren ‚Religion‘ als Verkörperung individueller wie gesellschaftlicher Würde und Toleranz hinzu.

In der Verbindung dieser beiden Denkmotive entfaltete sich ein allgemeiner Begriff von ‚Religion‘, der mehr und mehr hinter sich ließ, was Grund und Anlass zu seiner Prägung gegeben hatte. Er schuf sich seinen eigenen Begründungszusammenhang – unter anthropologischen, philosophischen oder auch gesellschaftstheoretischen Gesichtspunkten. Aus einem solchen eigenen Begründungszusammenhang heraus konnte dieser Religionsbegriff dann auch gegen die jeweils „real existierende“ ‚Religion‘ gewendet werden: in der Religionskritik des 18. Jahrhunderts zunächst in der Form einer Kritik der politischen und gesellschaftlichen Rolle der christlichen Kirchen, – in der Religionskritik des 19. Jahrhunderts schließlich als Kritik von ‚Religion überhaupt‘ als ein Vehikel menschlicher Selbstentfremdung eine Kritik, die – ohne dies recht wahrzunehmen – daraus lebte, ‚Religion‘ als allgemeine zu verstehen. Sie kritisierte, was sie sich selbst als Konstrukt erst geschaffen hatte.

6. Religion als Weltkategorie

Einen zweiten großen Schub erfuhr die okzidentale Verallgemeinerung des Religionsbegriffes im Zuge der näheren Erkundung der Welt jenseits der Reichweite ihrer eigenen. Nachdem der okzidentale Rausch der großen Weltentdeckungen um die Mitte des 16. Jahrhunderts bereits nachgelassen hatte, begann um die Wende zum 17. Jahrhundert das Unternehmen der systematischen Sammlung und Verarbeitung des Wissens über die fremden Welten. Dieses Unternehmen verlangte nach geeigneten sprachlichen Aus­drucksmitteln für die Erfassung des Anderen, des Fremden. Der schon in der eignen Erfahrungswelt – aus Gründen, die zunächst in ihr selber lagen – über sie hinausgehobene allgemeine Begriff von ‚Religion‘ bot sich von selbst als ein Ausdrucksmittel an für die Wahrnehmung und Klassifizierung von mancherlei fremdartigen Sitten und Bräuchen.

Bis heute fehlt uns eine gründliche und selbstreflexive Analyse jenes weit- und tiefreichenden Prozesses der Akkumulation und Verarbeitung von Wissen über Fremdes, der sich in der okzidentalen Welt zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert vollzogen hat. Doch mit gutem Grund kann man vermuten, dass sich dieser Prozess vollzogen hat als ein Vorgang der Aneig­nung des Fremden nach eigenem Muster, – als Nostrifizierung also (wie Justin Stagl dies einmal treffend genannt hat[1]).

Selten sind, auf den ersten Blick, Spuren, die auf die Erfahrung einer Herausforderung des eigenen Selbst- und Weltverständnisses durch die Be­gegnung mit dem Fremden schließen lassen; zahlreich sind dagegen die In­dikatoren dafür, dass Fremdes ohne Umschweife subsumiert wurde unter die Bestimmungs- und Messgrößen, die für die eigene Welt geläufig waren. Sie sind es denn auch, die die Fixpunkte abgeben für zusätzliche begriffli­che Differenzierungen, die sich angesichts des Materials über das Fremde dann doch als unausweichlich erwiesen. Eine solche – für uns interessante – Differenzierung stellt jene unglückselige Definition von Magie in Abhebung vom geläufigen okzidentalen Verständnis von ‚Religion‘ dar, die sich seit dem 17. Jahrhundert durch unser Denken schleppt. Eine andere ist die ebenso selbstgewisse wie verlegene Unterscheidung von Hochreligionen und primitiven Religionen. Schließlich gehört hierher auch das Stiften sol­cher Konstrukte wie das eines Hinduismus als ‚Religion‘ durch die europäi­schen Religionswissenschaftler des 19. Jahrhunderts, – Konstrukte, die nach eigenem geläufigem Muster zusammenfügen, was sich solchem Muster von sich aus nicht fugt, dennoch aber in der Folge unter solcher Bezeichnung als Wirklichkeit genommen wird – nicht ohne Folgen auch für das, was so ge­fugt und bezeichnet wird.

‚Religion‘ wurde in diesem Vorgang zu einer ‚Weltkategorie‘ – für das okzidentale Denken in seinem Bemühen um Weltaneignung. Und da der okzidentale Religionsbegriff in seinem innerchristlichen Gebrauch längst zu einem substantiell gefüllten Begriff geworden war, erschien dem westlichen Denken ‚Religion‘ nun auch als ein Weltphänomen. Mit der Ausbreitung des westlichen Denkens über die Welt und dem Prestige, das es sich zu ver­schaffen wusste, hielt der okzidentale Religionsbegriff dann auch, im 20. Jahrhundert, Einzug in das Selbstverständnis all dessen, was in okzidentaler Sicht unter ihn subsumiert worden war – ein Vorgang, über dessen Folgen wir noch weniger wissen als über die Folgen, die die große Nostrifizierung der Welt durch das okzidentale Denken für dieses gehabt hat.

7. Religion und Moderne

Dem zweiten Schub, den die fortschreitende Verallgemeinerung des Religi­onsbegriffes im Okzident erfuhr mit der Nostrifizierung der außereuropäi­schen Welt, gesellte sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein dritter Schub hinzu. In dieser Zeit gewann das westliche Denken und Reden innerhalb seiner eigenen Kulturwelt neue Dimensionen seiner Abstraktions­fähigkeit. Die Begriffshistoriker haben diese Zeit als Sattelzeit bezeichnet, als die Zeit, in der sich die westliche Welt in ihren Lebens- wie in ihren sprachlichen Ausdrucksformen durchgreifend verändert hat.

Die ‚Moderne‘ begann sich zu formieren: die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Beziehungen entwuchsen der Reichweite unmittelbarer Erfahrung und der Personalverhältnisse, in denen sie sich organisiert hatten. Die gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse wurden selbst abstrakt. Arbeit und Leben traten auseinander, – das globale Marktprinzip setzte sich durch und rückte die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen ins Unanschauliche, – die sozialen Beziehungen unter den Menschen begannen, sich nach abstrakten Gesichtspunkten zu verrechtlichen. Gesellschaft wurde zu einem Erfahrungsraum eigener Art, abgehoben von der Reichweite alltäglicher Lebenserfahrung und darin auch bedrohlich – eine Welt abstrakter Mächte ‚hinter den Bergen‘. Dieser neu sich eröffnende Erfahrungsraum verlangte auch nach neuen sprachlichen, begrifflichen Ausdrucksmitteln, um ihn fassbar, durchdringbar, erklärbar werden zu lassen. Es war diese Sattelzeit, in der sich in den europäischen Sprachen ein durchgreifender, bis in die Umgangssprache hinein reichenden Abstraktionsschub vollzog. Sprachliche Ausdrücke wie Struktur, System, Prognose, Integration bürgerten sich ein als begriffliche Instrumente der Erfahrungsgestaltung und der Selbstdeutung unter veränderten – und sich in solcher Erfahrungsgestaltung und Selbstdeutung ständig weiter verändernden – gesellschaftlichen Bedingungen.

Von diesem Abstraktionsschub wurde auch der Religionsbegriff erfasst. Was er an Verallgemeinerung in der okzidentalen Welt ohnehin schon erfahren hatte, wurde in diesem allgemeinen Abstraktionsschub bestätigt und befestigt.

Zum einen etablierte sich der Religionsbegriff nunmehr in der Umgangssprache mit einem derart ausgeweiteten Bedeutungshof, dass er auch ohne jeden Bezug auf die eigene christliche Überlieferung verwendbar wurde. Mit dieser Überabstrahierung wurde er zugleich der Beliebigkeit subjektiver Füllung überantwortet – eine Radikalisierung einer Seite des protestantischen Verständnisses von ‚Religion‘, mit der schließlich auch der Bezug auf diese Herkunft eines abstrakten Religionsbegriffes verschwand.

8. Religion und Wissenschaft

Zum anderen etablierte sich der abstrakte Religionsbegriff nunmehr voll in der Wissenschaftssprache – mit zwei Folgen. Dem Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts entsprechend, wurde er als Bezeichnung für eine existierende Wirklichkeit genommen, die als solche beschreibbar und unter suchbar zu sein schien. Und: der verwissenschaftliche Religionsbegriff wurde der Erwartung ausgeliefert, über präzise Definition bestimmbar zu sein. Aus einem Interpretament als einem sprachlichen Medium kultureller Selbstauslegung wurde ein definitionsfähiger Begriff zur Kennzeichnung von Sachverhalten, die als real existierend angenommen wurden. Damit wurde das Tor geschlossen für eine Beschäftigung mit ‚Religion‘, die diesen sprachlichen Ausdruck als Bestandteil dessen, worauf sie sich richtet, nimmt und mit reflektiert. Hinter dem so geschlossenen Tor entwickelte sich die Beschäftigung mit ‚Religion‘ zu einem wissenschaftlichen Autismus, ausgelebt in der ständigen definitorischen, theoretischen, methodischen Reproduktion dessen, was aus einem komplexen kulturgeschichtlichen Prozess (um Nietzsche zu paraphrasieren) als Begriff semiotisch extrapoliert worden war. Seitdem kann jede soziologische Studie über ein Dorf, über eine gesellschaftliche Gruppierung, über eine ganze Gesellschaft auch deren ‚religiösen Aspekt‘ wie ein Segment von Wirklichkeit behandeln, – und ‚Religion‘ kann an sich zum Thema auch soziologischer Untersuchung werden, – als gäbe es sie wie eine Wirklichkeit sui generis.

Es verstellt sich von selbst, dass dieser wissenschaftliche Habitus des Umgangs mit ‚Religion‘ mit fortschreitender Wirksamkeit massenmedialer Verbreitung wissenschaftlichen Wissens auf die Umgangssprache zurück­wirkte und in ihr jenes ausweglose Reden über ‚Religion‘ bekräftigte, das zwischen abstrakter Akzeptanz des Phänomens und Beliebigkeit des subjek­tiven Bezugs darauf gefangen bleibt. Theologen wie Sozialforscher klagen in der Praxis ihrer Tätigkeiten übereinstimmend über dieses umgangssprachli­che Reden von ‚Religion‘, – dennoch befördern sie es durch ihr eigenes ab­gehobenes Reden darüber und sind dann auch wieder froh, wenn ihnen ihr eigenes Reden in dem der anderen wiederbegegnet.

9. Heute über Religion reden

Wenn wir heute über ‚Religion‘ reden, haben wir es mit dem über die Wis­senschaftssprache des 19. Jahrhunderts abschließend verallgemeinerten Re­ligionsbegriff zu tun – und mit seinen Abbildungen auf die Umgangsspra­che. Was haben wir zu beachten, wenn wir mit ihm umgehen, zumal in vergleichender Absicht? Was sind die implizierten Bedeutungsgehalte, die er kulturgeschichtlich transportiert, und die er in seinem definitorischen Po­tential verleugnet?

Zunächst und allgemein: Es gilt, die kulturgeschichtliche Selbstverleug­nung unseres heutigen Religionsbegriffes zu korrigieren. Sein Gebrauch, der Umgang mit ihm muss wieder mit einem Gedächtnis für seine Herkunft ausgestattet werden. Erst dann kann sichtbar werden, was in seinem Ge­brauch immer schon mitgedacht ist. Erst dann können auch die Sinngren­zen seiner Übertragbarkeit auf anderes bestimmt werden. Damit ist nicht gesagt, dass das Nachdenken und das Reden über ‚Religion‘ an diesen Sinn­grenzen aufzuhören habe. Vielmehr wird damit zu einem selbstreflexiven Nachdenken und Reden über ‚Religion‘ ausdrücklich aufgefordert.

In der verallgemeinernden Prägung, die der westliche Religionsbegriff im 19. Jahrhundert erfahren hat, beruht er auf der grundlegenden konzeptuel­len und ontologischen Unterscheidung von Heiligem und Profanem,eine Unterscheidung, die bei jedem Definitionsversuch von ‚Religion‘ herange­zogen wird. Diese Unterscheidung ist selbst ein Bestandteil der christentumsgeschichtlichen Überlieferung und ist in ihrer Geltung für die Formen des Denkens und der Lebensgestaltung zunächst als in dieser Überlieferung wurzelnd und auf sie beschränkt zu sehen. Sie ist in unseren heutigen Reli­gionsbegriff vermittelt worden vor allem auf dem Wege über den protestan­tischen Dualismus von Gottesverhältnis und Lebensführung. Dieser Dualismus, zunächst theologisch als ein Wechselverhältnis gedacht, geht, trans formiert in eine Segmentierung von Welten oder Sphären, in den Hintergrund der Bestimmung von ‚Religion‘ ein. In dieser seiner Perspektivität verfehlt der Religionsbegriff all jene kulturellen Konstruktionen von Wirklichkeit, die heilig und profan nicht im gleichen Sinne unterscheiden, die, gedankenspielerisch ausgedrückt und insofern nicht wörtlich zu nehmen, eine Profanität des Heiligen und eine Heiligkeit des Profanen kennen, ja: eine Pluralität von Wirklichkeiten von unterschiedlichem Status, die sich nicht auf ein binäres Schema bringen lässt, auch nicht durch eine Mischung seiner Elemente. Für die meisten ‘Religionen’, die wir in unserer Sicht als solche meinen identifizieren zu können, trifft dies in unterschiedlicher Ausprägung zu.

Die christentumsgeschichtliche Überlieferung trägt in sich den weiteren Dualismus von Institution und Glaubensverhalten, der in dieser Schärfe kulturgeschichtlich einzigartig ist. Auch er vermittelt sich insbesondere über seine protestantische Fassung, in der der sprachliche Ausdruck ‚Religion‘ für die Seite des Glaubensverhaltens in Anspruch genommen worden ist, in den Bedeutungshof des heute gebräuchlichen verallgemeinerten Religionsbegriffes. Unter diesem Dualismus wird unsere Wahrnehmung anderer als der uns eigenen ‚religiösen‘ Überlieferungen ebenso angeleitet wie das theoretische Instrumentarium, unter dem wir sie in unseren Forschungen zu rekonstruieren versuchen. Wie selbstverständlich richten religionssoziologische Studien über das, was wir ‘Buddhismus’ oder ‚Hinduismus‘ nennen, ihre allererste Aufmerksamkeit auf den Tempelbesuch einerseits, auf Aus­künfte über das persönliche Glaubensleben andererseits. Erkundungen ent­lang solchen Aufmerksamkeitslinien zeitigen natürlich Ergebnisse, – wofür diese Ergebnisse stehen, bleibt entweder ganz verborgen oder wird, subsidi­är, zufällig, fragmentarisch und damit verzerrend, nachträglich eingeholt.

Unser über die Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts abschließend verallgemeinerter Religionsbegriff steht in einem höchst vieldeutigen und widersprüchlichen Verhältnis zu jenem weiteren Dualismus von Rationalem und Irrationalem, der der eigenen christentumsgeschichtlichen Überlieferung entsprungen ist und – wiederum – durch das protestantische Moment der Überschätzung des Wortes verschärft worden ist. In der konzeptuellen und wirklichkeitsstiftenden Kluft zwischen dem Rationalen und dem Irrationa­len versinkt alles, was zwischen beiden sein Dasein hat – in der volkskirchli­chen Praxis unserer eigenen Gegenwart ebenso wie in unserer Wahrneh­mung dessen, was sich uns außerhalb unserer eigenen Überlieferung an ‚Formen des religiösen Lebens‘ zu zeigen scheint.

Als ein wissenschaftlich verallgemeinerter Begriff lebt unser heutiger Religionsbegriff auch aus seiner Präferenz fürs Definitive, fürs Bestimmte, – mit Unbestimmtheiten und Kontingenzen, in denen sich einzelmenschliches wie zwischenmenschliches Geschehen überwiegend vollzieht, vermag er wenig anzufangen. Er ist eben darauf angelegt, etwas auf seinen Begriff zu bringen, – und unter solchem Begriff sortierend auf die Vielfalt der Wirk­lichkeit zu blicken. Als ein Programm für die Wahrnehmung und Erschlie­ßung von Wirklichkeit ist solche Orientierung auf Wirklichkeitsverfehlung geradezu angelegt, – horribile dictu: nicht nur in der Fremdwahrnehmung, sondern auch in der Selbstwahrnehmung.

Der uns geläufige Religionsbegriff lebt schließlich aus der elementaren Vorstellung von der Würde und dem Ernst des ‚Religiösen‘, – eine Vorstel­lung, die sich der konzeptuellen Grundunterscheidung von heilig und profan verdankt und in ihrer heutigen Prägnanz sicherlich erst ein späteres Produkt christentumsgeschichtlicher Überlieferung ist, vermutlich wiederum vor­nehmlich protestantischer Herkunft. Im protestantischen volkskirchlichen Leben ist ja, – wer weiß das nicht, ob Pfarrer oder Laie – Ernsthaftigkeit das Grundgebot, und das Bekenntnis zur Fröhlichkeit eben Bekenntnis. Viel da­von schwingt mit, wenn wir in der Wissenschaft oder im alltäglichen Leben auf ‚Religion‘ zu sprechen kommen, auch und gerade auf die ‚Religion‘ an­derer. Der Erz-Kulturprotestant Max Weber hat wesentlich dazu beigetragen, den Religionsbegriff unserer Wissenschafts- und Alltagssprache mit diesem Ernst zu tränken. Folglich hatte er auch, zum Beispiel, wenig Sinn für das spielerische, testende, die Götter versuchende, ja ironische Moment in dem, was die angelsächsischen Anthropologen, ohne sich ihrer Verlegenheit zu schämen, Chinese religionism genannt haben. Vielmehr vermochte er das, was ihm von der chinesischen ‘religiösen’ Überlieferung in zweifellos mühevol­lem Studium bekannt geworden war, nur als einen riesigen Zaubergarten der Magie zu begreifen, aus dem kein eigener Anstoß für die Entwicklung des kapitalistischen Geistes und einer modernen Welt kommen konnte.

10. Wahrnehmung empfindlich reduziert

Lassen Sie mich noch einmal zurückkommen auf das eingangs gebrachte Zi­tat. Meine Vermutung war, dass sich ein Japaner, vielleicht auch ein Chinese oder ein Afrikaner, unter vergleichbaren Umständen ähnlich äußern könn­te. Von einem Deutschen, und erst recht von einem deutschen Kulturwis­senschaftler, würde ich Ähnliches nicht ohne weiteres erwarten.

Die vermeintliche Universalität unserer eigenen Kultur ist uns zum Habi­tus geworden. Dass eben dieser Habitus unsere Kompetenz für die ange­messene Wahrnehmung des Fremden empfindlich reduziert, wird uns nur selten bewusst. In dieser Befangenheit werden wir festgehalten dadurch, dass uns unsere eigene Kultur mittlerweile auch in der Fremde auf Schritt und Tritt begegnet – in den Enklaven, die wir selber dort eingerichtet haben und die wir für die Wiedergabe des Fremden halten, – und in den anderen Enklaven, die sich auch ohne unser direktes Zutun in der Fremde durch Kulturkonversion gebildet haben. Um so ratloser und hilfloser stehen wir da, wenn wir, wie in dem wiedergegebenen Zitat, vor den Bekundungen ei­ner Doppelkompetenz in der Fremde stehen, die das Eigene wie das (ihm) Fremde gleichermaßen kennt und ins Verhältnis zu setzen weiß.

Wenn wir auf unserem, von uns selbst für universal genommenen Boden in der uns geläufigen abstrakten Manier zum Kulturvergleich ansetzen wol­len, dann sollten wir zunächst versuchen, uns mit jenen Vorgängen vertraut zu machen, die bei anderen, bei Fremden zur Ausbildung solcher Doppel­kompetenz geführt haben – und sie sorgfältig rekonstruieren. Denn hier ge­schieht Kulturvergleich, längst bevor wir an ihn denken. Dies ist nicht zu verstehen, wie das manchem erscheinen mag, als ein emphatischer Aufruf zu kultureller Empathie, sondern als ein Aufruf zu gediegener, selbstreflexi­ver und der Argumentation zugänglicher Analyse, die sich darauf einlässt, die Welt, und gerade auch die eigene Welt, durch die Augen der anderen zu sehen. Der Täuschungszusammenhang von Nostrifizierung und Vestrifizierung, indem wir uns ständig wie in einem Labyrinth bewegen, muss durch­stoßen werden. Das gilt auch und gerade im Blick auf jenen Lebenszusam­menhang, den wir in unserer Überlieferung in eigentümlicher Weise als ‚Religion‘ zu bezeichnen gelernt haben. Und diese Aufforderung richtet sich nicht nur an uns, sondern auch und gerade an die uns Fremden. Bevor wir hier – oder anderswo – über ‚Religion‘ in Japan – oder sonstwo – zu reden beginnen, wünschte ich mir eigentlich ein Forscherteam aus Japan – oder von sonstwo –, das sich mit ‚Religion‘ in Deutschland befasst, – über das hinaus, was wir selber dazu zu sagen haben.

Ursprünglich veröffentlicht in: forum loccum 8, Heft 2, 1989.

Quelle: Joachim Matthes, Das Eigene und das Fremde. Gesammelte Aufsätze zu Gesellschaft, Kultur und Religion, hrsg. v. Rüdiger Schloz, Würzburg: Ergon, 2005, S. 195-208.


[1] Die Beschreibung des Fremden in der Wissenschaft, in: Hans Peter Duerr (Hrsg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. 1: Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, Frankfurt a. M.: Syndikat, 1981, S. 273-295, hier 284.

Hier der Text als pdf.

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