Die Verheißung an Ismael (Genesis 16,1-16)
Von Walter Brueggemann
Kapitel 16 ist eine frühe und unreflektierte Erzählung, die ein recht offenes Ende erfordert, denn hier ist vieles unklar. Um die Kraft der Geschichte zu erhalten, ist es wichtig, dass sie im Unklaren bleibt. Die Geschichte basiert auf der doppelten Realität der anhaltenden Unfruchtbarkeit und der prominenten Anwesenheit von Ismael, der nicht ignoriert werden konnte. Es ist möglich, dass eine Version der Geschichte mit Vers 6 aufhörte, der ein Ende mit der Vertreibung von Hagar markiert. Aber so, wie es jetzt steht, ist das ganze Kapitel unvollständig und wird erst in Kapitel 21 zu Ende gebracht. Der volkstümliche Charakter der Verse 1-6 hat Ähnlichkeiten mit 12,10-20 und berichtet von einem familiären Dreieck der Schwierigkeiten, mit dem Abraham kaum fertig wird. Über die alternative Methode, einen Sohn zu bekommen, muss kein moralisches Urteil gefällt werden, da sie an anderer Stelle in der biblischen Zeit als ordnungsgemäße Rechtspraxis bezeugt werden kann. Theologisch gesehen wird in der Erzählung jedoch behauptet, dass Abraham und Sara der Verheißung nicht geglaubt haben. Wie in 12,10-20 nimmt Abraham die Verheißung wieder selbst in die Hand, weil er nicht darauf warten will, dass Gott seine unergründlichen Absichten verwirklicht. Calvin nennt ihren Glauben „mangelhaft“. Das ist das Hauptproblem, dem wir nachgehen müssen. Der Glaube ist nicht einfach. Er erfordert eine Beharrlichkeit, die dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Er erfordert den Glauben an ein Geschenk Gottes, das durch keine der vorliegenden Daten belegt werden kann.
1. Aus der Perspektive des Glaubens von Abraham und Sara ist die Geschichte seltsam dargestellt. Sie ist als eine Hagar-Geschichte aufgebaut. Dem Anfang in der Not (V. 16) folgt die Auflösung in der Geburt (V. 15-16). Zwischen dem Anfang in der Not und dem Ende in der Geburt markiert der Mittelteil (V. 7-14) das Eingreifen Gottes durch die Rede eines Engels. Diese Geschichte hat nur indirekt etwas mit Abraham und Sara zu tun.
Wie in 12,17 und 14,14 markiert Vers 7 das Eingreifen. Dies ist ein merkwürdiger Bruch in der Geschichte. Er zeigt, dass alle Beteiligten – Abraham, Sara, Hagar, Ismael – es gut sein lassen würden. Alle Parteien, außer Gott! Gott ist es, der das Thema wieder aufgreift. Die positive Implikation ist, dass Gott sich dem Außenseiter zuwendet. Was jedoch die Lebendigkeit der Verheißung betrifft, so besteht die negative Implikation der Erzählung darin, dass Ismael für Abraham eine Versuchung darstellt, eher auf die Früchte seiner eigenen Arbeit als auf die Verheißung zu vertrauen (vgl. 17,18). Ismael ist also eine Prüfung, die die Erzählung verkompliziert. Paulus hat Hagar-Ishmael in ein Zeichen des Gesetzes verwandelt, das übermäßig phantasievoll ist (Gal 4). Doch Paulus hat richtig gesehen, dass Hagar und Ismael auch in der Ismael-Geschichte selbst als Alternative zur Verheißung fungieren. Sie sind der sichtbare Beweis dafür, dass man Gott kurzfristig die Initiative entziehen kann und die Dinge besser werden.
2. Der Mittelteil (V. 7-14) wird von der Rede des Boten beherrscht, was wiederum zeigt, dass die göttliche Rede entscheidend ist. So spricht der Engel viermal: Und er sprach… (V. 8); Der Engel des herrn sprach zu ihr . . . (V. 9); Der Engel des herrn sagte auch zu ihr . . . (V. 10); Und der Engel des herrn sprach zu ihr… (V. 11). Die vier Reden steigern sich bis zur letzten in Vers 11, die eine Geburtsankündigung ist.
a. Die Geburtsankündigung präsentiert eine alternative Geschichte zu Abraham-Sara, die ebenfalls von Gott gesegnet ist. Sie schließt (V. 13) mit einem Segen für den Verbannten. Es ist ein kräftiger Segen, aber es ist nicht der abrahamitische Segen des Landes. Es ist ein Segen, an einem anderen Ort zu sein, außerhalb des verheißenen Landes, und aus eigener Kraft zu leben, d. h. nicht aufgrund der ursprünglichen Verheißung.
b. Der Mittelteil schließt mit einer obskuren Ätiologie (V. 13-14). Theologisch folgen wir vielleicht am ehesten Frank Cross (Canaanite Myth and Hebrew Epic, 1973, S. 46), wenn wir hier eine Darstellung des Hochgottes El sehen, dessen Ansprüche an JHWH abgetreten werden (vgl. 14,19-20). Historisch und sprachlich können wir die Bedeutung der Formulierung nicht bestimmen. Offenbar bedeutet der Name so etwas wie „der Gott, der mich sieht, lebt“. Das bietet zwar eine gewisse Interpretationsmöglichkeit für den Charakter dieses Gottes, der sich um die Verbannten kümmert, sollte aber nicht vom Hauptthema ablenken. Die Offenbarung wurde in der Tradition nicht sehr geschätzt und sollte am besten in ihrer Unklarheit belassen werden.
3. Die Anwesenheit Ismaels deutet auf zwei Dinge hin. In vertikaler Hinsicht, d. h. in Bezug auf Gott, bedeutet sie, dass Gott sich nicht ausschließlich auf Abraham-Sara festgelegt hat. Gottes Sorge ist nicht auf die auserwählte Linie beschränkt. Er kümmert sich auch mit Leidenschaft um die Unruhestifter, die außerhalb dieser Linie stehen. Horizontal betrachtet, von der Agenda Abrahams und Saras aus gesehen, ist Ismael eine Versuchung, der Verheißung nicht zu vertrauen. Gerade das Kind, das die Leidenschaft Gottes für die Außenseiter offenbart, ist eine nicht geringe Bedrohung für die Eingeweihten.
Der erste Teil der Erzählung endet ohne eine Lösung. Sarahs Initiative (V. 2), die Verheißung zu umgehen, hat zu Konflikten geführt (vgl. Spr 30,21-23). Nun ist die Verheißung durch diese Alternative gefährdet.
Quelle: Walter Brüggemann, Genesis (Interpretation: A Bible Commentary for Teaching and Preaching), Atlanta: John Knox Press, 1982.