Adrienne von Speyr/Hans Urs von Balthasar, Über das Geheimnis des Karsamstags: „Die Theologie des Karsams­tags kann nicht systematisch gedacht und geschrieben werden. Er ist der Tag, da Gottes Wort schweigt, und auch wenn dieses Schweigen der lebendige Hintergrund alles Redens Gottes ist und alles Gotteswort aus diesem Schwei­gen hervorgeht und dorthin zurückgeführt werden muß, um als göttliches Wort verstanden zu werden: auch dann bleibt das Schweigen des Karsamstags etwas vom übrigen Schweigen Gottes Verschiedenes.“

Über das Geheimnis des Karsamstags

Von Adrienne von Speyr/Hans Urs von Balthasar

Adrienne von Speyr (1902 in La Chaux-de-Fonds geboren, 1967 in Basel gestorben) wurde nach einer schweren Jugend und einem selbstverdienten Studium Ärztin in Basel. Sie konvertierte 1940 bei mir, worauf sie, ihren Beruf fortsetzend, eine Fülle mystischer Gnaden, darunter viele Passionsgnaden erhielt. Sie diktierte mir als ihrem Beichtvater im Lauf von sechsundzwanzig Jahren eine große Zahl geistlicher Betrachtungen, darunter Kommentare zum Alten und Neuen Testament; die meisten ihrer Schriften sind im Buchhandel erhältlich, englische, italienische und französische Übertragungen haben zu erscheinen begonnen.[1]

Ein wichtiges Zentrum ihrer weitgespannten theologischen Sendung war es, wohl erstmals in der Kirchengeschichte, die Nachfolge auch des toten Herrn am Karsamstag antreten zu dürfen und dabei das Erfahrene in klaren Worten diktieren zu können. Die alljährlichen, nach dem Tod Jesu (Karfreitag nach drei Uhr bis in die Osterfrühe) erlebten »Abstiege« zeigen immer neue Seiten; der kurze Auszug, der hier folgt, muß die Fülle der Aspekte ungebührlich vereinfa­chen. Alles von Adrienne Gesprochene steht in Anführungszeichen. Die gesam­ten Texte werden später vorgelegt werden; zwei kurze Fragmente stehen in »Objektive Mystik«. Manches in ihren anderen Werken (etwa der Radikalismus ihres Büchleins »Bereitschaft«) ist nur erklärbar von der Einsicht aus, daß der Sohn am Karsamstag in einem letzten Gehorsam den Vater dort suchen, ja erkennen muß, wo das von Gott restlos Verworfene, die Gesamtsünde der Welt liegt.                                                                                    Hans Urs von Balthasar

Das Kreuz

Das Kreuz ist die sühnende Übernahme aller Sünde (»auch der kommenden«) durch den Sohn. »Leiden kann man nicht, ohne wirklich von der Sünde getroffen zu sein.« Die Last dieser Sünde ist unvorstellbar, »dennoch leidet der Herr mehr, als was für die Sünde der Welt gelitten werden müßte«. Er muß die Gottferne und Sinnwidrigkeit der Sünde von innen kennenlernen, deshalb erscheint ihm sein Leiden als »ein Irrtum«, als »ausgangslos«, als absolute »Angst«, in der »nichts mehr entspricht« und alles »umsonst« scheint. Er wird von der Sünde »erdrückt«, »erstickt«. Jede Hoffnung auf einen Sinn ist verhängt, er ist auf einem »ausweglosen Weg«, im Verlassenheitsruf »sieht der Herr in keiner Weise mehr, daß er den Willen des Vaters tut«; indem er seinen Sendungsgeist in dessen »unsichtbare Hände« zurücklegt, geht er die letzten Schritte auf den Tod zu als der reine Mensch (hier wird »die letzte Konsequenz der Menschwerdung« gezogen). Das Übermaß der aufgeladenen, nicht nur seelisch, sondern unbedingt auch leiblich erfahrenen Sünde (sie »dringt durch seine Wunden in seinen Körper ein«) läßt die Zeit am Kreuz als »zeitlos« erscheinen. Seine Zeit ist in jedem Sinn »verlorene Zeit«.

Die Leiden Adriennes ( = A.) durch die Fastenzeit auf das Kreuz zu und in der Karwoche bis zum Nachmittag des Karfreitag waren furchtbar, körperli­che, aber mehr noch seelische Folterungen, da sie vor allem die inneren Zustände Jesu: Angst, Schande, Grauen, Nutzlosigkeit, innere Nacht zu erleiden hatte, in einer seltsamen Dialektik: einerseits ganz selbst-los, ohne Reflexion auf Seiten des Herrn, anderseits im tiefen Erschrecken über die eigene Sündigkeit (sie unterschied nicht mehr zwischen ihrer persönlichen Sünde und der aller Menschen), die dem Herrn solches zufügt. Aber dieses Leiden des Gekreuzigten und Sterbenden, diese »dunkle Nacht« (etwa auch des Johannes vom Kreuz) soll hier nicht geschildert werden. Bei der ersten Passion (1941) erwartete ich das Ende der Leiden mit dem Tod Karfreitagnachmittag. Aber das Wichtigste stand noch bevor.

Der Abstieg. Der Zustand

Nach dem Tod (A. liegt wie tot im Lehnstuhl) zuerst das Zucken beim Lanzenstich. Dann eine Pause und Suspension: Rückgabe der Sendung an den Vater im »Paradies« (wo der Schächer bleiben kann). Dann plötzlich: A. »begann zu sinken, in einen Abgrund«, sie hatte das Gefühl, endlos, immer schneller zu fallen. Sie »fällt bis auf den Grund der Hölle«. Und dies in einem Zustand »des Totseins«; physischen Schmerz gibt es nicht mehr, aber eine andere, noch tiefere Form von Zeitlosigkeit. »Die Dauer ist Stillstand.« So »kann in der Hölle nichts vergangen sein«. »Alles ist nur Jetzt.« »Ist dann die Hölle der äußerste Gegensatz zum Himmel, wo es in der Ewigkeit Gottes die Erfüllung aller Zeit gibt? In der Hölle ist die Zeitlosigkeit das Uferlose des Nicht-weiter-Könnens, das Erdrückende des Sündengewichts, die Endgültig­keit und Gegenwart des Sinnlosen.« »Die Verlassenheit ist zur völligen Entfremdung geworden.« Jeder mitmenschliche Kontakt ist ausgeschlossen. »Glaube, Liebe, Hoffnung sind unerreichbar.« A. spricht und tut die alltägli­chen Dinge wie »ein Mechanismus«. Sie ist »wie eine Puppe, oder besser: wie ein Katatoniker, der jede Stellung einnimmt, die ihm ein anderer gibt«. Der Mensch in der Hölle, sagt sie, »hat nichts Unendliches mehr, er ist reine Endlichkeit«, er könnte deshalb nicht beichten, höchstens sich »ins Unendliche psychoanalysieren lassen«. Bewegt sich etwas, bewegt man sich, dann ohne jeden Richtungssinn; das, was man hinter sich läßt, kommt wieder auf einen zu. Es »wird dabei nichts erledigt, es gibt keinen Ausgang«. »Man schreitet in die Ewigkeit der Hölle hinein, aber je weiter man schreitet, desto mehr Ewigkeit liegt vor einem. Das ist der äußerste Gegensatz zur Ewigkeit des Himmels.« »In jeder Sekunde, die ich in der Hölle durchlebe, vermehren sich die Jahre, die ich darin zu verbleiben habe. Natürlich ist das nur ein menschliches Bild für den Zustand, für das Je-mehr der Aussichtslosigkeit.« Es ist das »vollendete Grauen«. Aber A. ist hier nicht als »Verdammte«, sondern in einer paradoxen Nachfolge, sie muß die »Spuren« des Herrn suchen, von dem sie weiß, daß er hier hindurchgeht oder -gegangen ist, aber die Spuren bleiben unsichtbar: der tote Christus ist in der Hölle nicht mehr aktiv. »Folgt man auf Erden dem Herrn oder seinen Heiligen, so findet man überall Spuren; Spuren der Gnade, des Dort-gewesen-Seins, Dort-gesprochen-Habens.« In der Hölle nicht. »Man versucht, seinen Spuren nachzugehen und merkt dabei, daß es nicht geht.« »Man geht den Fußstapfen des Herrn nach, und doch kennt man sie nicht.« »Vergeblichkeit« ist der Name dieses Zustands.

Die Substanz der Hölle

Warum muß der Sohn durch die Hölle hindurch zum Vater zurückkehren? Es gibt viele Aspekte dieses Mysteriums. Ein erster: er muß von »innen her sehen«, was das Ergebnis seiner Passion ist: die Trennung der Sünde von den Sündern. »Die Höllenfahrt ist die Schau des gewirkten Werkes.« Die Hölle ist die Wirklichkeit der von der Welt getrennten Sünde. »Die Sünden, denen der Herr in der Hölle begegnet, sind Sünden ohne Sünder.« Aber Sünden, denen die Menschen etwas von ihrer eigenen Realität gegeben haben.

A. erlebt diese Substanz geradezu sinnenhaft, es kehren immer die gleichen Bilder wieder, von denen sie doch weiß, daß sie nur Stützen sind, um die unerhörte Konkretheit der durch das Kreuz überwundenen Sünde zu verdeutli­chen. Immer ein unermeßlicher, brauner, stinkender Strom, der sich tot und mechanisch bewegt, den man hautnah spürt, schmeckt, riecht, tastet, ohne darin einzutauchen; darin schwimmen, versinkend, ins Formlose übergehend, Ballen von einzelnen Sünden, aber (A. sagt es immer wieder) jede Sünde ist eben Sünde, alle gehören zur gleichen Substanz. »Es ist ein Rinnen, das nie vorbeigeht.« Und es gibt wie Balken in den Strom hinaus, »dazu dienend, die abgelegten Sünden des Reinigungsortes in den Höllenstrom abzuladen«. Jeden Karsamstag erlebt A. diesen »ganz langsamen Fluß der formlos gewordenen Sünden«, und mit »bloßem Anschauen ist es nicht getan, man muß dran«, muß ihn im Mund haben: »fad, erdig, ranzig«. »In der Hölle wird der Mensch mit seiner Sünde konfrontiert: in diesem stinkenden Schlamm muß er sich erken­nen. Und dies jetzt. Das bin ich.« Der Strom fließt, aber er »stagniert« zugleich, »er fließt in keine Zukunft hinein, sondern durch das Jetzt in das Jetzt«. »Es ist nicht schmerzhaft, sondern einfach grauenhaft, unendlich dumpf«, »luftlos, erstickend«, »ausgangslos«. Die Sünden können auch die Form einer »Höhle annehmen, in der man sich duckt, um an Felskanten vorbeizukommen, aber gar nicht auf alles gleichzeitigachtgeben kann; man versucht, mit der Schulter nicht anzustoßen, und im gleichen Moment rennt man mit dem Kopf an«.

Die Effigien

Der Herr begegnet in seinem Gang durch die Hölle nicht nur der sich ins Formlose auflösenden Sünde, sondern auch dem, was A. die »Effigien« genannt hat, dem Abdruck dessen, was vom einzelnen Sünder wegverdammt worden ist, denn jeder, der sündigt, gibt etwas von seinem persönlichen Sein an die Sünde weg. Indem der Herr an die einzelne Effigie herantritt, wird sie irgendwie »ausgelöscht, aber es bleibt davon wie ein Rahmen, eine Erinnerung bis zum Jüngsten Gericht bestehen. Zudem erhält die Effigie, vom Herrn berührt, einen Sinn innerhalb des Kampfes des Menschen gegen die Sünde in der Welt. Augustinus zum Beispiel will, daß seine Sünde künftig den übrigen zur Abschreckung diene . . . Die Effigie ist auch das Objektive innerhalb des Subjektiven der Beichte. An die Effigie hat sich der Beichtende zu halten, und zwar an die vom Herrn berührte«, dann erkennt er nicht nur seine einzelnen Akte, sondern seinen Habitus, der »für den Sünder viel kennzeichnender« ist. Der Herr seinerseits »sieht in den Effigien, den unzähligen, die ganzen Schicksale der einzelnen Menschen, für die er gelitten und die er zurückgeholt hat«.

Das zweite Chaos

»Beim Erschaffen der Welt ging Gott in das Chaos hinein, um es zu ordnen.« »Von Schöpfungstag zu Schöpfungstag sieht man es schwinden.« Aber indem Gott dem Menschen die Freiheit schenkt, bleibt »ein Stückchen Chaos« in der Schöpfung übrig, das der Mensch, sündigend, in die Ordnung einbrechen lassen kann. »Die Freiheit der Wahl ist etwas Neutrales, und darin dem Chaos verwandt.« »Die Apokalypse ist voller Beweise dafür, daß es das (zweite) Chaos gibt; es kann entsiegelt werden.« Und da der Mensch es hervorgebracht hat, geht Gott »neu in das Chaos hinein, jetzt nicht mehr als Schöpfer, sondern als Zerstörer«, als Erlöser. Die Hölle ist das von der am Kreuz neugeordneten Welt abgeschiedene zweite Chaos. Was der Schöpfer ordnend schied, war »kristallklares Wasser«; was vom Sünder weggeschieden wird, ist »das reine Gegenteil«, der Pfuhl als »Restprodukt«. »Das Chaos ist das, woraus etwas wurde, die Hölle ist das, wohinein etwas wird.« »Wenn ein Mensch bei der Weltschöpfung dabeigewesen wäre, so hätte er es nicht für möglich gehalten, daß Gott aus dem Chaos eine Ordnung schaffen könnte; ebensowenig glaubt die leidende Menschheit, daß der Herr am Kreuz eine Heils-Ordnung zu schaffen vermag. Wir müssen schon erlöst sein, um an die Möglichkeit der Erlösung der Welt durch das Leiden des Herrn zu glauben.« »Die gestaltete Hölle muß umgestaltet werden in das gestaltlose Chaos.«

Indem der Vater den toten Sohn durch die Hölle führt, zeigt er ihm nicht nur, was sein Leiden bewirkt hat, sondern führt ihn, den menschgewordenen Erlöser in das letzte Geheimnis des Vaters als des Schöpfers ein. Das heißt aber, wie A. vielfach ausführt, nicht nur, daß der Sohn mit der letzten Liebesverant­wortung des Vaters konfrontiert wird, sofern dieser die menschliche Freiheit geschaffen hat und gewähren ließ, sondern daß der Sohn (als der Menschgewor­dene) jetzt in das letzte Geheimnis seines eigenen Ursprungs eingeweiht wird. Gewiß ist »das Chaos Hölle eine Dunkelheit des Vaters; aber es gibt (dahinter) noch die Dunkelheit als das Geheimnis des urzeugenden Vaters, seiner Väterlichkeit selbst«. Eine solche Offenbarung des Vaters an den Sohn kann aber nur im tiefsten Schweigen, gleichsam in einer »Abwendung voneinander«, in der »äußersten Diskretion der Liebe« erfolgen. Auch innerhalb des ewigen dreieinigen Lebens spricht A. öfter von dessen Fülle und dauernden Neuheit so, daß es, menschlich gesprochen, für Gott selbst immer neue »Überraschun­gen«, immer neues »Überwältigtwerden« bereithält. Jetzt ist es der Sohn als Menschgewordener, der in das unfaßliche Geheimnis der väterlichen Frucht­barkeit eingeführt wird. »Er hat bisher mit dem Vater im Vertrauen zusammen­gelebt, hat aber noch nicht in das letzte Verlies des Vaters gesehen, seine ganze Unbegreiflichkeit, das Geheimnis des Ursprungs der väterlichen Zeugungs­kraft selbst.« So ist »der Karsamstag fast mehr ein Tag des Vaters als ein Tag des Todes und der Hölle. Er ist der geradeste Weg zum Vater. An diesem Tag wird dem Sohn nichts erspart.« »Er muß jetzt, um die Dunkelheit des Vaters zu sehen, den Inbegriff aller menschlichen Abwendungen sehen«, das heißt jeden möglichen Mißbrauch der väterlichen Liebe, die der Vater zuläßt — letztlich im Vertrauen auf die äußerste Liebe des Sohnes. »Der Menschensohn geht ein in die trinitarische Geburt.«

Absoluter Gehorsam

Der Gehorsam des menschgewordenen Sohnes war immer schon der soteriologische Modus seiner ewigen Liebeshingabe an den Vater. Wenn die Sendung Jesu mit dem Tod am Kreuz »vollbracht« ist und er dort seinen Sendungsgeist dem Vater zurückgibt, so ist der Gehorsam des toten Herrn eine letzte, unerwartete und unberechenbare Überforderung. »In den Kelch wird immer noch Neues hineingetan, ohne Rücksicht darauf, daß er schon übervoll ist.« Es ist einerseits ein Gehorsam ohne mögliche Einsicht, da der Sohn den Vater dort suchen muß, wo er nicht sein kann, im von Gott Verworfenen. Er ist anderseits kein aktiver Gehorsamer mehr, »er hat keine Leistungskraft übrig«, »er wird mehr gegangen, als daß er geht«, er ist »reine Funktion« geworden, »ein Zwang, den man sich selbst auferlegt, nein: auferlegt hat«. Er ist reine Objektivität, wie auch das in der Hölle Erfahrene, die Weltsünde, reine Objektivität ist; »zwischen dem Herrn und der Sünde gibt es kein waltendes Gesetz, sondern bloße Konfrontation ohne Gesetz«. So gibt es keine Phasen, kein Aufarbeiten, sondern in jedem Aspekt des Erfahrenen liegt immer das Ganze, wie die Erfahrung den ganzen Gehorsam ins Spiel bringt. Was hingenommen werden muß, ist »das Unverständliche der Sünde in der Hölle«. Dieses Unverständliche und seinen »Widerspruch« in Zeitlosigkeit aufnehmen zu müssen, erzeugt die spezifische »Höllenangst«, es ist das absolut »Unmenschliche«. Der Ruf am Kreuz war subjektive Verlassenheit mitten im geleisteten Gehorsam, die Verlassenheit in der Hölle ist rein objektiv, ist ein »Übergehorsam«.

Die brennenden Seelen

In dieser Hölle hat A. nie irgendjemanden gesehen. Irgendwo, während des Abstiegs auf den Grund, sah sie, von Gott abgekehrt, Seelen, denen Fackeln gegeben waren, um sich in diese zu stürzen, aber sie weigerten sich einstweilen, brennen zu wollen. »Keiner wollte sich öffnen und hingeben. Es waren unabsehbare Scharen, eine endlose Prozession.« Das war ein so schrecklicher Anblick, daß A. in immer größere Unruhe kam: »Sie müssen bereuen, müssen um jeden Preis brennen.« Ich sah A, aufstehen und, an die Wand gelehnt, die Gebärde des Aufnehmens machen, immer mühsamer, bis sie wie tot zu Boden sank und sich schwer verwundete. Sie erklärte mir nachher: Sie übergaben mir ihre Fackeln, und nun konnten sie brennen. »Brennen heißt: zu seiner Sünde stehen, ins Fegfeuer stürzen, die Sehnsucht nach Reinigung bekunden.« »Man läßt sie angesichts der Hölle stehen, so lange, bis ihnen der Entschluß kommt, zu brennen.«

Eine danteske Szene

Einmal beim Abstieg »hob A. die Hand und schaute gespannt und erschreckt. Sie flüsterte: Sehen Sie? Es sind die Abtrünnigen. Ich bat sie mit gewöhnlicher Stimme um Erklärungen. Sie winkte ab: Sprechen Sie ganz leise. Jetzt sehe ich ihre Gesichter. Es sind alle, die den Ruf Gottes überhört haben: zum Priestertum oder Ordensstand oder zur Taufe oder zur Kirche oder zu irgendeiner besonderen Nachfolge. Ich weiß nicht, wo sie sind, jedenfalls nicht ganz zuunterst bei den ganz Groben. Ich bin noch nicht so weit unten, man kann ihnen helfen . . . Leise, leise. Wissen Sie, es ist ihnen arg, wenn man sie sieht. Sie schämen sich so, wenn einer hindurchgeht, der nicht zu ihnen gehört.«

Jedenfalls ist nach A. der Karsamstag, der Tag des Durchgangs des toten Erlösers durch die Hölle, der eigentliche Ursprung des Fegfeuers, wobei man gut daran tut, alle irdische Chronologie aus dem Spiel zu lassen. Im Bild gesprochen: wenn vorher der Teufel an einer langen Kette gebunden war, so wird jetzt »diese Kette so verkürzt, daß der Teufel in den letzten Winkel der Hölle zurückgedrängt wird; damit ist die Unterwelt zur Geburtsstätte des Fegfeuers geworden«.

Der Einsturz

In den Erfahrungen der letzten Lebensjahre kam zum Erlebnis des »Stromes«, der »Höhlen«, der »Effigien« ein neues, erschreckendes Motiv hinzu. Zuerst sagte A.: »Der Strom, den man vorbeirinnen sah, wandelte sich plötzlich in etwas wie einen Wasserfall. Er stürzte auf einen zu, man wurde zwar nicht berührt, aber fühlte sich furchtbar bedroht, es war atemberaubend.« Später schilderte sie es so: »Mitten im Fluß wie in den Höhlen gab es plötzlich wie ein Hinunterstrudeln, im Fluß an vielen Orten zugleich: auf einmal ein Einbruch, ein Wirbel in die Tiefe, ein großes Stück wird hinuntergesogen, in eine tiefere Hölle. Wie Krater. Dasselbe in den Höhlen. Nicht die Höhle bricht ein, sondern ein Stück von ihr bricht in die Tiefe.« »Das zu sehen ist schrecklich angstvoll. Es ist verloren. Aber was verloren ist, kann man nicht sagen. Und wenn alles lautlos versunken ist, hört man plötzlich ganz weit unten schreckli­che Laute. Man kann nicht sagen: menschliche Laute, auch nicht tierisches Gebrüll. Es ist die Angst, die ruft, der Schrecken, der brüllt.«

Letztlich ist das die Selbstzerstörung der Hölle, die als ganze immer schon als die Auflösung der vom Menschen geformten Sünde in das formlose Chaos erlebt worden war.

Fragmentarische Erfahrung

Was hier umrissen wurde, ist nur Ausschnitt aus den weitverzweigten Erfah­rungen A.’s. Viele bei ihr wichtige Themen konnten nicht zur Sprache kommen: etwa das Verhältnis zwischen dem Durchgang Jesu durch die Flölle zu seinem im Grab liegenden Leib (ein viel komplexeres Thema, als man annehmen möchte), sodann die Rolle des Heiligen Geistes am Karsamstag, die Form des überdauernden Glaubens Marias und der Kirche während dieses Tages des Schweigens Gottes, die Geburt der Sakramente, insbesondere der Beichte aus dem Karsamstag und andere Themen.

Aber auch mit all diesen Motiven zusammen bleiben die Auswortungen — das wurde immer stark betont — fragmentarisch. Die Theologie des Karsams­tags kann nicht systematisch gedacht und geschrieben werden. Er ist der Tag, da Gottes Wort schweigt, und auch wenn dieses Schweigen der lebendige Hintergrund alles Redens Gottes ist und alles Gotteswort aus diesem Schwei­gen hervorgeht und dorthin zurückgeführt werden muß, um als göttliches Wort verstanden zu werden: auch dann bleibt das Schweigen des Karsamstags etwas vom übrigen Schweigen Gottes Verschiedenes. Es war eine besondere Gnade, daß hier ein ganz reiner und gehorsamer Mensch etwas von dieser letzten Erfahrung des menschgewordenen Gotteswortes miterfahren durfte, vor dem alle Knie sich beugen, nicht nur im Himmel und auf Erden, sondern auch »unter der Erde«, und der »die Schlüssel des Todes und der Hölle« in Händen hält.

Man wird, wenn man die geschilderten Erfahrungen ernst nimmt, sich voreiliger Schlüsse in Richtung auf eine systematisierte Allerlösungslehre enthalten. Wir haben die Zeitlosigkeit des Kreuzes und die (nochmals andersar­tige) Zeitlosigkeit oder Ewigkeit der Hölle betont. Für den, der sie erlebt, existiert weder Vergangenheit noch Zukunft. Das hat für die Erfahrung der dunklen Nacht auch Johannes vom Kreuz betont.

A. erlebte Ostern und die Auferstehung immer in einem unteilbaren »Nu«, übergangslos. »Wenn das Maß voll ist — aber niemand kann wissen, wann das ist, es liegt im Dunkel des Vaters eingehüllt —, erfolgt die Umkehr.« »Sie ist plötzlich da mit ihrer ganzen Fülle.« Auch mit der Fülle der Hoffnung für alle: »Mit dem Sohn zusammen erweckt der Vater alle Sünder, sie haben Zugang zu Gott.«

Dahinter aber liegt ein letztes Geheimnis: daß der Durchgang durch das Dunkel der Welt nicht sinnlos gewesen ist und ebensogut hätte wegbleiben können: »Es gibt nichts Beglückenderes als den Gedanken, daß Leiden und Freude durch den Herrn zu einer unauflöslichen Einheit geworden sind. Die Wechselbeziehung bleibt. Es ist ein echt sohnliches Geheimnis, daß der Sohn etwas von der Müdigkeit der Seinen mit sich nimmt und mitten in der Freude nicht vergißt. Er zeigt damit dem Vater, daß das Erlösungswerk so angelegt ist, daß es nicht abhängig ist vom Weiterleben und -leiden des Sohnes auf Erden. Es zeigt ihm anderseits seine Dankbarkeit für das ihm verstattete Leiden, das er nicht einfach als Abgetanes hinter sich lassen und vergessen will. Auch die Leidensfähigkeit des Menschen gehört zum Gutsein der Schöpfung.«

Quelle: Communio. Internationale Katholische Zeitschrift 10 (1981), S. 32-39.


[1] Vgl. H. U. v. Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. 2. Aufl. 1975, Johannesverlag Einsiedeln. Italienisch bei Jacabook. Milano, französisch bei Apostolat des Editions. Paris.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar