Von Reinhold Schneider
»Denn wenn die Toten nicht auferweckt würden, so wäre auch Christus nicht auferweckt worden; wäre aber Christus nicht auferweckt, so wäre unser Glaube nichtig – und ihr wäret noch in euren Sünden, und dann wären auch die in Christus Entschlafenen verloren – und wir, wenn wir in diesem Leben auf Christus die Hoffnung setzen, wären erbarmungswürdiger als alle Menschen.« (1 Kor 15, 17-19)
Christus hat durch Leiden gesiegt; aber solange dieses Leiden währte, blieb der Sieg verhüllt im Anschein der entsetzlichsten Niederlage; die trauervolle Enttäuschung der Emmausjünger währte bis zum dritten Tage zu Recht. Die Berufung zum Leiden ist Berufung zum Christentum. Es geht nicht um das Leiden, das den Menschen läutert und reifen läßt; nicht um die Überwindung des Leidens: das Christentum überwindet nicht; es nimmt an. Es geht darum, daß der Christ seines Erlösers Sterben allzeit an seinem Leibe trägt: an den Malen dieses Leidens wird ihn der Erlöser erkennen; darum geht es, daß der Christ, der in diesem Leben auf Christus hofft, sich als der elendeste aller Menschen erweist (1 Kor 15, 19). Aber leben und reden wir nicht, als ob wir die doppelte Hoffnung hätten: die für die Erde und die für den Himmel?
An der Bereitschaft zum Leiden, an der Anlage dazu, vollzieht sich innerhalb des Menschlichen eine Unterscheidung des Christlichen. Der Nicht-Glaubende kann, wenn er sehr stark ist, das Leiden annehmen als Steigerung — oder es wird ihn zur Verneinung des Lebens, der Welt bewegen; oder — und das ist weitaus das häufigste – er wird sich seiner ganzen Wirklichkeit nicht stellen; er wird es für heilbar halten und zu besiegen suchen. Aber die Welt ist unheilbar. Selbst wenn sich keine geschichtlichen Katastrophen ereignen, übersteigt das tatsächliche Leiden der Menschen und Kreaturen jede Möglichkeit des Ermessens, der Aussage. Und noch einmal wird jede Möglichkeit selbst der Ahnung aufgehoben von den Gefahren, die diese Stunde überschatten. In der Einschätzung der erdrückenden Übermacht des Leidens – und zwar allen Lebens – haben die Religionsstifter und Denker des Ostens recht; sie hätten auch in der Schlußfolgerung recht, wenn Christus nicht das Leiden der Welt an sich gerissen hätte; wenn nicht auf dem Sterben mit ihm die Verheißung des Lebens läge. Daß das Leiden durch die Annäherung an Christus selber zum Werte wird: das ist das Unerhörte des Christentums; damit ist zunächst nicht ein Trost, eine Hilfe gemeint: der Christ stirbt hinüber in Christus, um mit ihm aufzuerstehen; er wird der Welt gekreuzigt und in ihm die Welt.
Und doch — das ist einer der großen Widersprüche der christlichen Existenz – soll der Christ helfen; das heißt: er soll in jedem Leidenden Christus erkennen und lieben. Der Christ ist an ein Meer gerufen, das er mit einem Becher ausschöpfen soll. Aber das heißt nur: Christus ist da in unüberschaubaren Gestalten, Bildern seiner Qualen und seiner Erniedrigung, seines Bittens und Drängens. Je mehr sich die Geschichte ihrem verborgenen Ziele nähert, um so mehr wird sich das Leiden auch steigern, vor allem das geistige und seelische; eine Verlassenheit des Christen in der Welt – auch in der sich christlich nennenden – wird vielleicht noch erfahren werden müssen, für die wir nur wenige Beispiele haben. Es kann den Anschein haben, als ob sich auch der Himmel verschließen würde: dies bedeutet nur, daß uns Christus ruft, ihm nachzufolgen in seine dunkelste Stunde. Der Sturm kann die schwachen Zweige losreißen und in die Nacht wirbeln, es ist keine sichtbare Verbindung mehr mit dem Stamme. Aber es bleibt die Wahrheit, daß Christus noch einsamer war am Kreuze und daß er allein, Auge in Auge mit dem Versucher, auf den Zinnen des Tempels stand. Alles Leiden ist sein Eigentum geworden; leidend werden wir es auch.
In der Passion ist das Leiden des Geschaffenen zusammengefaßt mit einer das Menschliche weit übersteigenden Kraft; und doch ist damit das vorgesetzte Maß nicht erfüllt: der Christ soll leisten, was zum Leiden der Kirche, zur Vollendung der geschichtlichen Gestalt des verborgenen Christus noch fehlt. Dieses letzte, entscheidende Leiden als Teilhabe an der Passion, hat keine äußere Gebärde: »Präge mir dein Kreuz ein, daß es zur Gestalt meines Lebens werde; daß mein innerstes Leben seine Gestalt annehme«: das könnte das Gebet solchen Leidens sein. Menschen, deren geheimstes Wesen auf diese Weise nach dem Kreuze geformt ist, sind Christen; sie werden hellsichtig für das Leiden der Welt und erblicken, ahnen, fühlen, was verborgen ist oder kommt; sie werden also auf eine entsetzliche Weise vom Leiden überstürmt und überfordert. Und das bedeutet doch nur, daß sie die Unzerbrechlichkeit des Kreuzesstammes erfahren, der trägt, was eine jede Kraft und Macht des Geistes wie des Willens und der Geschichte knicken muß. Nicht vom Weltenthrone, sondern vom Kreuze her wird Christus alles an sich ziehen.
So ist auch das Leiden dieser Zeit, das offene und verborgene – vor beiden sind wir auf der Flucht – des Erlösers unerhörte, an sich reißende Kraft, spürbar denen, deren Lebensgestalt das Kreuz ist. Alles christliche Leiden ist weltumfassend: dazu hat Christus das Leiden erhöht. Je näher wir ihm kommen würden, um so tiefer müßten wir im Persönlichen wie im Dasein des Nächsten und des Geschöpfes das eine, unermeßliche Leid fühlen, das die Welt ans Kreuz zieht, durch das sie gerettet wird. Auch das Zerbrechen, auch die Verzweiflung fällt in seine Macht. Das Kreuz kann hoch im Lichte erfahren werden von Begnadeten – und tief unten in den Schluchten, in die kein Strahl fällt; es steht ja in der Mitte aller Kreise des Geschaffenen. Der Christ wird entdecken, daß nicht seine Bestimmung, nicht seine Aufgabe das Letzte war, das ihm gesendet wurde, sondern das Kreuz, das sich in ihnen verbarg, und er wird ahnen, daß es verhüllt war in seiner Liebe und ihn mit deren Kräften zog; und er wird verstehen, daß es die Bestimmung seiner Feinde war, ihm das Kreuz zu reichen: so wie die Geschichte, der er ausgeliefert ist, es ihm auf stürzenden Wogen zuträgt. Daß alle Erfahrungen und Kräfte daran arbeiten, im geheimen das Kreuz in ihm zu bilden, ist sein Friede in dieser Welt.
Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 1978, S. 405-408.