Paul Tillich, Flucht vor Gott. Eine Auslegung von Psalm 139 (Religiöse Reden): „Die verborgensten Regungen in der Tiefe unserer Seele sind nicht ganz die unseren, denn sie ge­hören auch unseren Freunden, der Menschheit, dem Univer­sum und dem Grund alles Seins, dem letzten Ziel unseres Le­bens. Nichts kann im letzten verborgen bleiben. Es wird in dem Spiegel reflektiert, in dem nichts verheimlicht werden kann.“

Flucht vor Gott. Eine Auslegung von Psalm 139

Von Paul Tillich

Herr, Du erforschest mich und kennest mich.
Ich sitze oder stehe auf, so weißt Du es; Du verstehest meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so hist Du um mich und siehest alle meine Wege.
Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das Du, Herr, nicht alles wissest.
Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir.
Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen.
Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht?
Führe ich gen Himmel, so bist Du da. Bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist Du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
So würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken!, so muß die Nacht auch Licht um mich sein.
Denn auch die Finsternis nicht finster ist bei Dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.
Denn Du hast meine Nieren bereitet und hast mich bedeckt im Mutterleibe.
Ich will Dich preisen, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind Deine Werke, und das erkennet meine Seele wohl.
Es war Dir mein Wesen nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward tief unter der Erde.
Deine Augen sahen mein Wesen, da ich noch unbereitet war. Und alle meine Tage waren in Dein Buch geschrieben, als derselben keiner da war.
Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, Deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe.
Sollte ich sie zählen, so würden ihrer mehr sein denn des Sandes. Wenn ich aufwachte, würde ich noch dabei sein.
Ach Gott, daß Du tötest die Gottlosen und die Blutgierigen von mir weichen müßten!
Denn sie reden von Dir lästerlich, und Deine Feinde gebrauchen Deinen Namen umsonst.
Hasse ich nicht Herr, die Dich hassen, und bin ich nicht un­willig über die, die sich wider Dich setzen?
Ich hasse sie mit unbegrenztem Haß; sie sind mir zu Feinden geworden.
Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ichs meine!
Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.  Psalm 139.

„Wo soll ich Eingehen vor Deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht?“ Das sind die Worte, die im Zentrum des 139. Psalms stehen. Sie behaupten in der Form einer Frage die unentrinnbare Gegen­wart Gottes. Wir wollen diese Behauptung und die machtvol­len Bilder näher betrachten, in denen der Psalmist sie auszu­drücken versucht. Mann kann Gott nicht entrinnen. Er ist nur Gott, weil man ihm nicht entrinnen kann. Und nur das Unentrinnbare ist Gott.

Es gibt keinen Ort, wohin wir vor Gott fliehen können — keinen Ort, der außerhalb Gottes ist. „Führe ich gen Himmel, so bist Du da.“ Es scheint natürlich für Gott zu sein, daß er im Himmel thront, und unnatürlich für uns, in den Himmel auffahren zu wollen, um ihm zu entfliehen. Aber gerade das haben die Idealisten aller Zeiten versucht. Sie haben den Sprung in einen Himmel der Vollkommenheit und der Wahr­heit, der Gerechtigkeit und des Friedens versucht, wo man Gott nicht braucht. Das ist jedoch ein von Menschen ge­machter Himmel ohne die drängende Unruhe des göttlichen Geistes und ohne die richtende Gegenwart des göttlichen Ant­litzes. Aber solch ein Ort ist „kein Ort“. Er ist eine „U-topie“, eine idealistische Illusion.

„Bettete ich mich in der Hölle, siehe, so bist Du da.“ Hölle oder Scheol, der Ort der Toten, scheint der rechte Ort zu sein, zu dem man fliehen könnte, um sich vor Gott zu verbergen. Und dorthin versuchen die zu fliehen, die sich nach dem Tode sehnen, um den göttlichen Forderungen zu entrinnen. Ich bin überzeugt, daß kein einziger unter uns ist, der sich nicht manchesmal gewünscht hätte, das Leben von sich zu werfen, um sich von der Last seiner Existenz zu befreien. Und ich weiß, daß das für manche unter uns eine tägliche Versuchung ist. Aber in der Tiefe seines Herzens weiß jeder, daß der Tod keine wirkliche Ausflucht ist vor der inneren Forderung, die ihm auferlegt ist.

„Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten.“ Wir könnten ans Ende der Welt fliehen und könnten doch Gott nicht entrinnen. Aber gerade das versucht unsere technische Zivilisation, um das Wissen zu betäuben, daß wir keinen Sinn und keine Mitte mehr in un­serem Leben finden können. Der moderne Weg, Gott zu ent­fliehen, ist der „Fortschritt“, das Vorwärts-Jagen in jeder Beziehung, der Wille, vorzustoßen in Raum und Zeit, so weit wie möglich, so schnell wie möglich. Nie ruht die Tätigkeit des modernen Menschen, nie läßt sein Planen nach, die Enden nicht nur der Erde, sondern des Universums will er erreichen. Aber Gottes Hand fällt auf uns, und sie ist schon schwer und vernichtend auf die Zivilisation gefallen — unsere Flucht er­wies sich als vergebens.

„Spräche ich, Finsternis möge mich decken, so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch die Finsternis nicht finster ist bei Dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag.“ Wenn man auch in die Finsternis flüchtete, um Gott zu vergessen, so könnte man ihm doch nicht entrinnen. Eine Zeitlang können wir ihn aus unserem Bewußtsein verdrängen, ihn von uns weisen, ihn widerlegen, seine Nichtexistenz behaupten, ohne ihn leben, aber im letzten- Grunde wissen wir, daß nicht er es ist, den wir widerlegen und verdrängen, sondern sein verzerr­tes Bild. Und wir wissen, daß wir ihn nur deshalb verneinen können, weil er uns dazu treibt, ihn zu verneinen. Es gibt keine Flucht vor Gott, auch nicht im Verdunkeln und Ver­drängen.

„Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht?“ Der Dichter, der diese Worte schrieb, war überzeugt, daß der Mensch den Wunsch hat, Gott zu entrinnen. In dieser Überzeugung steht er nicht allein. Menschen aller Art, Propheten und Reformatoren, Heilige und Atheisten, Gläubige und Ungläubige, haben die gleiche Erfahrung gemacht. Man kann sogar sagen: ein Mensch, der niemals versucht hat, Gott zu entfliehen, hat niemals den Gott erfahren, der wirklich Gott ist. Wenn ich von Gott spreche, so meine ich nicht die vielen selbstgemachten Götter, mit denen es sich ganz bequem leben läßt, denn es liegt kein Grund vor, einem Gott zu entfliehen, der das vollkommene Bild des Guten im Menschen ist.Warum sollte man vor einem so weit entfernten Ideal fliehen wollen? Und es gibt auch keinen Grund, einem Gott zu entfliehen, der einfach das Uni­versum ist oder das Naturgesetz oder der Lauf der Geschichte. Warum einer Wirklichkeit zu entfliehen versuchen, von der wir selbst ein Teil sind? Es gibt keinen Grund zur Flucht vor einem Gott, der nichts weiter ist als ein wohlwollender Vater — ein Vater, der uns Unsterblichkeit und ewiges Glück ver­heißt. Warum vor jemanden fliehen, der uns so freundlich hilft? Nein, das alles sind keine Bilder von Gott, sondern vom Menschen selbst, der versucht, sich von Gott ein Bildnis für seine eigenen Zwecke zu machen. Das sind Produkte menschlicher Einbildung und Wunschbilder, die mit vollem Recht von jedem aufrichtigen Atheisten geleugnet werden. Ein Gott, den wir leicht ertragen können, ein Gott, vor dem wir uns nicht verbergen müssen, ein Gott, den wir nicht hassen, ein Gott, dessen Vernichtung wir niemals wünschen, ist in Wahr­heit kein Gott. Er existiert nicht!

Friedrich Nietzsche, der große Atheist und erbitterte Feind der Religion und des Christentums, wußte mehr von der Mächtig­keit der Gottesidee als viele gläubige Christen. In einer sym­bolischen Erzählung sagt Zarathustra, der Prophet des „Höheren Menschen“ zu dem „Häßlichsten Menschen“, dem Gottesmörder: „Du ertrügst den nicht, der dich sah, der dich immer durch und durch sah… du nahmst Rache an diesem Zeugen … du bist der Mörder Gottes.“ Der „Häßlichste Mensch“ stimmt Zarathustra zu und erwidert: „Er mußtester­ben.“ Denn der „Häßlichste Mensch“ weiß, daß Gott mit Augen sieht, die alles sehen; er sieht des Menschen Tiefen und Abgründe, all seine verhehlte Schmach und Häßlichkeit. Der Gott, der jedes Ding sieht, ist der Gott, der getötet werden muß. Der Mensch kann es nicht ertragen, daß solch ein Zeuge lebt.

Sind wir fähig, einem solchen Zeugen standzuhalten? Der Psalmist sagt: „Herr, Du erforschest mich und kennest mich.“ Wer könnte es ertragen, so völlig bis in die dunkelsten Winkel seiner Seele durchschaut zu werden? Wer möchte einem sol­chen Mitwisser nicht entrinnen? Und wer möchte nicht schließ­lich zum Atheisten werden, um Gott zu beseitigen? „Ich sitze oder stehe auf, so weißt Du es, ich gehe oder liege, so bist Du um mich, alle meine Wege sind Dir offen.“ Gott weiß, was wir sind, und er weiß, was wir tun. Wer haßt nicht solch einen Gefährten, der immer gegenwärtig ist — auf jedem Weg und in jedem Zufluchtsort? Wer möchte nicht aus diesem Gefäng­nis einer ständigen Mitwisserschaft ausbrechen? „Du verstehst meine Gedanken von ferne… Herr, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das Du nicht weißt.“ Die Gegenwart Gottes hat geistigen Charakter. Sie dringt in die innersten Bezirke unseres Geistes ein. Unser ganzes Innenleben, unsere Gedan­ken und Wünsche, unsere Gefühle und Phantasien sind Gott bekannt. Das letzte Ziel der Flucht, mein Selbst, dieser nur ihm vertraute Ort, ist in der Sicht Gottes. Das zu ertragen, wird uns am schwersten. Der menschliche Widerstand gegen eine so unbarmherzige Nähe kann kaum gebrochen werden. Jeder Psychiater und Beichtvater kennt die Macht des Wider­standes gegen jede Selbstoffenbarung. Niemand möchte er­kannt werden, selbst wenn er weiß, daß seine Gesundheit und seine Heilung von solch einer Erkenntnis abhängen. Ja, wir wollen nicht einmal von uns selbst erkannt werden. Wir ver­suchen die Tiefen unserer Seele vor unseren eigenen Augen zu verbergen. Wir wehren uns dagegen, Zeuge unserer selbst zu sein. Wie können wir dann dem Spiegel standhalten, in dem nichts verborgen bleiben kann?

Hat der „Häßlichste Mensch“ recht? Er ist das Symbol der Häßlichkeit, die in jedem von uns ist, und er ist das Symbol für unseren Willen, wenigstens etwas davon vor Gott und vor uns selbst zu verbergen. Der „Häßlichste Mensch“ und seine Ablehnung Gottes wird bestätigt von Heiligen, Theo­logen und Reformatoren. Martin Luther war ebenso wie un­ser Psalmist von der alles durchdringenden Gegenwart Gottes ergriffen. Er wußte, daß Gott jeder Kreatur näher ist als diese sich selbst. Gott umfaßt alle Dinge, er ist in allen Din­gen. Aber diese allerinnerste Gegenwart Gottes erweckte in Luther dasselbe Gefühl wie in Nietzsche. Er wünschte, daß Gott nicht Gott sei. Er bekennt: „Ich liebte Gott nicht, ich haßte den gerechten Gott… ich war zornig auf ihn, wenn schon nicht in mutwilliger Auflehnung, so doch in heimlicher Lästerung.“ Und er fuhr fort, in den Spuren des hl. Bernhard, des großen Meisters religiöser Selbstbetrachtung: „Wir kön­nen Gott nicht lieben, und deshalb wollen wir, daß er nicht existiere. Wir können es nicht wollen, daß er der Weiseste und Mächtigste ist.“ Luther erschrak tief, als er den Haß ge­gen Gott in sich entdeckte. Er war nicht imstande, diesem Haß ebenso schlau zu entfliehen wie seine theologischen Leh­rer, die ihm rieten, er solle nicht beständig an die richtende Gegenwart Gottes denken und so die Blasphemie des Gottes­hasses vermeiden. Luther wußte ebenso wie der Psalmist, daß ein Entrinnen nicht möglich ist. „Von allen Seiten um­gibst Du mich und hältst Deine Hand über mir.“

Der fromme Mann des Alten Testaments, der heilige Mysti­ker des Mittelalters, der Reformator der christlichen Kirche und der Prophet des Atheismus stimmen in der einen ungeheu­ren menschlichen Erfahrung überein: „Der Mensch kann dem Gott nicht standhalten, der wirklich Gott ist.“ Der Mensch versucht, Gott zu entfliehen, und haßt ihn, weil er ihm nicht entfliehen kann. Der Protest gegen Gott, der Wunsch, es möge keinen Gott geben, und die Flucht in den Atheismus, das alles sind echte Elemente tiefer Religiosität. Und nur auf der Grundlage dieser Elemente hat die Religion Sinn und Macht. Die christliche Theologie und die religiöse Unterweisung spre­chen von der göttlichen Allgegenwart (der Lehre, daß Gott überall ist) und der göttlichen Allwissenheit (der Lehre, daß Gott alles weiß). Es ist schwierig, solche Begriffe im religiö­sen Denken und in der religiösen Erziehung zu vermeiden. Aber sie sind sicher ebenso gefährlich wie nützlich. Sie geben uns die Vorstellung von Gott als von einem Ding mit über­menschlichen Eigenschaften — allgegenwärtig wie ein elektri­sches Kraftfeld und allwissend wie ein übermenschliches Ge­hirn. Solche Begriffe wie „göttliche Allgegenwart“ und „gött­liche Allwissenheit“ verwandeln eine überwältigende reli­giöse Erfahrung in eine abstrakte Behauptung, die man an­nehmen oder ablehnen, definieren und auswechseln kann. Wenn die Theologie Gott zu einem Objekt neben anderen Objekten macht, dessen Existenz und Natur Gegenstand von Beweisen ist, unterstützt sie die Flucht in den Atheismus. Sie ermutigt alle die, die den bedrückenden Zeugen verleugnen möchten. Der erste Schritt zum Atheismus ist immer eine Theologie, die Gott auf die Ebene der bezweifelbaren Dinge herabzieht. Dann hat der Atheist leichtes Spiel, denn er ist ganz im Recht, wenn er ein solches Phantom mit seinen ge­spenstischen Eigenschaften zerstört. Und weil der Atheist darin recht hat, sind wir alle geneigt, seine Argumente zu be­nutzen, um damit den Versuch, Gott zu entrinnen, zu recht­fertigen.

Deshalb wollen wir Allgegenwart und Allwissenheit als Be­griffe vergessen und versuchen, ihren ursprünglichen Sinn in unserer Erfahrung wiederzufinden. Wir wissen alle, daß wir uns niemals loslösen können von der Welt, zu der wir gehö­ren. Es gibt keine letzte Verborgenheit und letzte Isoliertheit.

Wir sind immer gehalten und umfangen durch etwas, das grö­ßer ist als wir, das einen Anspruch an uns hat und das Ant­wort von uns erheischt. Die verborgensten Regungen in der Tiefe unserer Seele sind nicht ganz die unseren, denn sie ge­hören auch unseren Freunden, der Menschheit, dem Univer­sum und dem Grund alles Seins, dem letzten Ziel unseres Le­bens. Nichts kann im letzten verborgen bleiben. Es wird in dem Spiegel reflektiert, in dem nichts verheimlicht werden kann. Könnte jemand wirklich glauben, daß seine geheimsten Gedanken und Wünsche nicht in das Ganze des Seins ein­gehen oder daß die Dinge, die sich im Dunkel seines Unbewußten oder in der Einsamkeit seines Bewußtseins abspie­len, nicht ein ewiges Echo bewirken? Kann jemand auf den Gedanken kommen, daß er der Verantwortung für das, was er im Geheimen getan und gedacht hat, entgehen könnte? All­wissenheit bedeutet, daß unser Geheimnis offenbar wird. All­gegenwart bedeutet, daß unsere Verborgenheit erkannt wird. Das Zentrum unseres ganzen Seins ist eingeschlossen in das Zentrum alles Seins, und das Zentrum alles Seins ruht in dem Zentrum unseres Seins. Ich glaube, daß kein ernsthafter Mensch diese Erfahrung leugnen kann, ganz gleich, wie er es ausdrücken mag. Und wenn er es erfahren hat, hat er auch etwas in sich entdeckt, das den Konsequenzen dieser Erfah­rung entgehen möchte. Denn der Mensch ist seiner eigenen Erfahrung nicht gewachsen. Er versucht, sie zu vergessen, und er weiß, daß er sie nicht vergessen kann.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Spannung? Ist es möglich, den Haß gegen Gott und den Wunsch, daß es keinen Gott ge­ben möge, zu überwinden? Gibt es einen Weg, unsere Scham vor diesem ewigen Zeugen und unsere Verzweiflung, die un­serer unentrinnbaren Verantwortung entspringt, zu besiegen? Nietzsche zeigt die Lösung, die die gänzliche Unmöglichkeit des Atheismus offenbar macht. Der „Häßlichste Mensch“, der Mörder Gottes, unterwirft sich Zarathustra, weil Zarathustra ihn erkannt hat und in seine Tiefen mit göttlichem Verstehen hineingeschaut hat. Der Mörder Gottes findet Gott wieder in einem Menschen. Es ist ihm nicht gelungen, Gott zu töten. Gott ist zurückgekehrt in Zarathustra und in der neuen Welt­periode, die Zarathustra ankündigt. Gott ersteht immer wie­der in irgend jemandem oder in irgend etwas. Er kann nicht gemordet werden. Das ist die Geschichte jedes Atheismus. Der Psalmist gibt uns eine andere Lösung. Er preist Gott für das Wunder seiner Geburt, für die Art, in der er in seiner Mutter Schoß bereitet ist. „Es war Dir mein Wesen nicht ver­hohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebil­det ward tief unter der Erde.“ Er benutzt die alte mythologi­sche Idee, daß die Menschen im Abgrund unter der Erde ge­schaffen werden, und er weist auf das Mysterium der Schöp­fung hin, nicht der Schöpfung im allgemeinen, sondern der Schöpfung seines eigenen Seins. Der Gott, dem er nicht ent­fliehen kann, ist der Grund seines Seins. Und dieses Sein, seine ganze Person, seine Seele und sein Leib, ist ein Werk unend­licher Weisheit, Ehrfurcht erweckend und wunderbar. Die Be­wunderung der göttlichen Weisheit überwindet das Grauen vor der göttlichen Gegenwart. Sie weist hin auf die freund­liche Gegenwart einer schöpferischen Weisheit. Das ist die Stimmung, die das ganze Alte Testament durchzieht. Ein gro­ßer Gelehrter, mit dem ich einmal über den Todestrieb im Menschen sprach, gab derselben Stimmung mit den Worten Ausdruck: „Wir wollen nicht vergessen, daß das Leben auch gütig ist.“ Es gibt eine Gnade im Leben, sonst könnten wir nicht leben.

Die Augen des Zeugen, dem wir nicht standhalten können, sind die Augen dessen, der unendliche Weisheit und erhal­tende Güte ist. Das Zentrum des Seins, in dem unser eigenes Zentrum beschlossen ist, ist die Quelle gnädiger Huld, der wir immer und immer wieder begegnen, in den Sternen und Ber­gen, in Blumen und Tieren, in Kindern und reifen Menschen. Aber es ist noch etwas mehr in des Psalmisten Lösung. Er be­trachtet nicht einfach den schöpferischen Grund seines Seins. Er sieht auch das schöpferische Ziel seines Lebens. „Deine Augen sahen mein Wesen, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren in Dein Buch geschrieben, als derselben keiner da war.“ Der Psalmist verwendet ein anderes altes mythisches Symbol: das Aufzeichnen irdischer Ereignisse in ein himm­lisches Buch. Er drückt poetisch aus, was wir heute den Glau­ben an einen letzten Sinn des Lebens nennen. Unsere Tage werden eingeschrieben und gezählt, sie sind kein Zufall. Er, der uns am besten kennt, sieht auf das Bild unseres ganzen Lebens. Wir sind dieses Ganze, und jeder Moment hat darin einen Platz von größter Wichtigkeit. Als einzelne und als Gruppen haben wir eine letzte Bestimmung. Und wo immer wir dieser letzten Bestimmung gewahr werden, ob sie uns groß oder unbedeutend erscheint, erkennen wir Gott, den Grund und das Zentrum jeglichen Sinnes. Wir können dann mit dem Psalmisten voller Bewunderung ausrufen: „Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, Deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe. Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein denn des Sandes. Wenn ich aufwachte, würde ich nodi dabei sein.“ So bezwingt der Psalmist das Erschrecken vor dem alles spiegelnden Spiegel und dem niemals schlafenden Zeugen durch Hinwendung zu dem unendlichen Geheimnis des Lebens, seines Grundes und Sinnes.

Aber plötzlich, auf dem Höhepunkt seiner Betrachtung, wen­det sich der Psalmist von Gott weg. Er erinnert sich, daß es ein dunkles Element in dem Bild seines Lebens gibt — Feindschaft gegen Gott, Bosheit und blutige Taten, und da dies Element sein Bild stört, bittet er Gott, es auszulöschen. In plötzlichem Zorn ruft er aus: „Ach Gott, daß Du tötest die Gottlosen und die Blutgierigen von mir weichen müßten, denn sie reden von Dir lästerlich, und Deine Feinde gebrauchen Deinen Namen umsonst. Hasse ich nicht, und bin ich nicht unwillig über die, Herr, die Dich hassen und sich wider Dich setzen? Ich hasse sie mit unbegrenztem Haß. Sie sind mir zu Feinden gewor­den.“ Diese Worte sollten jeden beunruhigen, der glaubt, daß das Problem des Lebens durch Meditation und religiöse Er­hebung gelöst werden könnte. Die Stimmung dieser Worte ist eine ganz andere als die des bisherigen Textes. Gebet schlägt um in Fluch. Und das Zittern des Herzens vor dem alles be­obachtenden Gott verwandelt sich in Zorn gegen die Men­schen. Dieser Zorn erweckt in dem Psalmisten ein Gefühl der Gleichheit mit Gott, dem Gott, vor dem er in die Finsternis und in den Tod fliehen wollte. Gott soll diejenigen hassen, die er haßt, und Gottes Feinde sollen seine Feinde sein. Ge­rade noch hat er von dem unendlich großen Abstand zwischen seinen Gedanken und Gottes Gedanken gesprochen; jetzt hat er das vergessen. Religiöser Fanatismus flammt auf, derselbe Fanatismus, der die Arroganz der Kirchen, die Grausamkeit der Moralisten, die Unbeugsamkeit der Orthodoxen entzün­det hat. Die Sünde der Religion erscheint in einem der größ­ten Psalmen. Es ist dieselbe Sünde, die die Kirchengeschichte und das Christentum verzerrt hat und selbst von Paulus und Johannes nicht ganz vermieden wurde. Freilich wir, die wir arm an religiöser Erfahrung und schwach in unserm Gottes­erleben sind, sollten nicht über die urteilen, deren Leben in dem Feuer göttlicher Gegenwart brannte und die es über die ganze Welt verbreiteten. Trotzdem: die Sünde der Religion ist Wirklichkeit und widerspricht dem Geist dessen, der sei­nen Jüngern wieder und wieder verbot, seine Feinde zu has­sen.

Doch eine Wandlung der Gedanken und Gefühle bringt den Psalmisten plötzlich zurück zum Anfang seiner Dichtung. Er merkt, daß etwas falsch sein könnte in dem, was er gesagt hat. Er weiß nicht was, aber er ist sicher, daß Gott es weiß. Und so schließt er mit einem der größten Gebete aller Zeiten: „Er­forsche mich, Gott, und erfahre mein Herz, prüfe mich und erfahre, wie ich’s meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ In diesem Moment bittet er Gott, daß er das tun möge, was Gott immer und in jedem Augenblick tut, wie es die Eingangszeilen des Psalms sagen. Der Psalmist hat damit sein Schwanken besiegt — das Schwanken zwischen dem Wunsch, Gott zu fliehen und dem Wunsch, Gott gleich zu sein. Er hat entdeckt, daß die Gegen­wart des Zeugen, die Gegenwart des Zentrums alles Lebens in dem Zentrum seines Lebens ein Doppeltes bedeutet und daß diese Doppelheit die Antwort auf seine Frage enthält: Die unentrinnbare Gegenwart Gottes ist beides, ein radikaler An­griff auf sein Dasein und der letzte Sinn seines Daseins. Wir sind erkannt in unseren dunklen Tiefen, in die wir kaum hin­einzusehen wagen. Und zugleich werden wir gesehen in einer Vollendung, die unsere höchste Hoffnung übersteigt. Diese unendliche Spannung ist die Atmosphäre, in der die Religion lebt. In dieser Spannung überwand Luther seinen Haß gegen Gott, als er in Christus, dem Gekreuzigten, das vollkommene Symbol unserer menschlichen Situation erkannte. Es ist die Spannung, in der der moderne Mensch lebt, selbst dann, wenn er den Zugang zur traditionellen Religion verloren hat. Ein Mensch kann letztlich danach beurteilt werden, ob er diese Spannung erreicht hat und ob er sie ertragen kann. In ihr aus­zuharren ist schwerer und furchtbarer als irgend etwas ande­res auf der Welt. Und doch, in ihr ausharren ist der einzige Weg, auf dem wir zum letzten Sinn, zum Glück und zur Frei­heit unseres Lebens gelangen können. Jeder von uns ist ge­rufen auszuharren. Möge jeder von uns den Mut und die Kraft haben, diese Berufung anzunehmen, denn es ist die Be­rufung, zu der wir als Menschen gerufen sind.

Quelle: Paul Tillich, In der Tiefe ist Wahrheit. Religiöse Reden, 1. Folge, Berlin-New York: De Gruyter, 91985, S. 39-50.

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