Von Karl Barth
Wenn wir den Mund auftun, so befinden wir uns im Bereich der Philosophie. Daß dies auch für die christliche Predigt und Dogmatik gilt, das erinnert uns an die „Fleischwerdung des Wortes“. Die Regel, die für den Theologen zu gelten hat, darf zunächst lauten: Es ist mir alles erlaubt. Es ist mir z. B. – ich antworte auf eine Frage – erlaubt, von „noetisch“ und „ontisch“ zu reden. Es ist mir alles erlaubt, aber – es soll mich nichts gefangen nehmen. Was würde aber das heißen: sich gefangen nehmen lassen? Wenn wir in menschlichen Begriffen sprechen, und also in den Begriffen je einer bestimmten Philosophie, so unternehmen wir als Theologen etwas Gefährliches. Es kann geschehen, daß die Begriffe, die man sozusagen nur als Formen verwendet, schon einen bestimmten Inhalt haben, der mitschwingt und der u. U. den Theologen auf eine Gedankenbahn weist, die mit dem, was er als Theologe zu sagen hat, nichts zu tun hat. Man hat aus diesem Problem der theologischen Sprache von jeher darin einen Ausweg gesucht, daß man Theologie und Philosophie als zwei Partner sich gegenüber stellte. Dieses Drama wurde in mannigfachster Weise aufgeführt. Man sagte dann wohl: die zu verwendenden philosophischen Begriffe müßten erst als solche „geklärt“ werden! und setzte damit die Voraussetzung, daß es zwei Offenbarungsquellen gebe: Vernunft und Geschichte auf der einen, die Heilige Schrift auf der anderen Seite. Ist diese Konzeption von dem Verhältnis von Theologie und Philosophie grundsätzlich irrig, dann bleibt nur folgender Sachverhalt: Als Theologe habe ich meine Sprache, wie immer sie auch sei, und trete mit ihr einem Gegenstand entgegen, der mir im Zeugnis der Heiligen Schrift begegnet. Indem ich mir dieses Zeugnis aneigne, bin ich nicht frei von aller Philosophie, aber auch nicht gebunden an eine [159] bestimmte Philosophie. Es ist mir alles erlaubt, es soll mich aber nichts gefangen nehmen. Der Vorgang der theologischen Erkenntnisbildung wird der sein, daß ich mein Denken und meine Sprache schlechterdings bestimmen lasse durch meinen Gegenstand. Es ist nicht das Wort den menschlichen Voraussetzungen, sondern es sind die menschlichen Voraussetzungen dem Wort unterworfen. Natürlich sind diese menschlichen Voraussetzungen nicht auszulöschen, aber es ist ein Unterschied, ob ich die sarx meiner intelligentia sich vorher systematisch verfestigen lasse oder ob ich die causa divina bestimmen lasse über die intelligentia. Es wird dafür gesorgt sein, daß die menschlichen Voraussetzungen immer auch da sind, aber ich muß als Theologe wissen, daß ich hier keine Synthese zu vollziehen, sondern einen Weg zu gehen habe von der beherrschenden Sache zur dienenden Form. In diesem Weg, in dieser Bewegung muß die echte theologische Begriffsbildung Ereignis werden. Es wird auch so immer noch genug Unglücksfälle geben, aber grundsätzlich ist damit doch eine Richtung gewiesen, in der weder der Theologie noch auch der Philosophie Gewalt angetan werden muß. Es wird sich also für den Theologen praktisch empfehlen, sich an keinerlei Begriffe allzu dauernd und allzu prinzipiell zu binden, d. h. es wird sich empfehlen, sich auf keine Begriffssprache systematisch festzulegen. Sie wissen alle, wie gerne wir uns in dieser Hinsicht festlegen und wie leicht dann gewisse Geleise entstehen, in denen unsere Gedanken laufen und als solche ein Eigengewicht bekommen, das sie in der Theologie nie haben dürfen. Ein Beispiel: Es trat mir aus Ihren Reihen die Klage darüber entgegen, daß ich die Sprache des „Römerbriefs“ nicht mehr führe. Sie sollten im Gegenteil dankbar sein, daß ich Sie heute nicht mehr mit „Hohlraum“ und „Todeslinie“ belästige!! Das hat damals seinen Dienst getan. Heute wäre es verwirrend und langweilig, wenn ich dabei beharren wollte. Ich hoffe sehr, daß ich in fünf oder zehn Jahren wieder eine andere Sprache als heute sprechen kann und dann auch sprechen muß. Ich würde also empfehlen, dieses Klagelied nicht fortzusetzen. Ich wollte damals nichts anderes, als wirklich den Römerbrief des Paulus erklären. Das geschah teilweise in einer merkwürdigen Kruste kantisch-platonischer Begriffe. Ich durfte damals wohl diese Begriffe gebrauchen, aber wenn man mir heute sagen [160] wollte: ich müßte sie gebrauchen, so würde ich entschieden Nein sagen. –
Es ist mir ferner in strengem Ton vorgehalten worden, der Dogmatiker habe sich bei seinen Aussagen vor der Philosophie zu „verantworten“. Dazu sage ich ebenfalls: Nein! Die Dogmatik hat sich nur vor Gott in Jesus Christus, konkret: vor der Heiligen Schrift im Raume der Kirche zu verantworten. Sie hat gewiß auch dafür sich zu verantworten, daß sie verständlich spricht, aber niemals kommt in Betracht, daß irgendeine Philosophie hier zur Norm aufgeworfen würde. Es ist ein Mißverständnis zu glauben, ich sei im „Römerbrief“ kritisch bewußt vorgegangen, mich orientierend am Denken des modernen Menschen. Ich habe als moderner Mensch versucht, mich dem Wort des Paulus zu unterwerfen. – Es kann nicht anders sein, als daß die Dogmatik gegen jede Philosophie, wie immer sie auch geartet sein möge, sich verstößt. Die Theologie muß faktisch Widerspruch erheben gegen jede Art von Realismus und Idealismus. Der Sinn aller Bilder und aller Begriffe liegt für sie nicht in den Bildern und Begriffen selbst, sondern hat in Gott seinen Bezug. Unsere Denk- und Sprachbewegungen können nur einen sekundären Sinn haben und als Bewegungen des Geschöpfes unmöglich zusammenfallen mit der Wahrheit Gottes, von der her es Wahrheit in der Welt gibt. Die Güte dessen, was die Theologie zu sagen hat, unterliegt keinem Maßstab als dem seines Gegenstandes. Daß dabei fortwährend die Möglichkeit besteht, daß das Gesagte „nicht verstanden“ wird, das kann nicht ausgeschlossen werden. Auch die Heilige Schrift verstehen wir sehr oft nicht. Irgendeine Philosophie aber kann uns keinesfalls den Schlüssel liefern. Auch auf die Frage nach der „rechten“ Sprache der Theologie ist letztlich nur mit Gebet und mit dem Leben des Glaubens zu antworten.
Quelle: Karl Barth, Credo, München: Chr. Kaiser, 1935, S. 158-160.