Der Betrachter (Beim Anblick des Kölner Doms, 1948)
Von Albrecht Goes
Ob Geschichte noch mit uns spricht? Ob es uns etwas sagt, daß wir beim Anblick des Kölner Doms über siebenhundert Jahre hinblicken können, gerechnet vom Tag der Grundsteinlegung, dem Tag Konrad von Hochstadens, bis zu unsren Zeitläuften? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob uns ein Bauwerk bedeutender wird, weil eine Anzahl großer Blicke auf ihm zu fühlen sind wie die Wärme des Sonnenlichts auf kühlen Mauern; hier also der kluge Blick des doctor universalis, Albertus Magnus geheißen – der bei jener Grundsteinlegung Anno 1248 zugegen gewesen sein könnte –, danach das Augenpaar des Thomas von Aquin und Petrarcas bewundernder Blick; an Erasmus mag man denken und lange danach an Goethe, an die Schlegel, Brentano und Boisseree, an Friedrich Wilhelm IV., der dann nicht wenig dazu beigetragen hat, daß das Gotteshaus vollendet wurde. Vielleicht gelten solche Erinnerungen nicht viel bei einem Geschlecht, dem die Wände der eigenen Hausung und die Türme der Lebenszuversicht eingestürzt sind. Und vielleicht sollten wir uns hier, wo es um den Betrachter, den Betrachter schlechthin zu tun ist, nicht an diese feierlichen Namen halten, wie wir uns ja auch nicht ins Gespräch der Sachverständigen, ins Kunstgelehrtengespräch mischen wollen. Nicht als ob wir irgend etwas von dem, was es da zu erforschen galt und zu wissen gilt, gering achten dürften. Wir meinen, es werde an seinem Ort weiter zu erwägen sein, was erfahren wurde über die Nachbarschaft zwischen diesem Dom und der Kathedrale von Amiens, über die Fülle der französischen Erkenntnisse, die diesem hochgotischen Spätwerk zu Hilfe kamen; über die eigene Bedrängnis, die zuweilen die Fünfschiffigkeit des Langhauses schafft: wie wir nicht eigentlich Weite des Raums fühlen, sondern Wald und Schlucht. Was vom Unvollendet- Akademischen der preußischen Vollendung im letzten Jahrhundert zu halten ist, und welche Wünsche offen bleiben angesichts der Lage des Doms im Bild der Umgebung und im Bild der Stadt Köln von gestern und heute.
Der Betrachter, den wir meinen, ist ganz unmittelbar der Mann von unterwegs, der nicht eigentlich einer bestimmten Zeit verpflichtet ist und also auch nicht mit der Zeit vergeht. Es könnte der Schiffer sein, dessen Schlepper von Straßburg nach Xanten fährt. Der Handelsherr aus Soest, der nach Paris unterwegs ist und hier den Rhein überquert; eine Wallfahrer-Kongregation, die nach Kevelaer trachtet, gelehrte und ungelehrte Leute und vielleicht auch der Vertriebene von 1948, der sich nichts anderes retten konnte als die Inständigkeit, wahrzunehmen, als die Kraft, zu erstaunen. Wir selbst könnten dieser Beobachter sein. Und auch wir könnten im Anblick dieses Kölner Domes einige Erfahrungen machen, die man abendländische Ur- und Grunderfahrungen heißen darf.
Das erste freilich wird, wenn die Stunde uns gut ist, nichts Einzelnes sein, sondern ein Ganzes; nichts Vielfältiges, sondern eines: nämlich der Jubel. Die Überwältigung. Nicht die niederdrückenden Erfahrungen, sondern die erhebenden werden es sein. Portal bei Portal, Fenster über Fenster, Wölbung zu Wölbung gefügt, Strebebogen zu Strebebogen, Pfeiler und Säulen, Fialen und Rosetten, Kreuzblumen und Schlußsteine; Chorgestühl und Werke der Schmiedekunst, Uhren und Bilder, Gold, Silber und Edelsteine, eine Schatzkammer des Überschwangs und der Verschwendung, ein Stein gewordener Lobgesang, ein schweigendes Sursum corda. Hier ist nicht die Basilika der christlichen Frühe, auch die romanische Krypta nicht, sondern der abendländische Mittag, nicht Ravenna und nicht Worms, sondern Köln.
Dieser Jubel zuerst. Aber dann geschieht es, daß der Geblendete – noch ganz von dem inneren Brausen erfüllt – ins Halbdunkel tritt und die Augen öffnet und sich plötzlich wiederfindet in den großen Bezirken leidenschaftlicher Spannung, die das Abendland bestimmt haben. «Maß und Übermaß» heißt eines dieser Spannungsfelder, und der Dom steht mitten in ihm. Wieviel Maß im Einzelnen und welches Übermaß im Ganzen. Es gilt zu begreifen: dieser Raum denkt nicht an Götter und Giganten, sondern an den Menschen, den Menschen vor Gott. Es ist die menschliche Stimme, die ihn füllen und durchdringen soll. Menschliche Ohren soll das Wort hier erreichen, und das menschliche Auge schaut von dem Portal bis zu dem Hochaltar hin. Aber dann sind da Pfeiler und Säulen, das Mittelschiff ist da und die Vorstellung, die große Decke stürze herein; Querschiff und Längsschiff: es ist der Weg durch riesigen Waldbereich, grünes Dunkel und selige Lichtung, und wie die lautere Wahrheit berührt uns jene Psalmstelle, die einen atemlosen Läufer, den jungen Goethe, aufgehalten hat und ihm das Herz stocken machte: «Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest …»
Es ist aber noch eine zweite Spannung, die sich hier verbirgt und aufzeigt: die Spannung zwischen Zweck und Spiel. Wohl stehen in diesem Dom alle Dinge an ihrem gehörigen Platz und haben den ihnen zukommenden Sinn: das Gestühl, die Fenster, der Chor, der Altar und der Glockenturm. Sie sind nicht um ihrer selbst willen da. Sie fürchten sich nicht davor, dienstbar und nützlich zu sein. Und doch: wie weit sind die Erwägungen der Nützlichkeit dahinten geblieben, da der Weg in die zwecklose Heiterkeit der Spiele und des Spiels hinausgeführt hat. Sieh da: ein Wasserspeier erscheint und dort eine Fratze, da ein Schalkslächeln und dort die übermütige Darstellung von eines alten Kanonikus Leibesfülle, wie auf mannigfache Art der Teufel unter die Füße getreten wird mit seiner argen List, und das hohe und höchste Spiel beginnt, das Gottesspiel: «Lobet ihn mit Saiten und Pfeifen, lobet ihn mit hellen Zimbeln, lobet ihn mit wohlklingenden Zimbeln … alles, was Odem hat, lobet den Herrn!» In großer festlicher Reinheit, möchte man sagen, wird hier der heilige Gedanke des Abendlandes gedacht und gelebt, daß Menschentum sich nicht erschöpft und erfüllt in Zweck und Arbeit, daß es zur unaufgebbaren Würde und Freiheit des Menschen gehört, Zeit zu haben für das Un-Nützliche. Und daß es mit der Würde des Menschentums überall dort zu Ende ist, wo der Mensch nur Mittel, nur zweckbestimmter Wert, nur Arbeitskraft geheißen wird.
Zugleich aber ist dieser Dom, der die Menschenwürde rechtfertigt und wahrt, ein hohes Lied vom Ende allen lauten Ruhmes und aller Eitelkeiten. Es fällt nicht schwer, sich den Steinmetzmeister vorzustellen, der ein Leben im Dienst an diesem Dom zugebracht hat. Was hat er gewirkt? Am Bau dieses Querschiffes und dieses Seitenchors – da sind ihm die Jahre vergangen. Und nun ist er alt, und das Werkzeug wird in die Hände des Sohnes gegeben. Und auch der wird die Vollendung des Bildes nur als ein Bild der Verheißung im Geiste erblicken. Wo bleibt in einem solchen Leben der eigene Ruhm? Es ist das Geheimnis der Namenlosigkeit, das in diesem Zusammenhang dem Betrachter aufgehen kann, das Geheimnis von Demut und Verzicht. Es ist zugleich das Geheimnis vom Dienst und von der großen Arbeit. Das Geheimnis endlich vom Verharren in der Ehrfurcht und vom Reichtum der Armut.
Namenlosigkeit und verhangener Spiegel, aber es wird kein Pharaonengrab gebaut und kein Staudamm. Immer wieder atmet inmitten der kühlen Strenge des Steins das persönliche Leben, immer wieder zeichnet sich die eigene Handschrift: ein. Wie oben in den Gewölben kein Schlußstein ganz dem andern gleicht, wie im Mosaik der Fenster die Freiheit glüht. Und immer neu sind die Meister am Werke, um Menschenbildern nachzugehen, die Gestalten zu formen: in der Pfeilerfigur, am Relief, im Altargemälde. Christus und Christophorus, Apostel und Heilige, Väter und Bischöfe, Maria im Faltenmantel und Maria die Gekrönte, Könige zu ihren Füßen und Reisige und den Engel mit der Gottesschrift: «… voll der Gnaden, der Herr mit dir.»
Von einem einzigen Bildwerk des Hauses ist es gewiß, daß es älter ist als der ganze Dom, vom Gero-Kreuz. Und während der Blick des Betrachters, unser eigener Blick, dieses Zeugnis vom tiefsten Leiden, den Schmerzensmann, in seiner dunklen Versunkenheit sucht und plötzlich nichts im ganzen Dom so unmittelbar zu verstehen meint wie eben dieses Werk, bewegt uns die Vorstellung von vorgestern und vor der Zeit: wie alle die Meister vom Dom auf dieses Zeichen der Passion geschaut haben mit dem ängstlichen Harren der Kreatur, nicht anders als einer zwischen Leben und Sterben auf eine Heimat blickt. Sie sind dann, Söhne ihres Zeitalters, ausgezogen von diesem Ort der Ruhe; sie haben den Himmel zu stürmen begonnen, und kein Gewölbe war ihnen kühn genug. Sie haben den Menschen auf seinem Wege zu sich selbst zu begleiten gewagt und von seinem Erschrecken und seinem Lächeln etwas verraten, von seinem Entschluß und seinem Traum. Zuletzt aber haben sie aus dem Stand der Erlösten heraus die siebenfarbige Seligkeit gemalt, also, daß der Nachfahre noch, der schwermütige Fremdling, getröstet von dannen geht: «Im Dom da steht ein Bildnis / Auf goldnem Leder gemalt, / In meines Lebens Wildnis / Hat’s freundlich hineingestrahlt.»
Unversehens aber enden Frage und Antwort: das abendländische Gespräch versinkt. Und es bleibt jenes eine, von dem im Weltgedicht unseres Volkes gesagt ist, es sei «der Menschheit bestes Teil»: das Schaudern. Sehr nahe ist noch die Welt der Märkte und der Verstrickungen, des Glücksverlangens und der Lebensangst; und es ist unsere Welt. Aber im Heiligtum wird offenbar, wie es eigentlich mit dem Menschen gemeint ist. Wer es erfährt, der schaudert in Bestürzung und Freude. Und alles kommt darauf an, daß dieser Schauder mehr ist als ein frommes Gewölk. Daß wir ihn annehmen wie einen Auftrag, dem wir zu folgen wissen, wie man dem Rufe der Liebe folgt.
Quelle: Albrecht Goes, Von Mensch zu Mensch. Bemühungen, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 31953, S. 178-183.