Über den theontologischen Tanz ums Kalb
Von Fridolin Stier
Plato und Aristoteles peripatierten selbander in den Hallen des Himmels. Und wieder stritten sie sich um die Palme des größeren Nachruhms. Des Nähern gings um die Frage, wes Geist wohl höher throne im innersten Gemach der christlichen Theologie.
„Das Sein gab ich ihr“, hub an der eine, „und ich ihr mein eidos“, so rühmt sich der andre. „Was wäre sie ohne ‚Substanz‘?“ fuhr fort sich zu rühmen der eine, „was ohne ‚Das Gute‘?“ widerbot ihn der andere.
Dieser rief St. Augustinus, jener St. Thomas zu Hilfe und Zeugschaft. Doch diese schwiegen, sie hatten sich anders besonnen, schauenden Geistes inzwischen geworden.
Und eben kam Moses daher. Aristoteles hieß ihn willkommen. „Moses, sei du mir Zeuge: Hat nicht Dir, was mein Geist sich erdacht, der Seiende selber gesagt? Damals, weißt du, heraus aus dem Dornbusch. – Auf lateinisch laß es mich sagen, dann verstehens auch die übrigen Herrn: Ego sum qui sum. Sprach Er nicht so?“
„Nein“, erwiderte Moses und schüttelte das Haupt: „Ich hörte seine Stimme, die sprach: Ich bin Da, und übrigens sprach er hebräisch.“
„Eher denn das Da ist das Sein, ergo“ – fuhr folgernd Aristoteles fort.
„Oh!“ hob Moses wehrend die Arme: „Es ist, Er handelt – Sein ist die Geschichte, des Seins – nun, des Seins ist sie nicht.“Sprachs und ging weiter des Wegs, erdwärts hinab.
Am Nebo warf er einen Blick auf sein Grab, den Dornbusch sah er, immer noch lohend. Und wüstenwärts wandert’ er weiter zum Berge! Da gedacht er all des Gewaltigen, das Er getan, und des halsstarren Volkes gedacht er, des Tages, da es tanzte ums Kalb …
Er nahm von der Stätte eine Hohlhand voll Sand.
Und wiedergekehrt in die Hallen des Himmels, sah er sie immer noch stehen, ihres Wettstreits beflissen. Schüttelnd das Haupt fuhr Moses sie an: „Ihr Herren da, seht, das ist Sand, Sand von der Stätte des Kalbs; und da, diese güldenen Stäubchen sind Götzenkalbstaub. Das hab ich zerschlagen, zerrieben, zerstäubt – in der Kraft und im Geist meines Gottes.“
„Seht“, sprach er, schwang aus den Arm und warf in die Lüfte den Sand, seht und versteht, halsstarr wie Israel, ihr Theontologen, Theideologen, Theeidologen – die Tänzer seid Ihr, die Tänzer ums Kalb!“
Sprachs und ging, hineinwärts ins Leuchten und Lohen, hinein vor Sein Antlitz.
Ursprünglich erschienen in Bibel und Kirche, Nr. 3-4 (1950), S. 109.
Quelle: Fridolin Stier, Wenn aber Gott ist … Ein Lesebuch, hrsg. v. Eleonore Beck und Gabriele Miller, Hildesheim: Bernward, 1991, S. 25.