Psalm (griech. psalmós; lat. psalmus; engl. psalm; frz. psaume; ital. salmo)
Von Erich Zenger
A.‹P.› sind poetisch, d.h. im parallelismus membrorum (= Gedanken- und Bilderreim zweier aufeinanderfolgender Zeilen) gestaltete religiöse Lieder und Gebete, die in Bereichen der offiziellen und familiären Religion entstanden sind und dort ihre Formen und Gattungen ausgebildet haben. Aus ihrem ursprünglich kultischen Sitz im Leben sind sie in die Weisheits- und Tempelschule sowie in die private/persönliche Frömmigkeit ‚abgewandert‘. Als literarische Kunstform wurden sie auch in den unterschiedlichen Großformen der biblischen Literatur rezipiert (Phänomen der Literarisierung; Transformation von Ritual in Poesie).
Vergröbernd lassen sich nach Aufbau und Funktion sieben Hauptgattungen unterscheiden: (1) Klagepsalmen: Klagende Anrufung des Gottesnamens mit Notschilderung, Bitte um Rettung, Vertrauensbekenntnis bzw. Lobgelübde (Beispiele: Ps 6; 13). (2) Bittpsalmen:Einleitende Bitte mit Betonung der Unschuld, zentrale Bitte mit breiter Schilderung der Not, abschließende Bitten mit Blick auf Feinde und Freunde (Beispiele: Ps 5; 17). (3) Hymnen/Lobpsalmen: Aufforderung zum Lob Jahwes, Begründung und Durchführung des Lobpreises, meist eingeleitet mit ki (= denn), Ausklang (Beispiele: Ps 113; 117). (4) Dankpsalmen: Ankündigung des Dankes (Gottesanrede: «Du»), Rettungserzählung (Gottesanrede: «Du») und Einladung an die Gemeinde, sich dem Dank an Gott (Rede von Gott: «Er» = Bekenntnis) anzuschließen (Beispiele: Ps 30; 116). Während die Dankpsalmen als Reaktion auf (individuell und punktuell) erfahrene Rettung aus der in den Klage- und Bittpsalmen geschilderten Not zu begreifen sind und als Gattung ursprünglich mit einer familiären Opferfeier am lokalen Heiligtum oder im Jerusalemer Tempel verbunden waren (vgl. die Hinweise auf das sog. Toda-Opfer in Ps 22,26f; 66,13; 116,13-19), feiern die Hymnen die Größe und Unvergleichbarkeit Jahwes. (5) Zionspsalmen sind (vermutlich chorisch aufgeführte) Kulthymnen, die den im Zionstempel bzw. in Jerusalem als ‹Gottesstadt› gegenwärtigen und von dort aus das Chaos bekämpfenden Gott feiern. Sie sind meist strophisch gegliedert und sind hymnische Tempeltheologie (Beispiele: Ps 46; 47; 48). (6) Königspsalmen sind ursprünglich rituelle Kompositionen, die mit den verschiedenen Feierlichkeiten des Jerusalemer Königtums (Inthronisation, Hochzeit, Jubiläum) Zusammenhängen und eine Königstheologie entfalten; sie partizipieren auffallend stark an der Königstheologie Ägyptens und Assurs (Beispiele: Ps 2; 45; 72). (7) Weisheitspsalmen sind streng genommen keine Gebete, sondern Meditationen über das Gelingen des Lebens, über das Schicksal der Guten und der Bösen (Theodizeepsalmen), über die Schöpfung und über das Gesetz (Beispiele: Ps 1; 49; 73; 112).
B.I. Bibel und Judentum
1.Die Hauptsammlung von P. ist das Psalmenbuch mit 150 P. unterschiedlicher Herkunft und Zeit. Es gibt aber auch in anderen Büchern P., meist an strukturell herausragender Stelle (z.B. das Siegeslied am Schilfmeer: Ex 15,1-18; das Lied des Mose: Dtn 32; das Lied der Debora: Ri 5; das Magnificat der Hanna: 1 Sam 2,1-11; das Abschiedslied des David: 2 Sam 23,1-7; das Danklied der Geretteten: Jes 12; der P. des Jona: Jona 2,3-10; das Lied der Judit: Jdt 16); manche Bücher bzw. Buchteile sind durchsetzt von Psalmensprache (z.B. Jes 40-55; Jer; Ijob). Das Buch der Klagelieder könnte man sogar als zweites kanonisches Psalmenbuch bezeichnen. Zumindest in der Schlußphase der Entstehung des Psalmenbuchs wollte man gezielt eine Auswahl von genau 150 P. schaffen. Das bestätigt die Septuaginta-Fassung, die mehrere Einzelpsalmen anders zählt als das hebräische Psalmenbuch und die gleichwohl so an der Zahl 150 festhält, daß sie den ‹Schlußpsalm› Ps 151, den sie als Überschuß gegenüber dem hebräischen Psalmenbuch hat, ausdrücklich als außerhalb der Zählung stehend kennzeichnet. Die unterschiedliche Zählweise kommt dadurch zustande, daß die Septuaginta 9 und 10 sowie 114 und 115 jeweils als einen einzigen P. betrachtet und Ps 116 und 147 jeweils in zwei P. zerlegt. Bei Psalmenvertonungen wurde bis in die Neuzeit die Zählung nach der Septuaginta/Vulgata verwendet.
2. Die in der christlichen Tradition üblich gewordene Bezeichnung ‹(Buch der) P.› geht auf die schon in der Septuaginta belegte Übersetzung der am häufigsten (57x) als Psalmüberschrift begegnenden Bezeichnung mizmōr = kantilierender Sprechgesang mit Saitenspielbegleitung (psalmós von psállein = die Saiten spielen) zurück; diese auch im NT verwendete Bezeichnung (vgl. Lk 20,42; 24,44; Apg 1,20) steht in dem aus dem 4. Jh. n. Chr. stammenden ‹Codex Vaticanus› ausdrücklich als Buchtitel über den 150 P. Allerdings ist zweifelhaft, ob dies als Aussage über die in biblischer Zeit praktizierte Vortragsweise dieser Texte ausgewertet werden darf; sie ist vermutlich im Zusammenhang mit der ‹Davidisierung› der P. (s.u.) entstanden (mizmōr steht 35x in Verbindung mit «von/für David») und knüpft an die biblische Tradition von David als ‹Leierspieler› (vgl. 1 Sam 16,14-23; 18,10) an. Die Bezeichnung ‹Psalter› geht auf das in der Septuaginta für das Saiteninstrument nebæl = Standleier (meist unzutreffend mit ‹Harfe› wiedergegeben) gewählte psaltḗrion zurück; das Wort findet sich als Buchüberschrift in dem aus dem 5. Jh. n. Chr. stammenden ‹Codex Alexandrinus›. Die im Judentum übliche Bezeichnung (sefær) tehillīm = ‹(Buch der) Lobpreisungen)› (M. Buber: ‹Preisungen›) ist bereits auf einem Qumranfragment der Höhle 4 (1. Jh. v. Chr.) bezeugt. Diese Gesamtbenennung unterstreicht das Ziel der Bewegung, auf das das Psalmenbuch in seinem letzten Drittel und insbesondere in seinen letzten fünf Psalmen (146-150) und darin noch einmal in seinem letzten Satz (150,6) hindrängt: Das Psalmenbuch als Ganzes ist der vielstimmige Lobpreis Jahwes, der mitten aus den zahlenmäßig überwiegenden Klage- und Bittgebeten erwachsen soll und kann. Die Bezeichnung tehillīm dürfte auch in der bei Philo und Josephus Flavius begegnenden Benennung hýmnoi (Loblieder) vorausgesetzt sein.
3. Auch wenn das Psalmenbuch eine Zusammenstellung von 150 Einzeltexten ist, ist es dennoch keine Aneinanderreihung von beziehungslos nebeneinander stehenden Einzelgebeten und -liedern (eine Art ‹P.-Archiv›), sondern eine planvolle Buchkomposition. Dies wird gegenüber der seit H. Gunkel dominierenden gattungsgeschichtlichen Psalmenexegese, die primär an den Einzeltexten interessiert war, in der jüngsten Psalmenforschung mehr und mehr herausgearbeitet. Die Psalmenexegese wird so ergänzt durch die Psalterexegese. Daß die Einzelpsalmen im Psalmenbuch als Teilelemente von Kompositionsbögen, Teilsammlungen oder sogar im makrostrukturellen Zusammenhang des ganzen Buchs eine theologische Aussage erhalten, die ihren jeweiligen ‹Einzelsinn› übersteigt, liegt aus folgenden Beobachtungen zur literarischen Technik der Abfolge der P. nahe: (1) Zwischen unmittelbar aufeinanderfolgenden P. ergeben sich häufig semantische, kompositionelle und formgeschichtlich relevante Zusammenhänge, die nicht zufällig sein können, sondern von der/den Redaktion(en) intendiert sein müssen. Es sind vor allem die literarischen Techniken der planvollen Anordnung (iuxtapositio) und der gezielten, redaktionellen Stichwort- und Motivverkettung (concatenatio), durch die die Einzelpsalmen in größere Sinnzusammenhänge gebracht werden. (2) Einzelne P. haben eine Funktion in der Makrostruktur des Gesamtpsalters, was auf gezielte ‹Buchkomposition› hinweist. Dies gilt von den ‹Rahmenpsalmen› 1 und 2 sowie 146-150, aber auch von den den Psalter wie ein hermeneutisches Netz durchwirkenden (messianischen) Königspsalmen und P. vom (Welt-)Königtum Gottes. (3) Die über den Einzelpsalmen stehenden (sekundär hinzugekommenen) Überschriften ordnen häufig inhaltlich und formal verwandte P. so zu Gruppen zusammen, daß eine sinnvolle Komposition entsteht. (4) Eine ausdrückliche Anweisung, zumindest Teile des Psalmenbuchs als zusammenhängende Meditation zu lesen, wird in der sogenannten ‹Davidisierung› des Psalters gegeben, die in vierfacher Weise vorliegt: a) 73 P. des hebräischen Psalters (in der Septuaginta sind es sogar 83) werden durch die Überschrift ‹ledāwid› («im Hinblick auf David» bzw. «von David») mit dem Leben Davids verbunden, b) In 13 P. wird die Notiz ‹ledāwid› zusätzlich mit biographischen Angaben zu der in den Samuelbüchern erzählten David-Vita erweitert: c) Der ganze Psalter gilt als geistliches Tagebuch Davids (die Davidisierung des Psalters führte so zur Poetisierung Davids); das Psalmenbuch kann nun als Meditation der Vita des historischen und messianischen David gelesen werden, d) In der Septuaginta gibt der als ‹Nachwort› dem Psalter hinzugefügte Ps 151 mit seinem Hinweis, daß der Psalmensänger David zugleich der ist, der den Kampf gegen den ‹Götzen› Goliat siegreich bestanden hat (vgl. 1 Sam 17), den P. Davids die Qualität, daß einerseits mit ihnen der Kampf gegen das Böse gelingt und daß sie andererseits vor der Macht des Bösen retten (vgl. auch 1 Sam 16,23; 18,10f; 19,9f: der das Psalmeninstrument Leier spielende David vertreibt nicht nur den bösen Geist Sauls, sondern kann auch selbst nicht vom tödlichen Speer Sauls getroffen werden). (5) Die 150 P. sind durch die vier doxologischen Schlußformeln Ps 41,14; 72,18-19; 89,53; 106,48, die in literarkritischer Hinsicht allesamt nicht Bestandteil des jeweils vorausgehenden P. sind, in fünf ‹Bücher› gegliedert. Die Strukturierung eines Werkes in fünf Teile bzw. fünf Bücher ist in der jüdischen Überlieferung, wie die Tora/der Pentateuch, das Buch der Klagelieder und das äthiopische Henochbuch bezeugen, beliebt und programmatisch zugleich. Was die entsprechende rabbinische Kommentierung im schwer datierbaren ‹Midrasch Tehillim› (3.-9. Jh. n. Chr.?) darüber sagt, könnte durchaus die Intention der Schlußredaktion des Psalmenbuchs wiedergeben: «Mose gab den Israeliten die fünf Bücher der Tora, und David gab den Israeliten die fünf Bücher der Psalmen.» Die P. sind die Antwort Israels auf die ihm gegebene ‹Tora›. Das hat die Schlußredaktion hervorgehoben, indem sie dem Psalmenbuch den Tora-P. Ps 1 als hermeneutischen Schlüssel vorangestellt und den Psalter zur Tora Davids deklariert hat. Zugleich macht diese doxologische Rahmenstruktur den Psalter zur lobpreisenden Antwort Israels, die auf Ewigkeit hin angelegt ist, d.h. die P. sind die bis zum Ende der Weltzeit uneingeschränkt gültige Antwort Israels (und der Völker) auf das Handeln Jahwes (Perspektive der ‹Verewigung›). (6) Von den Rahmenpsalmen 1-2 und 146-150 her ist offenkundig, daß der Psalter ein Lobpreis der universalen in Schöpfung und ‹Tora› grundgelegten Gottesherrschaft (vgl. besonders Ps 2,10-12 und Ps 150, aber auch Ps 148) ist, die Jahwe durch seinen auf dem Zion eingesetzten (messianischen) König (vgl. Ps 2) und durch sein messianisches Volk (vgl. Ps 149) inmitten der Völkerwelt in einem eschatologischen Gericht durchsetzen will.
4. Daß die Entstehung des Psalters und der in ihm versammelten Einzelpsalmen und Teilsammlungen im Horizont der nationalen (offiziellen), lokalen und familiären gottesdienstlichen Begehungen erklärt werden muß, ist unbestritten. Das bestätigen auch die babylonischen P., deren gottesdienstlicher Sitz im Leben teilweise in den Texten selbst mitüberliefert ist. Wie eng freilich diese Beziehung gesehen werden kann, ist kontrovers. Es gibt einerseits eine Reihe von Einzelpsalmen, die für den Kult geschaffen und im Kult verwendet wurden. Andererseits gibt es P., die keinerlei kultischen Bezug erkennen lassen. Vor allem hat die Schlußredaktion des Psalters kaum einen gottesdienstlichen Sitz im Leben, d.h. der Psalter hat seine Endgestalt weder als ‹Gesangbuch› für die Teilnahme am Tempelkult noch als ‹Gebetbuch› für die synagogale Liturgie erhalten. Eine schon 1933 von Begrich und Gunkel in ihrem klassischen Grundlagenwerk zur Psalmenexegese formulierte Erkenntnis gilt nach wie vor: «Die Sammlung ist in der Absicht zusammengestellt worden, ein Andachts- und Hausbuch für den frommen Laien zu schaffen. Der Vorgang ist des Näheren so vorzustellen, daß ein Stamm aus dem Gottesdienst bekannter und vertrauter Lieder mit geistlichen, kultusfreien Psalmen verbunden worden ist.»[1] Das uns vorliegende Psalmenbuch ist in mehreren ‚Schüben‘ entstanden und zwar durch Aneinanderreihung von Teilsammlungen, die teilweise ihre je eigene Entstehungsgeschichte haben. Als Faustregel kann gelten: Die Abfolge der Teilsammlungen im jetzigen Psalmenbuch entspricht auch ihrem Alter. Nur wenige Einzelpsalmen bzw. die literarkritisch aus der Endgestalt von P. herauslösbaren Grundfassungen stammen aus vorexilischer Zeit. Wann der Psalter seine Endgestalt Ps 1-150 erhielt, ist in der Forschung umstritten. Während die Meinungen darüber früher stark divergierten (5.-2. Jh. v. Chr.: von der Perserzeit bis in die Makkabäerzeit), tendiert die Forschung heute zu einer Datierung zwischen 200 und 150 v. Chr. Die unverkennbare Nähe gerade der jüngsten Teile des Psalmenbuchs zur späten ‹Weisheit› machen es sehr wahrscheinlich, daß der Psalter seine Endgestalt im Milieu jener Weisheitsschule erhalten hat, die in gewisser Distanz zur Tempelaristokratie und zu deren hellenisierenden Tendenzen stand und die mit ihrer Verbindung von Tora-Weisheit, prophetischer Eschatologie und Armenfrömmigkeit den Psalter als ein Volksbuch für Laien ausgestaltete und verbreitete, das als fromme und konservative Kurzfassung von ‹Tora› und ‹Prophetie› (vgl. die ntl. Redeweise von «Gesetz und Propheten») gelesen, gelernt und gelebt werden konnte.
5. Im Judentum zur Zeit Jesu war das biblische Psalmenbuch der Grundtext der persönlichen, meditativen Frömmigkeit und der messianischen Hoffnungen. Es war das ‹Lebensbuch› vor allem jener Gruppen, die in den P. die Armen, die Frommen und die Gerechten genannt werden. In den P. suchten und fanden sie Erbauung, Trost, Hoffnung und Lebensweisung. Diese breite Vertrautheit mit dem Psalmenbuch erklärt, wieso gerade der Psalter nach Ausweis der Zitate im NT das Lieblingsbuch des entstehenden Christentums war. Gut ein Drittel aller ersttestamentlichen Zitate im NT stammt aus dem Psalter. Mit keinem anderen Teil der Bibel Israels waren die Christen in gleicher Weise vertraut – die Adressaten der neutestamentlichen Schriften ebenso wie ihre Verfasser.
Literaturhinweise: S. Mowinckel: The Psalms in Israel’s Worship I; II (ND Sheffield 1992). – J.L. Kugel: The Idea of Biblical Poetry (New Haven 1981). – K. Seybold: Die P. Eine Einf. (1986). – K. Seybold, E. Zenger (Hg.): Neue Wege der Psalmenforschung (21995). – E. Zenger (Hg.): Der Psalter in Judentum und Christentum (1998). – ders.: Psalmenforschung nach Hermann Gunkel und Sigmund Mowinckel, in: Congress Volume Oslo 1998, Vetus Testamentum Supplements (Leiden 2000) 399-435. – ders. (Hg.): Der Septuaginta-Psalter. Sprachliche und theol. Aspekte (2001).
Quelle: Gerhard Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 7, Tübingen 2005, Sp. 396-400.
[1] J. Begrich, H. Gunkel: Einl. in die P. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels (1933) 452.