Karl Barth über Gott und die Weltgeschichte (KD IV/1): „Was ist das aufregend Interessante der Weltgeschichte? Die Monotonie des Hochmuts, in welchem der Mensch sich selbst und seinem Nächsten schon in grauer Vorzeit und dann im Auf und Ab seiner späteren Fortschritte und Rückschritte im Einzelnen wie im Ganzen offensichtlich nur immer aufs neue zu Leid gelebt hat, bis auf diesen Tag zu Leid lebt und ganz bestimmt bis zum Ende aller Tage zu Leid leben wird.“

Über Gott und die Weltgeschichte

Von Karl Barth

Die Bibel kennt auch nicht das Wort «Geschichte». Obwohl und indem sie doch ein, das Geschichtsbuch sondergleichen ist; Zeugnis von Gottes Gegenwart, Aktion und Offenbarung als Zeugnis von lauter irdisch-menschlicher Geschichte. Aber eben: um das Geschehen des Willens, des Wortes, der Werke Gottes unter dem Menschen geht es da. Nicht um die Ursprünge, Zusammenhänge, Verflechtungen, Vereinigungen und Scheidungen, Ziele und Neuanfänge des menschlichen Wollens und Unternehmens als solchen: seine Motivation, Pragmatik und Teleologie, wie es in lauter Einzelheiten als ein Ganzes und als Ganzes in lauter Einzelheiten sich darstellt. Um das Alles geht es in der «biblischen Geschichte» gerade nur, indem und sofern es in dem darauffallenden Lichtkegel jenes ganz anderen Geschehens sichtbar wird.

Darum scheint es so schwer, wenn nicht unmöglich zu sein, dem Alten Testament so etwas wie eine «Geschichte Israels», dem Neuen so etwas wie eine «Geschichte des Urchristentums» oder gar ein «Leben Jesu» zu entnehmen. Diese «Quellen» müssen immer schon gezwungen werden, so etwas herzugeben. Und was sie dann zur Not hergeben, das hat bis jetzt noch keines Historikers Herz so richtig erfreuen können. Sicher geben sie nebenbei auch allerlei von dem zu erkennen, was wir «Geschichte» nennen – Menschengeschichte an sich und als solche also – aber eben doch nur nebenbei und immer in wunderlichen Verkürzungen, Zerdehnungen und Verkrümmungen, die davon herrühren, daß sie von einem ganz anderen Geschehen erzählen wollen, sodaß der Historiker ihnen gegenüber ständig in dem leidigen Dilemma stehen wird: entweder sie sagen zu lassen, was sie sagen wollen und dann keine Geschichte in unserem Sinn des Begriffs zu fassen zu bekommen – oder ihnen Geschichte in unserem Sinn zu extrahieren, um den Preis, daß er sich damit gerade von dem, was sie eigentlich sagen wollen, abwenden und entfernen muß.

Es dürfte nun aber dennoch sachgemäß sein, bei dem Wort «Alle» (Röm. 11, 32, auch 3, 23, auch 5, 12!) auch an das zu denken, was wir mit dem Wort «Geschichte» meinen. Gerade das Urteil, daß Alle sündigten, impliziert sicher auch ein Urteil über das, was vom Willen, vom Wort und vom Werk Gottes abgesehen, in der für den Begriff «Historie» bezeichnenden Abstraktion, die menschliche Geschichte ist: ihre Phänomene, ihr kontinuierlicher und differenzierter Gang von einem unbekannten Anfang her einem ebenso unbekannten Ziel entgegen. Man bemerke: diese Abstraktion, das Konzept einer solchen vom Willen, Wort und Werk Gottes gelösten Geschichte des Menschen, der Menschen, der Menschheit als solcher ist offenbar selbst schon das Werk eines verkehrten, sündigen, menschlichen Denkens: eine von den Erfindungen des menschlichen Hochmuts. Nur daß dieses Konzept insofern keine bloße Illusion ist, als es das Selbstverständnis der sehr real eben in dieser Abstraktion oder doch im Willen zu dieser Abstraktion existierenden, der eben diese Abstraktion fort und fort neu wollenden Menschheit zum Ausdruck bringt.

Das gibt es tatsächlich: eine in der Ignorierung und Verwerfung des Willens, Wortes und Werkes Gottes begründete und durch und durch von dieser Ignorierung und Verwerfung her bestimmte Weltgeschichte. Und Erkenntnis der menschlichen Sünde und Schuld im Lichte des Wortes der Gnade Gottes impliziert die Erkenntnis, daß die Weltgeschichte tatsächlich so, von daher begründet und bestimmt ist: durch des Menschen Hochmut – impliziert die Erkenntnis, daß ihr Gang, ihre Bestrebungen und Bewegungen, ihre Anfänge und Abschlüsse und Neuanfänge bei aller Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit von deren Richtungen das gemeinsam haben, daß sie alle unter dem Gericht Gottes verlaufen. Die Weltgeschichte ist «verschlossen unter den Ungehorsam». Das heißt nicht, daß sie der Regierung Gottes entrückt sei, um nun entweder dem Zufall bzw. dem Schicksal (so die Lehre der alten und neuen Epikuräer und Stoiker) oder, einem organischen Prozeß gleich, der Auswirkung einer ihr innewohnenden Gesetzlichkeit überlassen zu sein (so nach solenner Streichung des lieben Gottes die Lehre des Marxismus!) oder um gar (so die Meinung eines fanatischen Pietismus) unter der Herrschaft des Teufels zu stehen. Und wiederum hat die göttliche Regierung der Weltgeschichte auch nicht aufgehört, die Regierung dessen zu sein, der dem Menschen – auch dem in seinem Hochmut von ihm abgefallenen Menschen – gut war, ist und sein wird. Die Geschichte der von ihm in Jesus Christus auf ihn hin geschaffenen Welt kann auch mit des Menschen Fall nicht aufhören, in ihm ihr Zentrum und ihr Ziel zu haben. Aber eben von diesem ihrem Zentrum und Ziel her kann Gott zu ihrer Verkehrung und Verkehrtheit nicht Ja, sondern nur Nein sagen. Und eben wer von diesem ihrem Zentrum und Ziel her das Wort der Gnade Gottes hört, kann auch dieses Nein nicht überhören, nicht abschwächen, nicht umdeuten, nicht wieder vergessen. Es ist Gottes Nein, unter dem tief und heimlich sein Ja verborgen ist: sein Ja zu den armen verkehrten Menschen nämlich, die als das Subjekt der Weltgeschichte handeln und leiden. Es ist aber Gottes Nein: zu ihrer Verkehrtheit nämlich, zu ihrer durch sie begründeten, bestimmten und charakterisierten Geschichte, und nun wirklich, wie zu jedem einzelnen Menschen in seiner Ganzheit, so zur ganzen Weltgeschichte.

So sagt es ja von ihrem Standpunkt aus, so wie sie das verstehen und sagen kann, auch die sog. historische Wissenschaft. Sie sucht und findet in der Geschichte den Menschen, seine Unternehmungen und Werke, und nur ihn. Mag sie sich selbst unter den Vorbehalt stellen, daß es schließlich niemandem benommen sein könne, an eine die Weltgeschichte lenkende Vorsehung zu glauben, so kann, will und wird sie doch von Manifestationen oder gar Erscheinungen Gottes in dieser Geschichte bestimmt nichts wissen und sagen. Sie anerkennt damit, ohne es zu bemerken, das göttliche Nein, den Schatten, der in ihrer ganzen Ausdehnung auf ihr liegt. Denn das besagt ja dieses Nein: daß die Menschen als die Subjekte dieser Geschichte – sie, die in ihrem Hochmut, als die sich selbst Vergottenden, Verherrlichenden, Rechtfertigenden und Helfenden unter sich sein wollen – nun tatsächlich, so weit das Auge (ihr hochmütiges Auge nämlich) reicht, unter sich sein müssen, ἄθεοι ἐν τῳ κόομῳ (Eph. 2, 12) und daß es in ihrer Geschichte nun eben so zugehen muß, wie es da nicht anders zugehen kann, wo sie unter sich sind. «Gott gab sie dahin», wie es Röm. 1, 24 f. dreimal heißt. Das ist der Verschluß der Weltgeschichte unter den Ungehorsam.

Wir vergessen nicht, daß dem Menschen seine gute Natur mit allen ihren Anlagen und Fähigkeiten durch seine Verkehrung und unter Gottes über ihn ergehendes Gericht keineswegs abhanden gekommen ist. Erstaunlichste Entwürfe, ehrfurchterregende Anstrengungen und bewundernswerte Leistungen, große und kleine Meisterwerke menschlicher Tüchtigkeit und Tugend, d. h. solche, die uns in diesem Sinn einleuchten, sind auch innerhalb dieses Verschlusses möglich und zweifellos wirklich. Nur daß eben auch sie von jenem Verschluß nicht ausgeschlossen sind, weil sie sich mit den uns weniger günstig, weniger glänzend, ja als gefährlich und verderblich in die Augen fallenden menschlichen Aktionen und Vollbringungen zusammen im Urteil Gottes nun eben doch in der einen Klammer, auf dem einen Nenner des Ungehorsams, des Hochmuts, der Sünde befinden. Daß sie keine echten Ausnahmen darstellen, erweist sich nicht nur in ihrer aller Begrenztheit und Relativität, nicht nur in ihrer früher oder später bestimmt sichtbar werdenden Hinfälligkeit und Vergänglichkeit, nicht nur in dem Mißbrauch, dem sie alle ausgesetzt sind und irgendwie bestimmt alle verfallen, nicht nur in dem erstaunlichen Schwanken des menschlichen Urteils über das, was denn nun eigentlich als weltgeschichtlich positiv, groß, wertvoll, heilsam gelten soll. Mag man nach Verrechnung dieser ganzen Problematik daran festhalten, daß im Bild der Geschichte wie in dem der Natur eine Schattenund eine Lichtseite immer wieder zu unterscheiden sein werden, so bleibt es doch bei der furchtbaren Tatsache, daß zwar die Leugnung von allerlei Fortschritten im Einzelnen nicht möglich ist, daß aber die Feststellung einer Teleologie, einer Progression im Ganzen der Weltgeschichte zwar immer wieder versucht worden ist, sich aber auch immer wieder als noch viel unmöglicher erwiesen hat. Es braucht Narren dazu – irgendwo und irgendwie sind wir aber alle immer wieder diese Narren – um das Einzelne mit dem Ganzen zu verwechseln und also etwa im Blick auf die Entwicklung der Technik (im weitesten Sinn dieses Begriffs) von einem in der Weltgeschichte stattfindenden Fortschritt des Menschen, der Menschheit im Ganzen, zu träumen. Der Mensch selbst ist, alles Wandels seiner geschichtlichen Gestalten und Betätigungen ungeachtet, gerade nicht «progressiv». Hinsichtlich seiner Fähigkeit bzw. Unfähigkeit, als homo sapiens zu leben, sein Sein und Zusammensein auch nur im Blick auf eine gewisse Erträglichkeit, auch nur auf eine gewisse Dauer in Griff zu bekommen, ist er vielmehr wunderbar stationär, in seinem Agieren und Reagieren einem am Göpel im Kreis herum laufenden, höchst unvernünftigen Rindvieh leider gar sehr vergleichbar. Sein Hochmut hindert ihn daran, und es ist selber nur einer von den Träumen seines Hochmuts, wenn er sich einbildet, auch nur diesen bescheidenen Griff eines Tages doch noch fertig zu bringen. Was ist das aufregend Interessante der Weltgeschichte? Ihre je und dann aufklingenden Symphonien und Euphonien? Sie sind nicht zu überhören. Ihre immer wieder durchbrechenden Kakophonien? Man kann gewiß auch sie nicht überhören. Noch aufregender und interessanter aber ist ihre jenseits dieser Gegensätze und in ihnen immer wieder siegreiche Monotonie: die Monotonie des Hochmuts, in welchem der Mensch sich selbst und seinem Nächsten schon in grauer Vorzeit und dann im Auf und Ab seiner späteren Fortschritte und Rückschritte im Einzelnen wie im Ganzen offensichtlich nur immer aufs neue zu Leid gelebt hat, bis auf diesen Tag zu Leid lebt und ganz bestimmt bis zum Ende aller Tage zu Leid leben wird. Der Mensch des Hochmuts kann sich selbst und seinem Nächsten nur zu Leid leben. Er müßte nicht dieses Subjekt sein, wenn es anders sein sollte. Das ist der Verschluß der Weltgeschichte unter den Ungehorsam.

Quelle: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/1, Zollikon: Evangelischer Verlag, 1953, § 60, S. 562-566.

Hier der Text als pdf.

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