Platons Demokratiekritik im 8. Buch seiner Politeia (Der Staat) ist mehr als fraglich. Und doch macht der Altphilologe Christoph Riedweg in seiner Einleitung zu „Philosophie für die Polis“ (De Gruyter, 2019, S. 4) darauf aufmerksam, dass „Platons idealtypische Analyse der Ursachen, die zu Instabilität und Verfall bestehender politischer Ordnungen führen, im 8. Buch des Staats von mitunter beklemmender Aktualität“ im Hinblick auf eine populistische Verwandlung der Demokratie in eine Tyrannei ist.
Über den Werdegang der Demokratie (Politeia. Der Staat)
Von Platon
Sokrates im Gespräch mit Adeimantos:
Die Demokratie ist nun offenbar das nächste, was wir betrachten müssen: auf welche Weise sie entsteht und wie ihr Charakter beschaffen ist. Dann können wir auch den Charakter des entsprechenden Menschen kennenlernen und ihn neben die anderen stellen, um unser Urteil abzugeben.
«So würden wir wenigstens in gleicher Weise vorgehen, wie wir es bisher gemacht haben.»
Der Wandel von der Oligarchie zur Demokratie, sagte ich, ergibt sich doch aus der Unersättlichkeit des Verlangens nach dem, was man sich als höchstes Gut vorgesetzt hat, daß man nämlich möglichst reich werden müsse.
«Wieso denn?»
Die Regenten in der Oligarchie, glaube ich, regieren ja nur dank ihrem großen Vermögen. Deshalb sind sie nicht willens, durch ein Gesetz die jungen Leute, die ein zügelloses Leben führen, in Schranken zu halten; sie haben nichts dagegen, daß diese ihr Vermögen verschwenden und zugrunde richten. Sie selbst möchten den Besitz solcher Jünglinge aufkaufen oder Darlehen darauf geben und können so noch reicher und angesehener werden.
«Ja, das vor allem haben sie im Sinn.»
Das ist doch wohl klar, daß man in einer Stadt unmöglich den Reichtum ehren und zugleich Besonnenheit unter den Bürgern erlangen kann. Entweder das eine oder das andere muß man drangeben.
«Das ist ziemlich klar.»
Indem man sich also in den Oligarchien um die Zuchtlosigkeit nicht kümmert und sie einreißen läßt, werden bisweilen Menschen von gar nicht unedler Art in die Armut hineingedrängt.
«Ja, gewiß.»
Da sitzen sie denn in der Stadt, denke ich, mit Stacheln und Waffen versehen. Die einen haben Schulden, die anderen sind ihrer bürgerlichen Rechte verlustig gegangen, bei den dritten ist beides der Fall. Sie hassen die, welche nun ihr Vermögen in Besitz genommen haben, und stellen ihnen und auch den übrigen nach und sind auf Umsturz bedacht.
«So ist es.»
Die Geldmenschen aber ducken sich und tun so, als ob sie diese nicht sähen. Doch jeden von den übrigen jungen Leuten, der sich mit ihnen einläßt, schädigen sie, indem sie ihr Geld bei ihm anbringen. Indem sie dann Zinsen im vielfachen Betrag des verliehenen Kapitals einstreichen, machen sie die Zahl der Drohnen und der Bettler in der Stadt immer größer.
«Natürlich, viel größer», sagte er.
Und sie wollen diesen schlimmen Brand auch nicht löschen, fuhr ich fort. Weder schränken sie die Freiheit ein, daß jemand sein Vermögen nach Belieben verwenden kann, noch beseitigen sie diese Mißbräuche durch folgendes Gesetz.
«Durch welches denn?»
Durch das, das als zweites auf jenes folgen sollte und das die Bürger verpflichtet, sich um Tüchtigkeit zu kümmern. Wenn man nämlich die Vorschrift erließe, daß jeder seine freiwilligen Finanzgeschäfte in der Regel auf eigene Rechnung und Gefahr abschließen müsse, dann würden in der Stadt weniger schamlos Gewinne gemacht, und es käme dort auch weniger zu den schlimmen Zuständen, von denen wir eben sprachen.
«Ja, viel weniger», versetzte er.
Jetzt aber, fuhr ich fort, bringen aus all diesen Gründen die Regenten ihre Untergebenen in der Stadt eben in diese üble Lage. Und was sie selbst und die Ihrigen betrifft, so gewöhnen sie ihre Söhne an Schwelgerei und machen sie zu jeder körperlichen und geistigen Anstrengung zu schlaff, um in Freuden und Schmerzen standhaft zu sein, und dem Müßiggang ergeben.
«Zweifellos.»
Sie selbst aber kümmern sich um nichts als um den Gelderwerb und bemühen sich ebensowenig um die Tüchtigkeit wie die Armen.
«Freilich nicht.»
Wenn nun Regenten und Regierte solcher Art miteinander in Berührung kommen, auf Reisen oder sonst bei gemeinsamen Anlässen, etwa bei Festgesandtschaften, oder wenn sie bei Feldzügen auf demselben Schiff sind oder im selben Heer dienen, oder wenn sie einander gar mitten in Gefahren beobachten, dann sind es durchaus nicht immer die Armen, die von den Reichen verachtet werden. Wenn dann manchmal so ein Armer, hager und sonnverbrannt, in der Schlacht neben einem Reichen steht, der im Schatten verweichlicht wurde und viel überflüssiges Fleisch mit sich trägt, und wenn er dann sieht, wie dieser außer Atem und völlig unbeholfen ist – meinst du nicht, daß er sich dann sagt, daß diese Leute ihren Reichtum nur der Feigheit der Armen verdanken? Und wenn sie dann unter sich allein sind, dann wird wohl der eine dem anderen zurufen: Diese Leute sind in unserer Hand; sie sind ja nichts wert.
«Ja, ich weiß wohl, daß sie das tun », sagte er.
Und wie es bei einem kränklichen Leib nur einen kleinen Anstoß von außen braucht, daß er wirklich krank wird, ja wie er manchmal sogar ohne äußere Einwirkung in sich selbst uneins wird, so geschieht es doch auch mit der Stadt, die sich in einem ähnlichen Zustande befindet: aus einem geringfügigen Anlaß, wenn etwa die eine Partei aus einer oligarchischen, oder die andere Partei aus einer demokratischen Stadt fremde Hilfe herbeiholt, wird sie krank und gerät in einen inneren Streit; manchmal wird sie sogar ohne äußere Einwirkung in sich uneins.
«Ja, gewiß.»
Nach meiner Ansicht entsteht also eine Demokratie, wenn die Armen die Oberhand gewinnen und dann ihre Gegner entweder umbringen oder verbannen und den Übrigbleibenden an der Verwaltung der Stadt und den Ämtern im gleichen Maße Anteil geben, wobei denn in der Regel die Ämter in der Demokratie durch das Los besetzt werden.
«Ja, das ist die Art, wie die Demokratie ein geführt wird», sagte er, «mag das nun durch Waffengewalt geschehen, oder indem ihre Gegner aus Furcht das Feld räumen.»
Auf welche Weise leben nun diese Menschen? Und wie ist ferner eine solche Verfassung beschaffen? Denn offenbar wird sich der Mensch, der ihr entspricht, als der demokratische erweisen.
«Ja, offenbar», sagte er.
Das erste ist doch wohl, daß sie selbst frei sind, daß die Stadt voll Freiheit und Redefreiheit ist, und daß jeder in ihr tun darf, was er will?
«So behauptet man wenigstens», erwiderte er.
Wo das aber erlaubt ist, da wird sich doch offenbar jeder seine Lebensweise so gestalten, wie es ihm gefällt.
«Das ist klar.»
Unter einer solchen Verfassung, denke ich, wird sich also die größte Mannigfaltigkeit unter den Menschen finden.
«Ohne Zweifel.»
So wird dies wahrscheinlich die schönste von allen Verfassungen sein, fuhr ich fort. Gleich einem bunten Kleid, geziert mit allen Farben, so mag uns auch diese Stadt in der Buntheit aller ihrer Sitten sehr schön erscheinen. Und vermutlich, sagte ich, werden sie auch die meisten für die schönste erklären, wie die Kinder und Weiber, wenn sie etwas Buntes sehen.
«Gewiß», sagte er.
Und es ist auch bequem, du Glücklicher, sich in ihr eine Verfassung auszusuchen, fuhr ich fort.
«Wieso?»
Dank der Freiheit, die in ihr herrscht, enthält sie alle Arten von Verfassungen. Und wer eine Stadt gründen will, wie wir das vorhin taten, der braucht anscheinend nur in eine Demokratie zu gehen und sich dort, wie in einem Trödlerladen mit Verfassungen, das Modell auszusuchen, das ihm zusagt; hat er dann seine Wahl getroffen, so kann er seine Stadt einrichten.
«Vermutlich wäre er da um Muster nicht verlegen », sagte er. Daß aber so gar kein Zwang besteht, fuhr ich fort, in dieser Stadt ein Amt zu übernehmen, auch wenn du noch so geschickt dazu bist; daß dich auch niemand zwingt zu gehorchen, wenn du nicht willst; daß du nicht in den Krieg ziehen mußt, wenn Krieg geführt wird; daß du nicht Frieden zu halten brauchst, wenn die anderen ihn halten, falls du kein Bedürfnis nach Frieden hast, und daß du andererseits, wenn dir ein Gesetz verbietet, ein Amt zu bekleiden oder Richter zu sein, nichtsdestoweniger ein Amt bekleiden oder Recht sprechen kannst, wenn du Lust dazu hast – ist ein solches Leben für den Augenblick nicht göttlich und wonnevoll?
«Ja, vielleicht für den Augenblick», erwiderte er.
Und ist die Milde, mit der man gegen einzelne Verurteilte verfährt, nicht allerliebst? Oder hast du noch nie gesehen, wie unter einer solchen Verfassung Männer, die man zum Tode oder zur Verbannung verurteilt hatte, trotzdem dableiben und mitten in der Stadt umhergehen und wie Helden daherstolzieren, als ob sich kein Mensch um sie kümmerte und sie beobachtete?
«Gewiß sah ich schon viele so», erwiderte er.
Und nun die Nachsicht dieser Verfassung, daß sie so gar nicht kleinlich ist, sondern stolz über den Grundsatz hinwegsieht, dem wir so große Wichtigkeit beigemessen haben, als wir unsere Stadt gründeten: daß niemand, er müßte denn eine ganz überragende Natur haben, je ein tüchtiger Mann werden könne, wenn er nicht schon als Knabe im Schönen spielt und dann ganz nur noch nach solchem trachtet – mit welcher Großartigkeit tritt diese Verfassung alles das mit Füßen und macht sich nichts daraus, von was für einer Betätigung her einer zu den Staatsgeschäften kommt, sondern hält ihn schon in Ehren, wenn er nur behauptet, er sei dem Volke wohlgesinnt.
«Ja, wahrlich, eine edle Nachsicht ist das», sagte er.
Diese Eigenschaften wird also die Demokratie haben, sagte ich, und sonst noch einige, die damit verwandt sind, und allem Anschein nach ist sie eine angenehme, herrscherlose und buntscheckige Verfassung, die Gleichen und Ungleichen eine gewisse Gleichheit verleiht.
«Was du sagst», erwiderte er, «ist sehr bezeichnend für sie.»
Sieh nun zu, fuhr ich fort, wer der entsprechende Einzelne ist. Oder müssen wir zuerst untersuchen, auf welche Weise er entsteht, wie wir das bei der Verfassung gemacht haben?
«Ja», sagte er.
Das geht doch so zu: ich nehme einmal an, jener sparsame oligarchische Mann hätte einen Sohn, der vom Vater in seiner Lebensweise erzogen worden ist.
«Ja, warum nicht?»
Auch dieser unterdrückt also mit Gewalt die Lüste in sich, soweit sie ihn zur Verschwendung veranlassen, aber nichts einbringen, also nur die, welche man als nicht notwendig bezeichnet.
«Offenbar», sagte er.
Damit wir nun bei unserem Gespräch nicht im Finsteren tappen, fuhr ich fort, bist du wohl einverstanden, daß wir zuerst genau bestimmen, welches die notwendigen und welches die nicht notwendigen Begierden sind?
«Ja, gerne», sagte er.
Wir werden wohl diejenigen mit Recht als notwendig bezeichnen, denen wir uns nicht entziehen können, und außerdem die, die uns Nutzen bringen, wenn wir sie befriedigen? Denn diesen beiden nachzustreben zwingt uns unsere Natur; oder nicht?
«Ja, freilich.»
Wir dürfen also mit Recht von ihnen sagen, sie seien ‚notwendig‘?
«Ja.»
Wie steht es aber mit jenen, die man ablegen könnte, wenn man sich von Jugend an darum bemüht, und die dort, wo sie sich finden, nichts Gutes bewirken, sondern manchmal sogar das Gegenteil? Hätten wir nicht recht, wenn wir alle diese für nicht notwendig erklärten?
«Doch, da hätten wir recht.»
Nehmen wir also von beiden ein Beispiel, um eine allgemeine Vorstellung von ihnen zu bekommen.
«Ja, das sollten wir.»
Wenn wir zur Erhaltung unserer Gesundheit und unseres Wohlbefindens essen möchten, dann ist doch wohl das Verlangen nach Brot und Fleisch eine notwendige Begierde?
«Ja, ich denke.»
Die nach Brot ist also in zweierlei Hinsicht notwendig: einerseits ist sie uns förderlich; andererseits kann sie dem Leben ein Ende machen (wenn man sie nicht befriedigt).
«Ja.»
Die nach Fleisch ist dagegen nur insofern notwendig, als sie zu unserem Wohlbefinden dient.
«Ja, gewiß.»
Wie steht es aber mit der Begierde, die sich über das hinaus auf feinere Speisen richtet und die man durch strenge Zucht von Jugend an und durch gute Erziehung den meisten abgewöhnen kann; die dem Leibe schädlich sind, aber auch der Seele in ihrem Streben nach Besinnung und Besonnenheit schaden – diese würde doch sicher mit Recht als nicht notwendig bezeichnet?
«Ja, mit vollem Recht.»
Und wir können doch auch sagen, daß diese Begierden zur Verschwendung führen, während jene Gewinn bringen, weil sie für unsere Leistungen förderlich sind.
«Zweifellos.»
Und ebenso können wir auch die Begierden der Liebe und alle anderen bestimmen.
«Ja.»
Unter dem Manne, den wir vorhin eine Drohne nannten, verstanden wir doch einen, der voll ist von solchen Lüsten und Begierden und sich von den nicht notwendigen beherrschen läßt. Wer dagegen von den notwendigen beherrscht wird, den bezeichneten wir als sparsam und oligarchisch?
«Ja, freilich.»
Und nun kommen wir also darauf zurück, sagte ich, wie aus dem oligarchischen Menschen der demokratische wird. Das scheint mir in der Regel so zuzugehen.
«Wie denn?»
Wenn ein junger Mann, wie wir das eben beschrieben haben, ohne echte Bildung in Sparsamkeit aufgewachsen ist und nun vom Honig der Drohnen kostet und mit feurigen und gefährlichen Tieren zusammenkommt, die ihm mancherlei bunte und abwechslungsreiche Vergnügungen verschaffen können, so kannst du sicher sein, daß sich die Oligarchie in ihm zur Demokratie umzuwandeln beginnt.
«Das ist nicht anders möglich», sagte er.
Und wie sich die Stadt wandelte, wenn der einen Partei Hilfe von außen kam, von Gleichgesinnten an Gleichgesinnte, so wandelt sich auch der junge Mann, wenn der einen Art von Begierden in ihm die verwandte und ähnliche von außen her zu Hilfe kommt.
«Ja, allerdings.»
Und wenn dann andererseits auch die oligarchische Seite in ihm irgendwoher Hilfe bekommt, vom Vater oder von den anderen Verwandten, die ihn zurechtweisen und schelten, dann bilden sich eben in ihm zwei streitende Parteien, und er gerät mit sich selbst in Kampf.
«Zweifellos.»
Und manchmal, denke ich, hat dann wohl das Demokratische dem Oligarchischen das Feld geräumt; einige von den Begierden sind zugrunde gegangen, andere sind vertrieben worden, weil sich in der Seele des Jünglings noch ein gewisses Schamgefühl fand, und die Ordnung in ihm ist wieder hergestellt worden.
«Ja, das geschieht bisweilen », sagte er.
Dann aber, glaube ich, sind wieder andere Begierden nachgewachsen, die mit den vertriebenen verwandt sind, haben sich vermehrt und sind stark geworden, weil der Vater von der Erziehung nichts versteht.
«Ja, so geht es gewöhnlich», sagte er.
Und diese haben den Jüngling dann wieder zu den alten Bekannten hingezogen, und durch diesen heimlichen Verkehr mit ihnen haben sie eine zahlreiche Nachkommenschaft erzeugt.
«Ohne Zweifel.»
Und schließlich, denke ich, haben sie die Burg in der Seele des Jünglings eingenommen; denn sie haben gemerkt, daß sie entblößt ist von schönen Lehrgehalten und Bestrebungen und von wahren Grundsätzen, die ja im Denken gottgeliebter Männer die besten Besatzungstruppen und Wächter sind.
«Ja, weitaus die besten », sagte er.
Falsche und prahlerische Grundsätze und Meinungen, denke ich, sind dann an ihrer Stelle hinauf in die Burg eines solchen Menschen gelaufen und haben den Platz besetzt.
«Jawohl», sagte er.
Geht er dann nicht wieder zu jenen Lotophagen und lebt vor aller Welt mit ihnen? Und wenn von seinen Verwandten dem sparsamen Teil seiner Seele irgendwelche Hilfe zukommt, dann schließen jene prahlerischen Grundsätze die Tore des königlichen Bollwerks in ihm und lassen weder diese Hilfstruppen selbst ein, noch nehmen sie die Ratschläge einzelner älterer Männer an, die gleichsam als Gesandte zu ihnen kommen. Sie gewinnen die Schlacht und stoßen die Scham, die sie Einfalt nennen, als ehrlos Verbannte hinaus; die Besonnenheit, die sie als Unmännlichkeit bezeichnen, treten sie mit Füßen und jagen sie davon; das Maßhalten und die geschmackvolle Beschränkung im Aufwand aber stellen sie als Spießigkeit und Knauserigkeit hin und weisen sie über die Grenze, unter dem Beistand von vielen und unnützen Begierden.
«Jawohl.»
Haben sie dann aber die Seele dessen, der von ihnen eingenommen und in ihre großen Mysterien eingeweiht wird, von alledem geleert und gereinigt, so holen sie gleich darauf Übermut und Willkür, Verschwendung und Schamlosigkeit im Glanz der Fackeln, bekränzt und in großer Prozession aus der Verbannung zurück. Sie preisen sie und geben ihnen beschönigende Namen, nennen den Übermut gute Erziehung, die Willkür Freiheit, die Verschwendung Großzügigkeit und die Schamlosigkeit Tapferkeit. Auf diese Weise geschieht es doch, fuhr ich fort, daß ein junger Mensch, der in den notwendigen Begierden erzogen war, sich wandelt und die nicht notwendigen und nichtsnutzigen Begierden entfesselt und losläßt?
«Ja, ganz deutlich», sagte er.
Daraufhin, denke ich, gestaltet er sein Leben so, daß er für die nicht notwendigen Lüste ebensoviel Geld, Mühe und Zeit aufwendet wie für die notwendigen. Hat er aber Glück und verliert sich nicht allzusehr an das bacchische Wesen, sondern nimmt, wenn er etwas älter geworden und wenn der große Taumel vorüber ist, einen Teil der verbannten Neigungen wieder bei sich auf und überläßt sich nicht völlig den eingedrungenen, so lebt er dann in einem gewissen Gleichgewicht der Lüste und übergibt immer jener, die sich gerade einstellt, die Herrschaft über sich, als hätte sie das Los gezogen. Ist diese befriedigt, so überläßt er die Herrschaft einer anderen und schätzt keine gering, sondern hegt sie alle gleichmäßig.
«Ja, gewiß.»
Und ein wahres Wort, fuhr ich fort, nimmt er nicht an und läßt es auch nicht in die Burg ein, wenn ihm jemand sagen wollte, daß die einen Lüste von schönen und guten Begierden herrühren, die anderen aber von schlechten, und daß man jene erstreben und ehren muß, diese aber bändigen und unterdrücken: bei alledem schüttelt er den Kopf und sagt, sie seien alle gleich und man müsse ihnen die gleichen Ehren erweisen.
«Ja, so steht es mit ihm», sagte er, «und so handelt er.»
So lebt er also Tag für Tag, fuhr ich fort, und zeigt sich willfährig jeder Begierde, die ihm gerade beifällt. Bald berauscht er sich bei Wein und Flötenspiel, dann trinkt er wieder Wasser und magert ab; bald treibt er Gymnastik, dann geht er wieder müßig und kümmert sich um nichts; bald tut er wieder, als beschäftige er sich mit Philosophie; manchmal treibt er Politik, und wenn er aufspringt, redet und handelt er, wie es ihm gerade einfällt. Das eine Mal packt ihn der kriegerische Ehrgeiz, und er stürzt sich auf dieses Gebiet; dann beneidet er wieder die Geschäftsleute, und er wendet sich dem zu; keine Ordnung und keine Notwendigkeit waltet über seinem Leben; sondern das nennt er ein angenehmes, freies und glückliches Dasein und genießt es bis an sein Ende.
«Da hast du in jeder Hinsicht das Leben eines Mannes geschildert», sagte er, «der die Gleichberechtigung verkörpert.»
Ich glaube aber auch, fuhr ich fort, daß dieser Mann ein wandlungsfähiges Wesen hat und gar manche Charakterzüge in sich vereinigt und sich ebenso schön und bunt erweist wie jene Stadt. Viele Männer und Frauen bewundern seine Lebensführung, da er das Muster für die meisten Verfassungen und Lebensweisen in sich trägt.
«Ja, so ist er», erwiderte er.
Soll uns also dieser Mann als Repräsentant der Demokratie gelten, indem wir ihn mit Recht als den demokratischen bezeichnen?
«Ja, das soll er», sagte er.
Die schönste Verfassung, fuhr ich fort, und der schönste Mensch bleiben uns also noch zu besprechen übrig, die Tyrannis und der Tyrann.
«Ja, freilich », sagte er.
Worin, mein lieber Freund, besteht nun aber der Charakter der Tyrannis? Denn daß sie durch Umwandlung aus der Demokratie entsteht, das ist doch ziemlich klar.
«Ja.»
Ungefähr ebenso wie aus der Oligarchie eine Demokratie wird, so wird doch auch aus der Demokratie eine Tyrannis?
«Wie denn?»
«Was man sich in der Oligarchie als höchstes Gut vorsetzte, sagte ich, und weswegen diese auch entstanden ist, das war doch der Reichtum, nicht wahr?
«Ja.»
Das unersättliche Streben nach Reichtum und die Vernachlässigung aller anderen Dinge um des Gelderwerbs willen, das hat sie doch zugrunde gerichtet?
«Richtig», sagte er.
Ist nun nicht auch die Unersättlichkeit in dem, was der Demokratie als höchstes Gut gilt, auch gerade das, was sie zerstört?
«Was meinst du, daß sie sich als höchstes Gut vorsetzt?»
Die Freiheit, erwiderte ich. Denn du kannst doch in einer demokratischen Stadt immer wieder sagen hören, daß sie das Schönste sei und daß es sich deshalb für einen, der zur Freiheit geboren ist, einzig in ihr zu leben lohne.
«Ja, diesen Ausspruch kann man immer wieder hören», erwiderte er.
Das ist es ja nun eben, was ich sagen wollte, fuhr ich fort: daß diese Verfassung darin unersättlich und gegen alles andere gleichgültig ist, das wandelt sie um und bringt sie so weit, daß sie der Tyrannis bedarf.
«Wie das?» sagte er.
Ich denke mir, wenn eine demokratische Stadt nach Freiheit dürstet, aber böse Weinschenken an ihre Spitze bekommt und sich über den Durst am ungemischten Wein der Freiheit berauscht, dann wird sie ihre Regierenden bestrafen, wenn diese nicht ganz nachgiebig sind und ihr in reichem Maße Freiheit gewähren, indem sie sie als verbrecherisch und oligarchisch beschuldigt.
«Ja, das tun sie», erwiderte er.
Die aber, sagte ich, die den Regierenden untertan sind, tritt die Demokratie mit Füßen als knechtisch Gesinnte und Nichtswürdige. Die Regierenden aber, die sich den Untertanen, und die Untertanen, die sich den Regierenden gleichstellen, lobt und ehrt sie im privaten und im öffentlichen Leben. Ist es da nicht unvermeidlich, daß sich in einer solchen Stadt der Freiheitsdrang auf alles ausdehnt?
«Ohne Zweifel.»
Und daß er, mein Lieber, auch in die Häuser der einzelnen Bürger eindringt, fuhr ich fort, und sich schließlich die Zügellosigkeit sogar auf die Tiere überträgt.
«Wie ist das gemeint?» fragte er.
Etwa so, erwiderte ich: Der Vater gewöhnt sich daran, dem Knaben gleich zu werden, und fürchtet sich vor seinen Söhnen. Der Sohn aber stellt sich dem Vater gleich und empfindet weder Achtung noch Furcht vor seinen Eltern; denn er will eben frei sein. Der Metöke gilt so viel wie der Stadtbürger, und der Stadtbürger so viel wie der Metöke, und der Fremde ebenso.
«Ja, so geschieht es », sagte er.
Und nicht nur das, sagte ich, sondern auch noch andere kleine Mißstände dieser Art kommen vor. Der Lehrer fürchtet unter diesen Verhältnissen seine Schüler und schmeichelt ihnen; die Schüler aber haben keinen Respekt vor ihren Lehrern und ebensowenig vor ihren Erziehern; überhaupt stellen sich die Jungen den Älteren gleich und suchen es ihnen in Worten und Taten gleichzutun. Die Alten aber lassen sich zu den Jungen herab und treiben lauter Scherze und Späße mit ihnen und gebärden sich wie Jünglinge, um ja nicht den Anschein zu erwecken, als seien sie griesgrämig oder herrisch.
«Ja, gewiß», sagte er.
Ihren Gipfel aber, mein Freund, fuhr ich fort, erreicht die Fülle der Freiheit in einer solchen Stadt, wenn sogar die gekauften Sklaven und Sklavinnen ebenso frei sind wie ihre Käufer. Wie groß aber die Gleichberechtigung und Freiheit zwischen Frauen und Männern und zwischen Männern und Frauen ist, das hätte ich beinahe zu erwähnen vergessen.
«Wir wollen doch aber, wie Aischylos sagt, das aussprechen, was uns eben auf die Zunge kommt», versetzte er.
Ja, gewiß, erwiderte ich, auch ich will es so halten. Wie viel freier hier sogar das Leben der Haustiere ist, das würde niemand glauben, der es nicht selbst erfahren hat. Denn die Hunde sind, wie das Sprichwort sagt, geradezu wie die Herrinnen, und die Pferde und Esel sind gewohnt, völlig frei und stolz einherzuschreiten und jeden, dem sie auf der Straße begegnen, anzurennen, wenn er ihnen nicht aus dem Wege geht. Und so ist auch alles andere voll Freiheit.
«Du erzählst mir gerade das», erwiderte er, «was ich geträumt habe. Denn wenn ich über Feld gehe, widerfährt mir das häufig.»
Du erkennst nun aber, fuhr ich fort, was sich daraus im ganzen ergibt, wenn man alles das zusammenfaßt: es macht die Seele der Bürger empfindlich, so daß sie, wenn ihnen jemand auch nur ein wenig Zwang antut, unwillig werden und das nicht ertragen können. Schließlich kümmern sie sich, wie du ja weißt, auch nicht mehr um die Gesetze, weder um die geschriebenen noch um die ungeschriebenen, um ja auf keine Weise mehr einen Herrn über sich zu haben.
«Ja, das weiß ich», sagte er.
Das also, mein Freund, fuhr ich fort, ist der schöne und jugendlich kecke Anfang, aus dem, wie ich glaube, die Tyrannis erwächst.
«Keck ist er in der Tat», sagte er. «Was aber folgt darauf?»
Die gleiche Krankheit, fuhr ich fort, die in der Oligarchie aufgetreten ist und diese zugrunde gerichtet hat, entsteht auch hier, wird infolge der Freiheit größer und stärker und zwingt die Demokratie unter ihr Joch. In der Tat bewirkt ja das Übermaß gerne einen heftigen Umschwung in das Gegenteil. So ist es beim Wetter, bei den Pflanzen und (lebendigen) Leibern und nicht zum wenigsten auch bei den Verfassungen.
«Das mag sein», erwiderte er.
Die übergroße Freiheit schlägt offenbar in nichts anderes um als in übergroße Knechtschaft, sowohl für den Einzelnen als auch für die Stadt.
«Ja, natürlich.»
Es ist also wahrscheinlich, sagte ich, daß die Tyrannis aus keiner anderen Verfassung hervorgeht als aus der Demokratie, aus der höchsten Freiheit also, meine ich, die größte und härteste Knechtschaft.
«Ja, das ist folgerichtig», erwiderte er.
Doch ich glaube, fuhr ich fort, du hast mich nicht das gefragt, sondern wie die Krankheit beschaffen sei, die zuerst in der Oligarchie und nachher ebenso in der Demokratie auftritt und sie unter ihr Joch zwingt.
«Du hast recht», sagte er.
Ich meinte also, erwiderte ich, jenes Geschlecht von faulen Verschwendern, unter denen die tapfersten die Führung haben und die Feigeren das Gefolge bilden. Wir verglichen sie mit den Drohnen, einerseits mit denen, die einen Stachel führen, andererseits mit denen ohne Stachel.
«Und das mit Recht», sagte er.
Diese beiden, fuhr ich fort, richten also in jeder Verfassung, wo sie auftreten, Unordnung an, wie Schleim und Galle im Leib. Gegen sie muß denn auch der gute Arzt und Gesetzgeber einer Stadt wie ein kundiger Bienenvater beizeiten schon Vorkehrungen treffen, daß sie sich überhaupt nicht einnisten, oder wenn sie einmal da sind, daß sie möglichst bald mitsamt den Waben herausgeschnitten werden.
«Ja, beim Zeus », rief er, «das muß er auf alle Fälle tun!»
Damit wir unser Ziel genauer sehen, fuhr ich fort, wollen wir die Sache so anfassen.
«Wie denn?»
Zerlegen wir in Gedanken die demokratische Stadt in die drei Gruppen, aus denen sie wirklich auch besteht. Die erste bildet eben dieses Geschlecht (der Drohnen), das infolge der Freiheit in der Demokratie nicht weniger gedeiht als in der oligarchisch regierten Stadt.
«So ist es.»
Es tritt aber hier mit viel größerer Schärfe auf als dort.
«Wieso?»
Dort genießt es keine Achtung, wird von der Regierung ausgeschlossen und bleibt deshalb ungeübt und schwach. In der Demokratie aber steht dieses Geschlecht mit wenigen Ausnahmen an der Spitze. Die schärfsten darunter reden und handeln; die anderen aber setzen sich summend um die Rednerbühne und dulden nicht, daß jemand widerspricht, so daß unter einer solchen Verfassung alles bis auf weniges von diesen Drohnen verwaltet wird.
«Ja, gewiß », sagte er.
Die zweite Gruppe ferner, die sich von der Gesamtmenge immer absondert, ist folgende.
«Was für eine?»
Wenn alle sich um Gelderwerb bemühen, werden in der Regel die am reichsten, die von Natur am ordentlichsten sind.
«Ja, wahrscheinlich.»
Von diesen, denke ich, läßt sich also für die Drohnen am meisten und am leichtesten Honig gewinnen.
«Ja», sagte er, «denn wie könnte man Honig ziehen von denen, die wenig haben?»
Solche reiche Leute nennt man doch also ‚Weide der Drohnen‘.
«Ja, ungefähr so», sagte er.
Die dritte Gruppe aber wäre das Volk, das heißt alle, die mit der Hand arbeiten und sich sonst um nichts kümmern und auch kein großes Vermögen besitzen. Das aber ist die größte und ausschlaggebende Gruppe in der Demokratie, wenn sie sich zur Volksversammlung zusammenfindet.
«Ja, das ist sie», sagte er. «Aber sie läßt sich nicht häufig versammeln, wenn sie dabei nicht auch ihren Anteil am Honig bekommt.»
Den bekommt sie doch immer, sagte ich, sofern es nur den Volksführern gelingt, den Besitzenden ihre Habe wegzunehmen und, indem sie dem Volk davon austeilen, das meiste für sich zu behalten.
«Auf diese Art bekommt das Volk freilich einen Anteil», sagte er.
Diese Beraubten sind nun wohl gezwungen, sich zur Wehr zu setzen, indem sie vor dem Volke das Wort ergreifen und auch handeln, soweit sie das vermögen.
«Selbstverständlich.»
Und wenn sie auch durchaus nicht nach einem Umsturz Verlangen haben, so werden sie dann doch von ihren Gegnern beschuldigt, sie planten etwas gegen das Volk und seien oligarchisch gesinnt.
«Zweifellos.»
Und wenn sie dann sehen, wie das Volk – nicht absichtlich, sondern aus Unwissenheit und von ihren Verleumdern getäuscht – ihnen Gewalt antun will, so werden sie zuletzt tatsächlich oligarchisch gesinnt, ob sie wollen oder nicht. Sie tun es nicht aus freien Stücken, sondern weil die Drohne mit ihrem Stachel auch dieses Übel in ihnen hervorbringt.
«Ja, gerade so ist es.»
Daraus entstehen dann öffentliche Anklagen, gerichtliche Urteile und Prozesse der einen Partei gegen die andere.
«Ja, gewiß.»
Pflegt dann nicht das Volk jeweils mit Vorliebe einen Einzelnen an seine Spitze zu stellen, ihn zu hegen und groß werden zu lassen?
«Ja, das tut es.»
Wenn also ein Tyrann ersteht, sagte ich, so ist das eine klar, daß er in diesem Führertum seine Wurzel hat und nirgends sonst.
«Das ist ganz klar.»
Wie beginnt nun der Wandel vom Führer zum Tyrannen? Offenbar doch dann, wenn der Führer dasselbe zu tun anfängt, was jener Mann in der Sage tut, die man vom Tempel des Zeus Lykaios in Arkadien erzählt?
«Welche Sage?»
Wer von menschlichem Eingeweide gegessen hat, auch wenn nur ein Stück davon unter das Fleisch von anderen Opfertieren hineingeschnitten wurde, der müsse zum Wolf werden. Oder hast du die Geschichte nie gehört?
«Doch.»
Geschieht nun nicht dasselbe, wenn der Führer eines Volkes, gestützt auf eine ihm völlig ergebene Schar, sich vom Blute seiner Volksgenossen nicht enthalten kann, sondern sie mit ungerechten Beschuldigungen, wie sie das nicht selten tun, vor Gericht zieht, sie umbringt und, indem er ein Menschenleben vernichtet, mit Zunge und frevelndem Munde das Blut seiner Stammesgenossen trinkt, wenn er Menschen in die Verbannung schickt oder tötet und dabei Andeutungen macht über Schuldentilgung und Aufteilung des Landes – einem solchen muß doch nachher vom Schicksal beschieden sein, entweder durch seine Feinde umzukommen oder zum Tyrannen und damit aus einem Menschen ein Wolf zu werden.
«Ja, das kann gar nicht anders sein», erwiderte er.
Und das ist doch der, sagte ich, der sich gegen die Besitzenden erhebt?
«Ja.»
Wenn er nun verbannt worden ist und dann, seinen Feinden zum Trotz, wieder zurückkehrt, so kommt er doch als ausgemachter Tyrann wieder?
«Offenbar.»
Gelingt es aber seinen Feinden nicht, ihn bei der Bürgerschaft verdächtig zu machen und dadurch seine Vertreibung oder seinen Tod zu bewirken, so lauern sie ihm auf, um ihn heimlich durch einen gewaltsamen Tod aus dem Wege zu schaffen.
«Ja, so pflegt es zu geschehen.»
Unter diesen Umständen kommen denn alle, die so weit gelangt sind, auf die bekannte tyrannische Forderung: sie verlangen vom Volk eine Leibwache, damit dem Volke sein Helfer erhalten bleibe.
«Gewiß», sagte er.
Diese geben sie ihm denn, denke ich, weil sie um sein Leben besorgt sind und andererseits für sich selbst nichts befürchten.
«Ja, gewiß», sagte er.
Sieht das nun ein vermöglicher Mann, der infolge seines Reichtums im Verdacht steht, ein Volksfeind zu sein, dann, mein Freund, wird er doch, wie der Orakelspruch des Kroisos sagt:
hin zum steinigen Hermos
fliehn; er bleibt nicht und scheut sich auch nicht, ein Feigling zu heißen.
«Ja», sagte er. «Er käme auch nicht in den Fall, sich ein zweitesmal zu scheuen.»
Wer sich aber ergreifen läßt, fuhr ich fort, der verfällt, denke ich, dem Tode.
«Notwendig.»
Jener Führer liegt also offenbar durchaus nicht groß und lang hingestreckt am Boden, sondern er streckt viele andere nieder und steht dabei auf dem Wagen des Staates; er ist aus einem Führer ein vollendeter Tyrann geworden.
«Ja, das ist unvermeidlich », erwiderte er.
Laßt uns nun das Glück betrachten, fuhr ich fort, das diesem Manne und der Stadt zuteil wird, in der solch ein Sterblicher emporkommt.
«Ja, tun wir das», erwiderte er.
In den ersten Tagen, sagte ich, und in der ersten Zeit wird er den Leuten zulächeln und alle freundlich begrüßen, denen er begegnet. Er behauptet, er sei gar kein Tyrann und macht den Einzelnen und der Öffentlichkeit große Versprechungen. Er erläßt Schulden und verteilt Land unter das Volk und unter seine Gefolgschaft und gibt sich den Anschein, als sei er allen freundlich und milde gesinnt.
«Notwendig», sagte er.
Hat er sich aber vor seinen Gegnern, die außer Landes sind, Ruhe verschafft, indem er sich mit den einen verständigt und die anderen vernichtet hat, so wird er vor allem, denke ich, immer wieder irgendeinen Krieg anfangen, damit das Volk einen Führer nötig hat.
«Natürlich.»
Und wohl auch deshalb, damit sie infolge der Steuern verarmen, an ihre Sorgen denken müssen und weniger gegen ihn unternehmen können.
«Offenbar.»
Und wenn er gegen einige den Verdacht hat, sie seien freiheitlich gesinnt und möchten ihn nicht weiter herrschen lassen, dann bekommt er so, denke ich, einen Vorwand, um sie aus dem Wege zu schaffen, indem er sie den Feinden in die Hand fallen läßt. Aus all diesen Gründen muß ein Tyrann immer wieder einen Krieg anstiften.
«Notwendig.»
Ein solches Tun ist aber doch geeignet, ihn bei den Bürgern mehr und mehr verhaßt zu machen?
«Ohne Zweifel.»
Und auch von denen, die mitgeholfen haben, ihn an die Macht zu bringen, und die jetzt in einflußreichen Stellungen sind, werden doch wohl einige vor ihm und unter sich sagen, was sie denken; wenigstens die tapfersten unter ihnen werden das, was vorgeht, mißbilligen.
«Wahrscheinlich.»
Diese alle muß der Tyrann aus dem Wege räumen, wenn er wirklich herrschen will, bis weder bei den Freunden noch bei den Feinden einer übrig bleibt, der etwas taugt.
«Offenbar.»
Mit scharfem Blick muß er also feststellen, wer tapfer, wer großzügig, wer verständig und wer reich ist. Und darin zeigt sich sein Glück, daß er allen diesen, ob er will oder nicht, feind sein und ihnen nachstellen muß, bis er die Stadt gesäubert hat.
«Eine schöne Säuberung!» riefet.
Ja, sagte ich, gerade das Umgekehrte von dem, was die Ärzte tun; wenn diese den Leib säubern, dann entfernen sie das Schlechteste und lassen das Beste übrig; er aber macht es gerade anders.
«Offenbar muß er so handeln», sagte er, «wenn er Herr bleiben will.»
Er ist also in einem glücklichen Zwang befangen, sagte ich, der ihn veranlaßt, entweder mit Leuten zu hausen, die zur Mehrzahl schlecht sind und dabei auch noch von diesen gehaßt zu werden oder überhaupt nicht zu leben.
«Ja, in einer solchen Zwangslage ist er», sagte er.
Und je mehr er sich durch dieses Tun den Bürgern verhaßt macht, um so zahlreichere und treuere Leibwächter wird er doch haben müssen?
«Ohne Zweifel.»
Wer sind nun diese Getreuen, und woher soll er sie holen?
«Sie werden von selbst in Scharen geflogen kommen », sagte er, «wenn er ihnen nur Sold gibt.»
Beim Hund, rief ich, da sprichst du offenbar schon wieder von Drohnen, doch jetzt von fremden, die von allen Seiten kommen.
«Ja, richtig», sagte er, «das meinte ich.»
Und aus dem eigenen Lande? Möchte er da nicht lieber …?
«Wie meinst du?»
Indem er den Bürgern die Sklaven wegnimmt, diesen die Freiheit gibt und sie in seine Leibwache einreiht.
«Gewiß», sagte er. «Diese werden ihm sicher auch am treusten sein.»
Wie glücklich ist doch die Lage des Tyrannen, die du da schilderst, rief ich, wenn er solche Freunde und Getreue haben muß, nachdem er jene vernichtet hat, die es vorher waren.
«Aber nun hat er eben doch diese nötig», erwiderte er.
Und sie bewundern ihn, fuhr ich fort, diese Freunde, und diese neuen Bürger halten sich zu ihm; die anständig Denkenden aber verabscheuen und meiden ihn.
«Gewiß werden sie das tun.»
Nicht ganz ohne Grund, sagte ich, hält man also die Tragödie für weise, und insbesondere Euripides, ihren großen Meister.
«Wieso meinst du?»
Er hat ja unter anderem auch den tiefsinnigen Ausspruch getan, daß die Tyrannen weise seien durch den Umgang mit den Weisen. Er meinte offenbar, diejenigen, mit denen er verkehrt, seien die Weisen.
«Und er preist die Tyrannis als etwas Göttergleiches», sagte er, «und spendet ihr auch sonst manches Lob, er und die anderen Dichter.»
Weil also die Tragödiendichter weise sind, fuhr ich fort, werden sie es uns und denen, die über die Stadt ähnlich denken, nicht übelnehmen, daß wir sie unter unserer Verfassung nicht aufnehmen können, weil sie die Tyrannis verherrlichen.
«Ich glaube, sie werden uns das verzeihen», sagte er, «wenigstens die feineren Köpfe unter ihnen.»
Ich denke aber, sie ziehen dann wenigstens in den anderen Städten umher, versammeln die Menge um sich, mieten sich schöne, laute und gewinnende Schauspielerstimmen und lok- ken die Verfassungen zur Tyrannis und zur Demokratie hinüber.
«Jawohl.»
Und dafür bekommen sie auch noch Honorar und empfangen Ehren, vor allem natürlich von den Tyrannen, in zweiter Linie von der Demokratie; je weiter sie aber zu den höheren Verfassungen hinaufsteigen, um so mehr versagt ihr Ruhm, wie wenn er aus Atemnot nicht mehr mitkommen könnte.
«Ja, freilich.»
Doch da sind wir nun abgeschweift, fuhr ich fort. Kehren wir also wieder zu jenem Heerlager des Tyrannen zurück und sehen, woher der Unterhalt für diese schöne, große, bunte und immer wechselnde Truppe stammt.
«Wenn es in der Stadt Tempelgüter gibt», sagte er, «so wird er offenbar diese dafür verwenden. Je weiter der Erlös aus ihrem Verkauf reicht, desto weniger Steuern verordnet er dem Volk.»
Was aber, wenn diese Güter ausgegangen sind?
«Das ist klar», sagte er. «Dann wird er vom väterlichen Vermögen leben – er und seine Zechbrüder und seine Freunde und Freundinnen.»
Ich verstehe, versetzte ich. Das Volk, das den Tyrannen hervorgebracht hat, wird auch für seinen und seiner Genossen Unterhalt sorgen.
«Ja, das muß es», sagte er.
Was meinst du aber, fragte ich, wenn das Volk unzufrieden wird und erklärt, es sei nicht gerecht, daß sich ein erwachsener Sohn von seinem Vater ernähren lasse, sondern es sollte umgekehrt der Vater vom Sohn unterhalten werden; es habe ihn ja auch nicht deshalb erzeugt und eingesetzt, damit es dann, wenn er groß geworden sei, selbst Sklave seiner eigenen Sklaven werde und ihn samt den Sklaven und dem zusammengelaufenen Gesindel ernähren müsse. Es habe vielmehr unter seiner Führung von den Reichen und den sogenannten Edlen in der Stadt befreit werden wollen. Und wenn es ihm nun befiehlt, er solle mit seinen Genossen die Stadt verlassen, so wie ein Vater seinen Sohn samt den lästigen Zechbrüdern aus dem Hause treibt?
«Dann, beim Zeus», rief er, «wird das Volk schon erkennen, was für einen Sohn es erzeugt und gehegt und großgezogen hat, und daß es nun als Schwächerer die Stärkeren vertreiben will.»
Wie meinst du? fragte ich. Wird es der Tyrann wagen, gegen seinen Vater Gewalt anzuwenden und ihn zu schlagen, wenn er sich ihm nicht fügt?
«Ja», sagte er. «Doch erst, wenn er ihn entwaffnet hat.»
Nach deiner Meinung, erwiderte ich, ist also der Tyrann ein Vatermörder und ein übler Pfleger des Alters. Und dies wäre nun die offene Tyrannis; und das Volk, das, wie man sagt, aus dem Rauch der Dienstbarkeit unter Freien fliehen wollte, wäre dabei in das Feuer der Gewaltherrschaft unter Sklaven gefallen. Es hätte statt des Kleides jener großen und maßlosen Freiheit das der übelsten und bittersten Sklaverei unter Sklaven angezogen.
«Ja, gerade so geht es», erwiderte er.
Und jetzt? sprach ich. Wird es nicht stimmen, wenn wir nun sagen, wir hätten zur Genüge dargestellt, wie aus der Demokratie die Tyrannis hervorgeht und wie diese dann beschaffen ist?
«Ja, das genügt durchaus», sagte er.
Aus Platon, Politeia. Der Staat, Buch 8 (555b-569c, Übersetzung Rudolf Rufener).