Karl Barth, Quousque tandem? (1930): „Die evangelische Kirche ist heute schon von einer finstern Wolke von Mißtrauen umgeben. Wer nicht blind ist, sieht es. Ihre Führer aber sind blind und sehen es nicht. Freuen sich des Vertrauens, das ihnen ein Häuflein ‚Kirchenvolk‘ entgegen zu bringen scheint, indem es sich an Sonn- und Feiertagen immer wieder erwartungsvoll zu ihren Füßen setzt“

Quousque tandem? (1930)

Von Karl Barth

Durch unsere Kirchenzeitungen und Gemeindeblätter ging vor einigen Wochen — gewiß durch eine jener verheerenden „evangelischen Presse-Zentralen“ veranlaßt — folgender Passus, mit dem Univ.-Prof. D. Schneider einen Aufsatz über die kirchliche Zeitlage im neuesten Band seines kirchlichen Jahrbuchs eingeleitet haben soll: „Die evangelische Kirche hat die ungeheure Bedrohung ihres Daseins lebenskräftig überwunden“, so schreibt mit vollem Recht Präses D. Wolff in dem Sammelwerk: „Zehn Jahre deutscher Geschichte 1918-1928“. Es hat doch in der Tat eine Zeit gegeben, da ihr — wenigstens ihrem äußerem Organismus — buchstäblich die Zerschlagung drohte, eine Zeit, in der der Atheismus sich schon brav und bieder anschickte, ihr die Leichenrede zu halten. Etliche voreilige Schwätzer aus der Schicht der „Intellektuellen“ gaben schon die Texte an. Auch Äußerungen mitleidigen Bedauerns wurden laut. Das „Volk“ war eigentlich zuerst merkwürdig still, wie gelähmt, all das Erlebte sofort zu fassen. Aber dann merkte man doch, daß es noch ein „Kirchenvolk” gab. Es war eine Zeit, in der anfangs auch etliche der Bannerträger die Kleinmut packen wollte. Es will uns zuweilen vorkommen, als sei man im Begriff, das alles viel zu schnell zu vergessen. Eins hat sich damals gezeigt — und eins hat sich bewährt. Gezeigt hat sich, daß der religiöse Gedanke doch tiefer in der deutschen Volksseele verwurzelt war, als nach außen hin in die Erscheinung trat. Das heilige „Dennoch“ hat sich durchgesetzt. Bewährt hat sich das, was wir empirische Kirche nennen, sowohl in seiner Dauerkraft als auch in seiner Elastizität. Die Kirchenführung des letzten Jahrzehnts war ein Meisterstück — das kommt immer mehr auch den Krittlern zum Bewußtsein. Spätere werden das noch deutlicher sehen als die Gegenwart. Aber die Tatsache, daß die Kirche dageblieben ist — allen Gewalten zum Trotz erhalten —, daß sie neue Freiheit und neue Kraft gewonnen hat, daß sie bei der „Umwertung aller Werte“ ihren Wert behauptet, ja gesteigert hat, soll und darf uns nicht blind machen gegenüber den Wirbeln der Gegenwart. Wir sind noch lange nicht über den Berg, aber wir sind über den Engpaß heraus und sehen vor uns ein freies Feld.“

Unter Außerachtlassung aller professoralen Umständlichkeit, Rücksicht und Vorsicht möchte ich dazu folgendes sagen:

Es ist ein zum Himmel schreiender Skandal, daß die deutsche evangelische Kirche andauernd diese Sprache redet. Die deutsche evangelische Kirche, soweit und sofern sie eben nach außen, verantwortlich redend, zur Sprache kommt. Es gibt auch eine deutsche evangelische Kirche, die, durch den andauernden Skandal dieser Sprache übertönt, nicht so redet. Aber so, so reden ihre verantwortlichen Vertreter. So, in dieser Sprache, müssen wir anderen, wir, das „Kirchenvolk“, ohne uns dagegen verwahren zu können, uns nach außen vertreten lassen. Vor den Arbeitern, vor den Gebildeten, vor dem Ausland. Aus dieser Gesinnung heraus müssen wir uns anpredigen lassen. Prof. Schneider steht für Dutzende und Dutzende unserer kirchlichen Führer und für Hunderte und Tausende unserer Pastoren. Ich habe nichts gegen ihn und die anderen alle, aber ich habe alles gegen die Sprache, in der er und unzählige seinesgleichen das Land unsicher machen. Und ich bin es leid, dazu zu schweigen. Für indirekte theologische Bedenken haben diese Kreise offenbar keine Zeit, keine Aufnahmefähigkeit und keinen Willen. Es ist in den zehn Jahren, an deren Ende sie, ihres Meisterstücks sich freuend, hemmungslos zu posaunen wagen, daß das heilige „Dennoch“ sich durchgesetzt habe — es ist in diesen zehn Jahren oft genug indirekt, theologisch geredet worden. Der Skandal jener Sprache dauert an, nein, er schwillt an, als wäre nichts geschehen. Als ich die angeführte Auslassung bis zu dem Satz vom heiligen Dennoch gelesen hatte, war es mir klar, daß der Augenblick, grob zu werden, gekommen sei.

Und so werde ich grob und sage: wo diese Sprache geredet wird, da ist Catilina, da ist die eigentliche, gefährliche Verschwörung gegen die Substanz der evangelischen Kirche. Gefährlicher als das Gefährlichste, was Katholiken, Juden und Freidenker nach den Schauernachrichten, mit denen ihr je und je euer „Kirchenvolk” außer Atem zu halten sucht, gegen sie im Schilde führen können. Gefährlicher als alles, was etwa der Sowjet-Atheismus gegen das „Christentum” unternehmen und vollbringen kann. Mögen solche Angriffe gegen die Kirche ausrichten, was sie können und dürfen, — eines werden sie nicht können und dürfen: die Substanz der Kirche werden sie nicht einmal anrühren, geschweige denn versehren. Sie kann ihnen zum Trotz nicht nur erhalten, sondern unter ihrem Ansturm verzehnfacht und verhundertfacht werden. Die Substanz der Kirche ist die ihr gegebene Verheißung und der Glaube an diese Verheißung. Wann wäre die Verheißung nicht größer, deutlicher, leuchtender geworden gerade unter wirklicher Anfechtung von außen? Wann hätte der Glaube bessere Gelegenheit gehabt, sich als Glaube zu bewähren und aufzurichten, als unter solcher Anfechtung? „Was können uns Menschen tun?” „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?” Warum wird nicht das, das den Christen zugerufen von den Führern unserer Kirche, wenn sie wirklich zu sehen meinen, daß die Kirche heute in der Anfechtung stehe? Was sie ihr in Wirklichkeit zurufen, ist die Verleugnung der Verheißung und des Glaubens und bedeutet die Zerstörung der Substanz der Kirche, die nur von innen erfolgen kann. Und die erfolgt hier. Sie rufen uns zu, daß Menschen uns darum nichts tun können, weil wir selbst das Nötige zu ihrer Abwehr zu tun so energisch, so zielbewußt, so erfolgreich im Begriffe stehen. Sie rufen uns zu, daß Gott darum und so für uns ist, daß wir selbst (vertreten durch sie, die Kirchenführer!) unentwegt für uns sind. Sie rufen uns zu, daß das heilige Dennoch sich darin und so durchgesetzt habe, daß der in der deutschen Volksseele verwurzelte religiöse Gedanke sich gezeigt und die empirische Kirche sich bewährt habe. Das Übereinkommen, daß es angebracht sei, heute so zu reden und das zu sagen, nenne ich die eigentliche und gefährliche, die catilinarische Verschwörung gegen die Substanz der Kirche. Wenn das andauernd unwidersprochen unter uns gesagt werden darf, wenn das gehört und geglaubt werden sollte, dann hat die Kirche in ihrem Innersten zu leben aufgehört. Die sowjet-atheistische, oder auch die neue römische Verfolgung, mit der ihr uns gelegentlich graulen machen wollt, mag dann immerhin ausbrechen. Sie wird dann gegenstandslos und ihre allfälligen Märtyrer werden dann sicher keine christlichen Märtyrer sein. Wenn es denen, die heute, im Besitz des Namens, des Apparates, der Ämter, der Stimme der evangelischen Kirche befindlich, diese Kirche nach ihrem Belieben machen — wenn es ihnen endgültig gestattet sein sollte, aus der Kirche das zu machen, dann ist es an der Zeit, allem Volk zu sagen, daß die Kirche aus ist und daß es betrogen wird, wenn man von ihm verlangt, hier Kirche zu sehen, zu ehren, zu glauben, zu lieben. Die evangelische Kirche ist heute schon von einer finstern Wolke von Mißtrauen umgeben. Wer nicht blind ist, sieht es. Ihre Führer aber sind blind und sehen es nicht. Freuen sich des Vertrauens, das ihnen ein Häuflein „Kirchenvolk“ entgegen zu bringen scheint, indem es sich an Sonn- und Feiertagen immer wieder erwartungsvoll zu ihren Füßen setzt — und sehen nicht, daß es sich auch und gerade bei diesem guten kleinbürgerlichen „Kirchenvolk” um einen Rest von Vertrauen handelt, der auch noch schwinden kann und schwinden wird, wenn die Unerheblichkeit der ganzen kirchlichen Angelegenheit einmal erwiesen sein sollte. Sie ist aber erwiesen, wenn die Kirche noch eine Weile ungestraft und ungestört so weiterredet. Für dieses Opium werden sich auch die Kleinbürger, die heute noch den Trost der Pastoren bilden, eines Tages bedanken. Und wenn sie es gleich nicht täten und wenn dieses Treiben ungestraft noch 100 Jahre weiter und weiter gehen würde, so würde es dennoch wahr sein, daß diese Kirche — die Kirche, die legitim durch diese Stimme vertreten sein sollte — von Gott verlassen ist und jeder ein Verräter der Kirche (und nicht nur der Kirche), der sie dahin „geführt“ hat.

Warum ist diese Art „Führung“ unerträglich? Warum muß man, ganz und gar ohne den Anspruch eines Propheten, die Verantwortung übernehmen, dagegen zu schreien, solange es noch Zeit ist? Warum ists wahr, daß die Kirche, die so redet, die Verheißung und den Glauben verleugnet? Darum, weil sie in solchen Worten und Taten so unzweideutig wie nur möglich sich selber will, sich selber baut, sich selber rühmt und eben darin von den um andere Fahnen und Fähnlein Gescharten nur dadurch sich unterscheidet, daß sie das — gebläht durch den Anspruch, die Sache Gottes zu vertreten — viel ungebrochener, viel pausbackiger, viel hemmungsloser tut als alle anderen. Wenn es ihr um die Sache Gottes ginge, dürfte sie dann mit der Gemächlichkeit, mit der man auf eine überstandene Grippe zurückblickt, reden von der glücklich vergangenen Zeit, da ihr „buchstäblich die Zerschlagung drohte”? Und mit diesem selbstzufriedenen Spott (als ob der große Abfall etwa nur die Schuld der anderen wäre!) von jenen Atheisten, Intellektuellen und Schwätzern, die sich damals so gründlich geirrt haben sollen? Und mit diesem breiten Behagen (als ob das nicht eine elende Phrase wäre) von dem tief in der deutschen Volksseele verwurzelten „religiösen Gedanken”? Und mit dieser ans Lästerliche streifenden Sicherheit von der Durchsetzung des heiligen „Dennoch”? Und mit dieser Eitelkeit von dem nach 10 Jahren vollendet oder doch nahezu vollendet dastehenden „Meisterstück“ von „Kirchenführung“? Und mit dieser Hartherzigkeit (als ob es keine Wohnungsnot und keine Arbeitslosigkeit gäbe in Deutschland) davon, daß sie, sie, die Kirche, „aus dem Engpaß heraus“ sei? Wem es um seine Sache, um sein Geschäft, um seine Partei, um seinen Stand und dergleichen geht, der mag und darf vielleicht so reden. Ein tüchtiger Reklame-Chef eines beinahe und doch noch nicht ganz fallit gegangenen alten Hauses mag und darf vielleicht so reden. Er würde es wahrscheinlich mit mehr Geist und Geschmack tun. Aber nicht wie, sondern daß die Kirche hier mittut, ist empörend. Wenn sie das tut, wenn sie dazu übergeht und dabei bleibt als eine Marktbude neben anderen (wie es auf der „Pressa“ unseligen Andenkens erschreckend drastisch geschehen ist) sich selbst anzupreisen und auszuposaunen, dann hat sie einfach und glatt aufgehört, Kirche zu sein. Die Kirche kann nicht Propaganda treiben — Schmach und Schande, wenn die Universität anfängt, auf diese Wege zu geraten!

Die Kirche kann nicht sich selbst wollen, bauen, rühmen, wie alle anderen. Der Stab, auf den sie sich da stützt, wird ihr durch die Hand gehen. Denn bei dem bösen Gewissen, mit dem sie das tut (und sie kann das nur mit bösem Gewissen tun), kann es nicht anders sein, als daß sie das schlechter machen wird als alle anderen und am Ende — wie alle Überläufer zum Feinde — erst recht blamiert, blamiert vor Gott und vor der Welt dastehen wird. Und unterdessen wird, man verlasse sich darauf, das, was die Kirche tun sollte und könnte, die Predigt des Evangeliums versäumt dahinten bleiben: die gänzlich anspruchslose, die nicht welterobernde, nicht sich selbst behauptende, nicht die Jugend und die Arbeiter gewinnen wollende, nicht mit dem „Vorwärts” und mit den Katholiken zankende, die nicht nach dem in der deutschen Volksseele verwurzelten religiösen Gedanken schielende, sondern aufrichtige und lautere Predigt des Evangeliums. Man kann nicht Gott dienen und mit Teufel und Welt solche Rückversicherungen eingehen. Da wird keine Neuentdeckung der „reformatorischen Botschaft”, da wird keine Liturgie- und Gesangbuchreform, da wird kein Lutherfilm und kein violettes „Jahrhundert der Kirche”, da wird keine kirchliche Jugendbewegung und Gemeindearbeit, da werden keine ökumenischen Ideologien und Machenschaften auch nur das geringste helfen: eine Kirche, die zugestandenermaßen damit beschäftigt ist, ihren (ihren!) Wert zu behaupten, ja zu steigern, eine Kirche, die das Jubeljahr der Augsburger Konfession damit antritt, zu bejubeln, daß sie (sie!) wieder einmal „aus dem Engpaß heraus“ ist, eine solche Kirche kann in keinem Wort ihrer Weihnachts- und Oster- und Sonntagspredigt glaubwürdig sein. Wenn sie „Jesus Christus“ sagt, muß und wird man, und wenn sie es tausendmal sagte, ihre eigene Sattheit und Sicherheit hören und sie soll sich nicht wundern, wenn sie mit allem ihrem „Jesus Christus” in den Wind, an der wirklichen Not der wirklichen Menschen vorbeiredet, wie sie am Worte Gottes vorbeigehört, aus aller Mahnung, Tröstung und Lehre der Bibel und der Reformatoren Wasser auf ihre eigenen kleinen Mühlen gemacht hat. Darum, weil sie im Begriff steht, ihren eigenen Brunnen zu verstopfen und zu vergiften durch eine heillose Unsachlichkeit, darum muß man ihr mit letztem Ingrimm widersprechen.

Mit letztem Ingrimm gerade dann widersprechen, wenn man sie lieb hat. Mir graut vor der Flut von Festreden, Festpredigten und Festspielen, die das Jahr 1930 mit tödlicher Sicherheit bringen wird. Sie werden nach menschlichem Ermessen mehr oder weniger alle auf den unerträglichen Ton von Professor Schneider und seinesgleichen gestimmt sein. Oder sie werden doch weit davon entfernt sein, ihm entgegenzutreten, mit jenem Zorn entgegenzutreten, wie es einer wirklichen Feier der Augsburger Konfession allein angemessen wäre. Und wenn diese Flut für einmal verebbt sein wird, wird die Einbildung nach innen und die Lüge nach außen noch ein Stück größer und dicker geworden sein. — Irgend jemand soll der „empirischen Kirche“ zuvor in den Rücken gefallen sein. Irgend jemand soll es zuvor ausgesprochen haben, daß wir nicht auf gutem Wege sind, daß es so auf keinen Fall gehen wird. Auf die Gefahr hin allerlei braven Leuten „Unrecht zu tun“! Aber auch die bravsten Leute schweigen da zu dem Greuel einer Sprache, die eine Beleidigung gegen das Christentum ist. Ich wollte, irgend jemand anderes hätte es, die christliche Kirche mehr liebend als die „christliche Liebe“, gesagt, den verantwortlichen Führern unserer Kirche und dem mitverantwortlichen „Kirchenvolk“ mit ihnen zu Beginn dieses Jahres ins Gesicht gesagt: Es ist höchste Zeit, auf diesem Wege halt- und kehrtzumachen! Quousque tandem …?

Ursprünglich erschienen in: Zwischen den Zeiten 8 (1930), 1–6.

Quelle: Karl Barth, „Der Götze wackelt“. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hrsg. v. Karl Kupisch, Berlin: Käthe Vogt Verlag, 1961, S. 27–32.

Hier der Text als pdf.

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