Seit Anfang der 1930er Jahre gehörte Ernst Wiechert (1887-1950) zu den meistgelesenen Autoren deutscher Sprache, seine Werke erreichten Millionenauflagen. Nach einer Stellungnahme für den inhaftierten Pastor Martin Niemöller wurde er am 8. Mai 1938 verhaftet und kam danach in das Konzentrationslager Buchenwald (literarisch verarbeitet in: Der Totenwald. Ein Bericht. Rascher Verlag, Zürich 1946). Seine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus im November 1945 findet starke Worte für das Verbrechen, deren Ursachen und Mitverantwortlichkeiten:
Rede an die deutsche Jugend 1945[1]
Von Ernst Wiechert
Wir hatten einmal ein Vaterland, das hieß Deutschland. Es war ein Land wie andere Länder auch. In ihm wurde gearbeitet und gelacht, geliebt und gelitten, wie in anderen Ländern auch. Von seinen Domen riefen die Glocken, aus seinen Feldern tönten die Sensen, in seinen Bergwerken klang das „Glückauf“. Es gab Mühsal und Streit in ihm, Mißgunst und Haß, aber am Abend sang eine Mädchenstimme hier und da das Lied vom Mond, der aufgegangen, und eine Geige jubelte in das Abendrot. Viele dachten, es sei ein besseres Land als die anderen, und einige dachten, es sei ein schlechteres Land. Aber die meisten waren doch guten Willens, und wenn sie aus der Fremde heimkehrten, schalten sie oft ein wenig über seine Verbotstafeln, aber sie richteten sich wieder ein, so gut es ging, stellten Blumen in ihre Fenster, stritten über Gott und die Welt und waren getreue Knechte im Weinberg des Herrn. Und als der erste große Krieg kam, gingen sie gehorsam hinein, Junge und Alte, mit reinen Herzen und reinen Händen, denn sie glaubten, daß es eine gerechte Sache sei, zu der sie gerufen wurden, und alle Pfarrer sagten es von den Kanzeln, und alle Glocken tönten es von den Türmen, und alle Zeitungen schrieben es. Sie kamen zurück, die meisten immer noch mit reinen Händen, aber die Herzen waren nicht mehr dieselben.
Töten ist kein reinliches Handwerk, und das sogenannte Stahlbad des Krieges hat einen trüben Bodensatz, dem sich die wenigsten entziehen. Sie hatten nicht nur den Tod erkannt, sondern auch das Töten. Sie hatten Blut, Verwüstung und Verwilderung gesehen, und die Bilder ihrer Träume hatten sich gewandelt. In den Gärten der Menschlichkeit war das Tier aufgestanden, und seine breite, blutige Fährte zog sich leise über die Beete der Blumen. Tausende waren zerbrochen in ihrem Glauben, Tausende waren mit Haß erfüllt, Tausende mit Verzweiflung. Die Gründe des Lebens wankten, Wahrheit war Irrtum geworden, Besitz zerfiel, Namen sanken in den Staub, Gestalten der Tiefe standen auf, und über durchschnittenen Wurzeln schwankten die Bäume, in deren Schatten eine Generation Spiel und Träume getrieben hatte. Das Elend klopfte an die Türen, die Kerzen erloschen. Die Masken fielen von den Gesichtern, und schon damals sahen die Wissenden, daß in vielen dieser Gesichter Dinge zu lesen waren, von denen wir nichts gewußt hatten. Blasse und schemenhafte Keime zunächst, aber schon wie leise begleitet von dem Grauen, das die Apokalypse enthält.
Damals, meine Freunde, war die Zeit der Dichter und der Propheten. Derer, die eine Traumwelt, und derer, die eine kommende Welt aufrichteten. Die Zeit der Zauberer, die einen Schleier über das Seiende warfen. Eine große Zeit für alle, die die Herzen anzurühren vermochten, denn die Herzen hungerten nach Brot Eine große Zeit für die Prediger der Liebe wie für die des Hasses, denn die Schalen standen im Gleichgewicht.
Und wenn wir zurückblicken, werden wir erkennen, daß die Dichter nicht Herren, sondern Knechte ihrer Zeit waren. Da waren wohl einige, die still an den Strömen saßen und von der letzten Gewalt dieser Erde sprachen, von dem Unvergänglichen, von der Liebe. Aber da waren die anderen, die vielen mit den großen Namen, die von dem Vergänglichen sprachen, von Ehre und Vaterland, wie sie sie meinten, von Helden und Schwertern, von Rache und Vergeltung. Die Einsamen aber wurden immer einsamer, und die großen Verkünder des Unvergänglichen und des Vergänglichen waren schon wie von der Sage umwoben. Und es war nicht nur die Zeit der Dichter, sondern auch die der Propheten. Nicht die des Jesaias oder die des Johannes, aber die derjenigen, die aus den Trümmern auf die verkohlten Balken stiegen und, vom letzten Feuerschein umloht, die neue Welt verkündeten, wie sie vor ihren trüben Augen sich ins Licht gebar. Und daß in dieser neuen Welt herrschen sollte, was alle Propheten versprachen: Freiheit und Recht, Ruhm und Ehre, und daß das Volk, das geliebte Volk, ein Ein und Alles dieser neuen Welt sein sollte.
Da kauerten sie nun im Dämmerschein zu den Füßen der großen Versprecher, die Frierenden und Hungernden, die aus altem Glanz Gestürzten und die nach neuem Glanz Trachtenden, die Habsüchtigen und die Habenichtse, die Gescheiterten und Gestrandeten, die Toren mit den reinen Herzen und die Wissenden mit den schmutzigen Begierden, Kinder und Bettler, unerfüllte Frauen und abgelebte Greise. Damals, meine Freunde, wurde die Uhr unseres Schicksals gestellt, und der Schlag des Pendels begann durch die Zeit zu sausen, desselben Pendels, das uns zermalmen sollte, mit einer Erbarmungslosigkeit ohnegleichen.
Laßt uns zurückblicken, wie uns zumute war, als wir die Zeiger ihren Lauf beginnen sahen. Laßt uns den Anfang bedenken, damit wir das Ende begreifen. Niemand kann sagen, daß er den Schlag des Pendels überhört hat. Niemand war, den es nicht angegangen wäre. Es ging das Volk an, das ganze Volk, und mehr als dieses. Es ging die Menschheit an, die Sitte, die Religion, die Wahrheit, das Recht, die Freiheit. Es ging Gott an. Es war nicht eine politische Form wie andere Formen. Es war nicht ein System der Philosophie wie viele Systeme, die der Menschengeist geboren und dem Menschengeist dargeboten hatte. Es war nicht eine Sekte, die an das alte Gottesgewand einen neuen Saum nähte. Es war mehr als alles dieses. Es zerbrach alle politischen Formen, alle philosophischen Systeme, alle Sekten und Religionen. Es knetete mit seinen Händen ein neues Götterbild und richtete es auf, hoch über allem Volke, und es sagte: „Dies ist Gott, und nichts ist außer ihm. Und wer nicht anbetet, soll des Todes sterben.“
Niemand, der sagen könnte, er hätte es überhört. Der Schlag des Pendels ging durch die Kirchen wie durch die Schulen. Durch die Universitäten wie durch die Gerichtshöfe. Durch Paläste wie durch die Kammer des armen Mannes. Es berührte den Scheitel des Kindes, das sein Abendgebet sprechen wollte wie sonst, und den Scheitel des Richters, der Recht sprechen wollte wie sonst. Man mußte sich beugen oder ihm entgegenwerfen. Es gab kein Ausweichen, kein Sich-Verhüllen. Es forderte die Entscheidung. Es forderte das Ja oder Nein, und nichts darüber.
Was es darbot, war nicht nur ein Programm, wie man es druckt und unter die Leute wirft. Es war mehr als das: es waren Symbole.
Die alten wurden gestürzt, und neue traten an ihre Stelle. Das Hakenkreuz erschien, ein uraltes heiliges Zeichen, aber niemand wußte von seinem Ursprungssinn. Man nahm die Form und füllte sie mit einem neuen Inhalt. Man goß den Haß in das Zeichen der Sonne, und Haß war immer eine Lieblingsspeise der Völker. Man schrieb das Zeichen auf Mauern und Zäune, auf Armbinden und Schlipsnadeln, auf Bergwände und Briefbogen, und dann brannte man es in die Seele des Volkes. Das war es, was wir zuerst sahen. Und dann sahen wir die Uniformen, die Orden, die Stiefel, die Goldschnüre, das Lametta einer neuen Weihnachtszeit, die braune Walze, die über die Felder der Seele ging, um sie glatt und eben zu machen für die neue Saat.
Und dann sahen wir die neuen Fahnen. Und dann hörten wir die neuen Lieder. Und dann sahen wir die neuen Gesichter, wie sie von ihren roten Kanzeln sich über das Volk beugten und die neue Lehre verkündeten. Wir sahen ihre Fäuste sich in die Luft erheben – und sahen sie fallen, um die Ketzer zu zerschmettern. Wir sahen ewige Wachen und ewige Särge. Wir sahen Stangen mit Geßlerhüten, Tausende und aber Tausende, und schließlich sahen wir einen neuen Gruß, unähnlich allem alten, und erfuhren, daß ein Verräter und Schädling sei, wer auf der Väter Weise grüße oder gar mit dem Namen des alten Gottes. Dies alles war der Anfang, und dies alles sahen wir. Jeder von uns.
Und wie waren wir beschaffen, die das alles sahen? In unserem Geiste, in unserer Seele? Wir waren kein Volk von Analphabeten. Die Geschichte unseres Geistes war eine stolze Geschichte, und sie war ehrenvoll eingeschrieben in die Bücher der Menschheit. Nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Urteilskraft, unsere Fähigkeit, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Und auch die Geschichte unserer Seele schien uns eine ehrenvolle Geschichte zu sein. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Das war aus unseren Reihen ausgegangen, und die Menschheit hatte es aufgenommen als ein Evangelium, das für alle Völker zu gelten hätte. Die Humanitas, das Amor Dei, Schonung und Toleranz, sie schienen bei uns nicht weniger zu Hause zu sein als in anderen Ländern. Die Bibel lag fast in jedem Hause, die Krippe mit dem Jesukind wurde alljährlich aufgebaut und die Erniedrigten und Beleidigten fanden überall eine Hand, die sich schweigend ihrer erbarmte. So waren wir beschaffen, so schienen wir beschaffen, als wir unsere Augen auf die neuen Symbole richteten. Nicht nur die Universitätslehrer schienen uns so, die Lehrer in den kleinen Dörfern, die Richter und Ärzte, die Pfarrer, die Dichter. Auch das Volk erschien uns so, der kleine Mann, der von seiner Hände Arbeit lebte. Jahrhunderte des Christentums, der Weisheit, der Kultur, der Menschlichkeit hatten sie durchtränkt und sie mit dem Licht erfüllt, das aus dem Abendland über die leidende Erde schien.
Und nun sahen sie. Sie sahen ein neues Kreuz, und in seine Balken war nicht die alte Botschaft eingegraben: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!“ Sondern die neue Botschaft: „Juda verrecke!“ Und wer das neue Kreuz über die Menge der Völker hob, war nicht mehr der Apostel der Liebe, sondern der „Übermensch“, der um die Kleider des Toten gewürfelt hatte und nun auszog, um die Welt unter die germanische Rasse zu beugen. Die „blonde Bestie“, die ein Wahnsinniger verkündet hatte und die nun ansetzte zum Sprung in das Grenzenlose.
Und dann sahen sie die Uniformen und die Fahnen. Das Primitive und Dilettantische einer neuen Kunst, die neue Allegorie des Kleinstadtvereins, der hinter einer lärmenden Blechmusik in den Schützengarten zieht. Sie sahen Orden, die Tag und Nacht von der Brust der Träger schimmerten, sie sahen den Beginn der Periode der Schaftstiefel, sie sahen Sturmriemen und Dolche und sahen ihre Kinder sich kleiden, als sei die große Fastnacht angebrochen und als seien sie gestiefelt aus dem Mutterleib hervorgegangen.
Und dann hörten sie die neuen Lieder. Die platten Verse einer unausgegorenen Primanerlyrik, in denen das Naive einer berauschten Tendenz über das strenge Gesetz der Sprache und des Rhythmus stolperte. Und sie hörten das Billige und Tingeltangelhafte der Melodie, vom Schlag der Pauken gehalten und betont. Diese ganze Fadenscheinigkeit eines neuen Gewebes, das man über das neue Götterbild warf, billig und unecht gleich der Ouvertüre eines Schmierentheaters, die aus einem donnernden Orchestrion über die Menge dahinbraust, indes im Hintergrund die Akteure ihre Schminke fingerdick auflegen, um aus dem Gesicht des Marktes ein Heldengesicht zu formen. Und zuletzt sahen sie die Gesichter über den roten Kanzeln, und kein Zug um ihre Lippen und ihre Stirnen brauchte ihnen zu entgehen. Sie waren ja nicht Blinde. Sie hatten das Menschengesicht in tausend Bildern gesehen, wie es überall auf der Welt nach einem Leben der Arbeit, der Güte und der Weisheit seine unsterbliche Form gefunden hatte. Sie hatten wohl auch die Totenmasken gesehen, in denen die großen Führer der Menschheit für die kommenden Geschlechter aufbewahrt geblieben waren, die Essenz aller musterhaften Leben und Leiden, die großen Dulder und Mahner auf den dunklen Wegen unserer Erde. Sie trugen sie vor den Augen der Seele, als sie nun die Blicke aufhoben zu dem neuen Messias und seinen Propheten. Und viele von ihnen erschraken wohl vor dem Ungeformten oder Mißratenen des Erdenlehmes, den ein neuer Gott zu neuen Krügen bestimmt haben sollte, um den neuen Wein in sie zu gießen. Vor der niedrigen Enge der Stirnen und dem besessenen Glanz der Augen, vor der eisigen Kälte der Lippen, aus denen die Worte wie aus einem Automaten strömten, unaufhaltsam, in ewiger Wiederholung sich überstürzend, sich überschreiend, wie die Worte von Marktschreiern den Lärm der Orchester überschreien müssen, bis sie in heiseren Lauten kläglich enden. Alles dieses sahen und vernahmen sie. Die kalte Formel eines schneidenden Hasses wie den Donner der Phrase, der wie ein Wasserfall auf sie niederbrach. Die Phrase von Blut und Boden und vom Arbeiter der Stirn und der Faust. Die Phrase vom Weltfeind Nr. l und von der wahren Volksgemeinschaft. Die Phrase von der neuen Ordnung der Dinge und vom unbekannten, namenlosen Soldaten.
Sie sahen und vernahmen es, und an allen Orten stand einer unter ihnen auf und hob die Hand gegen die trübe Flut der Lüge und der Gewalt, die auf sie niederdonnerte, und beschwor sie, der alten Götter zu gedenken und der alten Tafeln, auf die die Menschheit ihre Gebote aufgezeichnet hatte, inmitten eines Meeres von Blut und Tränen, auf Schafotten und Scheiterhaufen auf Schlachtfeldern und hinter Kerkergittern. Aber die aufgehobene Hand wurde zerbrochen und der geöffnete Mund wurde geschlossen, mit Schlagringen und Knüppeln, und die Herumsitzenden rückten ab von ihm wie von einem Geächteten und ließen ihn liegen, wie den Mann, der sich aufmachte nach Jericho. Und die Pauken und Trompeten dröhnten, die Arme hoben sich wie Arme von Automaten, und der Rausch der Masse ergriff die Gesunden und Kranken.
Dann traten sie hinaus unter den Glanz der ewigen Sterne, und etwas wie eine leichte Scham mochte diesen und jenen unter ihnen befallen. Die Scham des Mannes in dem Stormschen Gedicht, der die ferne, leise, vergangene Stimme der geliebten Toten hört: „Was lärmst Du so und weißt doch, daß ich schlafe?“ Aber tief unten, tief unter der verhüllenden Decke der Formen, der Konvenienzen, des Hergebrachten, der Alle-Leute-Meinungen, begann sich leise der Urgrund der Dinge zu rühren, und das noch ungeformte Gesicht der Massenseele hob sich langsam aus dem Nebel heraus, aus Feigheit und Begehrlichkeit gemischt. Die Massenseele, die in Zeiten der Gefahr, der Not, des Krieges, der Revolutionen aufsteht aus dem Urgrund der verfallenen Schächte. In Zeiten, in denen der einzelne des Genossen bedarf, vieler Genossen, um die Angst zu überwinden, oder die Scham, oder den strengen Halt vererbter Gesetze; Zeiten, in denen Sicherheit nur darin liegt, zu denken, was viele denken, zu tun, was viele tun, zu preisen, was viele preisen, und zu schmähen, was viele schmähen. Zeiten, in denen der Mensch aufhört, der Herr der Schicksale zu sein, und in denen der Knecht der Herr der Höfe ist, feige, rachsüchtig, begehrlich und ganz und gar gemein.
Damals, meine Freunde, war für die Wissenden schon zu lesen, wie das Gesicht eines Teiles dieses Volkes zehn Jahre später aussehen würde. Das Gesicht der Führer wie der willig Geführten, der Alten wie der Kinder, der großen Besitzenden wie der kleinen Habenichtse. Das Gesicht eines Volkes, ins Gesetzlose geführt, und im Gesetzlosen nun wuchernd, wie Unkraut im Weizenfeld. Denn bald zeigte sich nun, daß es bei den Symbolen nicht blieb, nicht bei Fahnen und Liedern, Umzügen und Reden. Die erste Machtprobe war bestanden, und dem „Übermenschen“ war klar geworden, daß von diesem Volk nichts mehr zu befürchten war. Im Reichstagbrand ging mehr in Flammen auf als ein Haufen von Stein und Holz. In diesem Feuer ging das Recht in Flammen auf, die Wahrheit, das Gesetz, und aus seiner Asche stieg kein Phönix auf, sondern die blonde Bestie, die zum Sprung ansetzte gegen die eigenen Brüder. Straßenweit waren die Schreie derer zu hören, die man zu Tode marterte und schlug, und mit dem ersten Stacheldraht, den man um das erste Lager schlang, war das Urteil über ein ganzes Volk gesprochen. Über ein Volk, das in seiner Mehrzahl das Böse schon erkannte, aber sich in seinen Hütten und Palästen verkroch, um die Schreie nicht zu hören. Das die Hände an die Augen preßte, um den Blutstrom nicht zu sehen, der langsam, langsam, aber immer breiter und röter sich über die deutsche Erde ergoß. Ein Volk, das vergessen hatte, daß in der neuen deutschen Bibel, von der stümperhaften Hand eines Verbrechers geschrieben, kein einziges Attribut sich so oft wiederholte wie das Attribut „brutal“. Und das nun feige zur Seite blickte, wenn es die Tränen der Frauen und Kinder fließen sah, ein Meer von Tränen, wie es in tausend Jahren nicht geweint worden war und wie es nun vergossen wurde „in maiorem patriae gloriam“.
Ich bin nicht willens, Ihnen die Geschichte dieser zwölfjährigen Schande vorzutragen. Sie begann mit dem, was die Mächtigen die „Gleichschaltung“ nannten, und sie endete mit dem Henkerbeil, das Tag und Nacht her niedersauste, mit der furchtbaren Gleichmäßigkeit eines Automaten, auf die gebeugten Nacken eines gebeugten Volkes, das den Lohn seiner Knechtschaft empfing. Es war kein Mangel an Mahnmalen, die die Geschichte dieser Jahre vor den Augen dieses Volkes aufgerichtet hatte. Von jenem 30. Juni 1934, mit dem die erste Reichsmordwoche begann, bis zu den Galgen des Jahres 1944, an denen die Generale des deutschen Heeres hingen.
Und in diesen zwölf Jahren war Schlimmeres geschehen als die Vernichtung des Leibes. In diesen zwölf Jahren war fast ein ganzes Volk bis auf den Grund seiner Seele verdorben und vergiftet. In diesen zwölf Jahren war aus den Herzen einer ganzen Jugend gerissen worden, was jede Jugend mit dem Schimmer einer neuen Morgenröte umglänzt: das Unbedingte des Strebens nach, einer besseren, gerechteren und edleren Welt, die fromme Ehrfurcht vor den Altären der Menschlichkeit, das Ritterliche der Haltung gegen Schwache, Leidende und Besiegte. In diesen zwölf Jahren hatte man einem Volk das Eigenste und Kostbarste genommen, das es zu allen Zeiten besaß: seine Jugend und mit ihr die Gewähr aller Zukunft. In diesen zwölf Jahren waren auch die letzten Fäden durchschnitten worden, die ein Volk an seine Vergangenheit bindet und mit der Umwelt der anderen Völker verknüpft. In ihnen war das Recht gestorben, die Wahrheit, die Freiheit, die Menschlichkeit. Der Weg war frei geworden für die letzten Ziele des „Übermenschen“. Unter der Führung von Räubern und Mördern wurde ein Volk gezwungen, aufzustehen, um die Welt zu erobern. Lauschen wir heute zurück in das grauenhafte Schweigen jener Jahre, um die Stimmen zu vernehmen, die am Wege aufstanden, um anzuklagen, so erkennen wir, daß viele von ihnen verstummt sind, für alle Zeiten, erwürgte Stimmen, zu deren Nachhall wir die schuldigen Hände aufheben. Die Helden und Märtyrer jener Jahre, sie sind nicht diejenigen, die mit dem Kriegslorbeer aus den eroberten Ländern zurückkehrten. Sie sind diejenigen, die hinter Gittern und Stacheldraht zur Ehre des deutschen Namens starben und verdarben. Zu seiner alleinigen Ehre, denn eine andere gab es nicht mehr landauf und landab. Sie sind diejenigen, die in dieser Stadt von dieser Stelle aus den Kampf begannen. Die mit ihrem Leben bezahlten und vor denen wir uns in Ehrfurcht neigen. Unter ihnen gab es wenige vom Adel, und nicht sehr viele aus den Reihen des reinen Geistes. Unter ihnen gab es viele aus den Bezirken der Kirche, aber sie alle traten zurück hinter den langen Zügen, die aus den Hütten des armen Mannes bei Tag und bei Nacht ihren Todesweg antraten. Vieler Jahrzehnte Lasten, Hunger und Qual hat der deutsche Arbeiter getragen, Kriegs- und Friedenslasten, aber niemals hat er eine schwerere Last getragen als in diesen zwölf Jahren. Niemals auch eine ehrenvollere, und keine Hand einer dunklen oder hellen Zukunft soll diesen unvergänglichen Glanz von seiner Stirne wischen. Er war es, der mein Leben rettete in dem Lager des Totenwaldes. Er war es, der mit einer Kameradschaft ohnegleichen den Zusammenbrechenden stützte, mit einer Zartheit des Herzens, die mich noch heute ergreift, Hochverräter und Kommunisten, einer wie der andere, und Samariter einer wie der andere, die sich niederbeugten und die Wunden wuschen, indes die anderen zur Seite blickten und weitergingen. Ja, die anderen, wo waren sie in den Jahren der Schande und der Zerstörung? Wo waren die, die das Bleibende stiften, die Dichter und Denker, berufen von Gottes Hand, um ein Licht zu sein in der tödlichsten Nacht? Als hinter dem Stacheldraht die Opfer schon zu Hunderten und Tausenden gefallen waren, gemarterte, entstellte und erschlagene Opfer, traten sie zusammen und protestierten öffentlich und vor aller Welt gegen die Verleumdung, daß das neue Regiment einen Rückfall in das Mittelalter bedeute. Zu einer Zeit, als des Volkes Tränenkrüge schon überflössen, standen sie um den verbeulten Amboß ihrer Kunst versammelt und schmiedeten ihre Waffen um, die Waffe des Wortes, und in einer Prostitution des Geistes, die ohnegleichen bleiben wird, verkündeten sie den Beginn eines neuen Zeitalters, nicht nur der Geschichte, sondern auch der Kunst. Zu einer Zeit, in der viele, viele große Namen der deutschen Dichtung wie Spreu vor dem Winde der Prüfung verflogen, verstummt wie Tote, oder erniedrigt und geschändet in ihrem Sklaventum, die entehrten Hände aufgehoben, um die Brosamen von den goldenen Tischen zu empfangen.
Es war die Zeit, in der uns Leidende die Verzweiflung in dunklen Stunden überwältigen wollte, das Gefühl, daß wir nicht mehr zu diesem Volke gehörten, daß wir grenzenlos einsam und wurzellos in einer Totenkammer standen, und auf ihren nackten Schrägen sahen wir ermordet und aufgebahrt, wofür wir ein Leben lang unsere Kraft, unser Herz und unser Blut hingegeben hatten: die Wahrheit, das Recht, die Freiheit und über allem die Liebe zu aller leidenden Kreatur. Laßt uns nicht die Namen derer nennen, die in dieser Zeit Würde und Namen verloren. Laßt uns nur still derer gedenken, die ungebeugt, ungetäuscht, geschmäht und verachtet in das große Schweigen gingen, in eine Einsamkeit, die niemand ermessen kann, und die jede Nacht auf den Schritt des Henkers warteten. Wir brauchen nicht viel mehr als die Finger einer Hand, um sie zu zählen. Sie wußten, daß einmal die Zeit kommen würde, in der man nach ihrem Brot verlangen würde, und sie füllten schweigend und heimlich ihre Scheunen.
Das Schwerste, was ihnen aufgetragen wurde, war, daß sie das bittere Korn ihres Lebens in Frucht verwandelten. Daß der Haß sie nicht vergiftete. Daß sie über den schwelenden Feuern der Zeit nicht den Engel vergaßen, dessen Sichel schon aufgehoben war über einem verdammten Geschlecht.
Auch ihre Welt wurde gewandelt. Auch ihnen stürzten Träume und Illusionen zusammen, und an die Stelle des glühenden Glaubens an das Unzerstörbare der Menschheit trat die bittere Verachtung ihres Geschlechts. Aber sie bewahrten das, was am erbarmungslosesten hingemäht wurde: sie bewahrten die Liebe. Mochte der Gott ihrer Kindheit sterben, der Gott, der schweigend zusah, wie Hunderttausende unschuldiger Kinder gemartert und gemordet wurden; mochte das Bild ganzer Völker vor ihren Augen wie Glas zerspringen; mochte eine vielhundertjährige Kultur wie Schminke von einem verborgenen Gesicht fallen und unter der Schminke das Gesicht eines Dämons erscheinen: doch blieb hier und da ein Gesicht stehen, viele Gesichter, von dem schmerzlichen Adel der Berufung gezeichnet; doch erblickten sie hier und da eine Hand, viele Hände, die ihnen tröstend zuwinkten; kam doch hier und da ein Wort zu ihnen, das ein Wort ihrer Sprache war. Nicht von den Mächtigen, den Besitzenden, den Sicheren dieser Erde, sondern von den Armen, den Leidenden, den Geächteten. Und dann waren sie nicht mehr allein. Und waren sie auch nur zu zweien und zu dreien, so zerbrach doch die schreckliche Mauer der Einsamkeit, und sie sahen einen neuen Anfang, einen neuen Pflug, eine neue Erde, und sie glaubten, daß sie schon zu zweien stark genug wären, um diesen Pflug durch die blutigen Trümmer zu ziehen und eine neue Saat in die schrecklichen Furchen zu werfen. Noch einmal bedachten sie die neue Lehre und die neuen Männer, ihr Werk, ihre Gesichter, ihre Taten und das Verborgene hinter den Taten. Und sie fragten sich, ob die Täuschung und der Zauber denn so vollkommen wären, daß selbst die geistigen Herrscher eines Volkes ihnen unterliegen müßten. Aber sie fanden doch darin keine Erklärung. Denn eben dieses war doch geschehen, daß in das Haus dieses Volkes, gefüllt mit den Schätzen einer tausendjährigen Kultur, eines Tages ein Landfremder getreten war, ohne Kenntnisse, ohne Wissen, ohne Kultur, ohne Takt oder Geschmack, besessen nur von dem düsteren Haß der Knechte gegen die Herren, des Emporkömmlings gegen den Adel der Tradition, besessen auch von dem Haß des Primitiven gegen eine alte Rasse und begabt nur mit allen Fähigkeiten des Demagogen, den rednerischen, den gewissenlosen, den erbarmungslosen, geübt in allen Gesten, mit denen man Toren und Kinder betrügt, ein Dilettant aller Wissenschaften und Künste, außer der Kunst des Bösen, ein Marktschreier ohne Scham und Maß, ein heimlich in die Zukunft Planender und öffentlich seine harmlose Unschuld Beteuernder, ein Lügner und Wortbrüchiger und von Stunde zu Stunde in das Wahnsinnige und Verbrecherische Wachsender.
Er ging durch die edlen Räume, wie ein Knecht durch ein erobertes Herrenhaus geht, mit schmutzigen Stiefeln, mit gestohlenen Ketten behangen, und er begann von den Wänden zu reißen, was ihn in seiner kümmerlichen Jugend mit Erbitterung und Haß erfüllt hatte: die Bilder Gottes wie die Bilder der fremden Ahnen, die Tafeln des Rechtes, der Duldung, der Liebe und der freien menschlichen Persönlichkeit. Er riß sie herab und trat sie unter seine Stiefel, und dafür hängte er auf, was er aus seinen finsteren Schächten mitgebracht hatte: die Tafeln der Gewalt, der Empörung, des Hasses, der Rachsucht. Und über allem das Bild des Antichrist, der die Erde verwüstet, um Gottes Werk zu stürzen. Was waren ihm Kinder und Familien, Stämme und Völker, Herzen und Hirne anderes als Stoff, den man kneten und verwenden konnte, Objekt und Material, das man zu dem Hebel schmiedet, mit dem die Welt aus den Angeln zu heben war? Die Lüge war recht und die Prahlerei war recht, das Blut und die Tränen, die Kerker und der Stacheldraht, Umzüge und Symbole, Titel und Orden, Bühne und Podium.
Und wie die Unterirdischen ihresgleichen zu sich ziehen, um stärker zu sein gegen die Mächte des Lichts, so fand die planende Hand Helfer genug, um das Werk zu vollenden. Und mochte das Bild des Führenden dem herrenlosen Volke noch verschleiert bleiben von dem Glanz des Zauberers, so waren die anderen Bilder doch so ohne Maske, daß nur Blinde imstande waren, die traurige Nacktheit mit einem fadenscheinigen Purpur zu bekleiden. Diese Rotte von Dieben und Räubern, die sich immer schamloser in die Rolle von Dienern kleideten, indem sie Volk und Land ausplünderten, diese erbarmungslosen Fronvögte am schwindelnden Turmbau von Babel, die lärmten und praßten und stahlen, indes das Volk darbte: wer anders konnte sie für Baumeister einer neuen Weltordnung halten als diejenigen, die des primitivsten Instinktes ermangelten mit dem der einfachste Mann den Arzt vom Scharlatan unterscheidet? Und als die wenigen dieses bedacht und erkannt hatten, gewannen sie einen neuen Grund, auf den sie ihr Leben bauen konnten. Sie erkannten, daß nichts Zufall und Versäumnis und Verschuldung war, sondern daß das große gerechte Schicksal seine Hand aufgehoben hatte? um ein Volk zu stürzen, damit es in der Erkenntnis seiner Sünde einen neuen Anfang setze. Von da ab wußten sie, daß an weißer Wand die Inschrift schon erschienen war. Daß der Krieg kommen würde. Daß nach Rausch und Siegen das Gericht kommen würde. Sie wußten es mit einer unerschütterlichen Sicherheit, daß kein Zweifel sie mehr anrühren konnte. Und da sie nicht wußten, ob die Katastrophe nicht auch sie verschlingen würde, so saßen sie nun Tag und Nacht über ihrem Werk, und kein anderes Ziel stand vor ihren Augen, als ihre Hände und Herzen rein zu bewahren, um vor dem letzten Gericht bestehen zu können. Sie wußten, daß ihre Zeit nun kommen würde, vor oder nach ihrem Tode, und was sie hinterließen, sollte ein neuer Anfang sein für ein geschlagenes Volk und für die geschlagenen Kinder eines geschlagenen Volkes.
Der Krieg kam, wie wir ihn erwartet hatten. Er begann mit Lüge und Gewalt, mit Heimtücke und nackter Brutalität, mit Prahlerei und Fanfaren. Und er riß die letzten Masken ab, nicht nur von dem Gesicht der Führenden, sondern auch von denen, die sich willig führen ließen. Das Volk wußte, daß es ein verbrecherischer Krieg war, aber Millionen dieses Volkes stürzten sich in den Kampf. Sie fragten nicht, ob es Recht sei. Sie fragten nicht, ob Frauen und Kinder verdarben. Sie wollten nur haben, nichts als haben. Die Lautsprecher schrien ihnen zu, daß es ein Krieg der jungen Völker gegen die alten sei, der Besitzlosen gegen die Besitzenden.
Aber dieser Krieg war etwas ganz anderes, als seine Maske zu zeigen versuchte. Er war die Essenz dessen, was der Friede für den „Übermenschen“ gewesen war. Er war der Krieg der Knechte gegen die Herren, der Krieg des Proleten gegen den Gentleman, der Krieg des Strolches gegen den Besitzenden.
Wohl waren viele unter den Stillen im Lande, die meinten, daß die Stunde nun gekommen sei, in der ganze Divisionen unter ihren Generalen den Gehorsam verweigern und die Macht ihrer Waffen gegen Unrecht und Gewalt kehren würden. Aber sie hatten weder von Generalen noch von Divisionen etwas gewußt. Sie hatten vergessen, daß wenige Schichten ihres Volkes so bis ins Mark verdorben waren wie die Schicht ihrer Generale. Sie hatten vergessen, daß dieselben Generale schweigend zugesehen hatten, wie die Fahne ihres Reiches heruntergeholt und die Fahne der finstersten Reaktion am Mäste aufgestiegen war. Sie hatten vergessen, daß dieselben Generale schweigend zugesehen hatten, wie einer der ihren am 30. Juni 1934 von den Henkern ihres nunmehrigen Kriegsherrn mit seiner Frau ermordet worden war, und wie ihr Kriegsherr mit einer frechen Lüge diesen Mord gerechtfertigt hatte. Vergessen, daß dieselben Generale ihre preußischen Degen erhoben hatten, damit unter ihnen der Brandstifter der Bewegung mit seiner „hohen Frau“ zur Trauung ging. Sie hatten vergessen, und erst der Lauf des Krieges erinnerte sie daran, daß Sklaven im goldenen Kleid würdeloser sind als Sklaven im Bettelkleid. Daß Diebe und Henker eine Uniform tragen konnten und daß kein Ritterkreuz des obersten Kriegsherrn seine Träger zu dem verschollenen Ideal der Ritterlichkeit verpflichtete. Und erst die Galgen, an denen viele der ihren hingen, ohne daß einer der Feldmarschälle seinen Marschallstab zerbrochen und in das Gesicht der Mörder geschleudert hätte, ließen die Schuppen von ihren Augen fallen und zeigten ihnen, zu wem sie gehörten.
Wir haben die Geschichte dieses Krieges hier nicht zu erzählen. Weder die seiner Heldentaten noch die seiner Laster und Verbrechen. Unsere Meinung von Heldentaten war immer eine andere Meinung als die der Zeitung und der Lautsprecher. Aber dieser Meinung sind wir ohne Einschränkung, daß die Zuhälter von Verbrechern nicht höher im Range stehen als die Verbrecher selbst, und für uns heben die Stirnen sich auf eine schmerzliche Weise heraus, die mit dem wahren Lorbeer untergegangen oder heimgekehrt sind, statt mit dem Kainsmal der Brudermörder, von anderen Malen ganz zu schweigen.
Denn der Lorbeer, den sie erwarben, war der Lorbeer des stillen Opfers. Vielleicht war es ein falsches Opfer, dem sie sich darboten, ein falscher Gehorsam, der sie trieb, aber ihre Herzen waren rein, und es waren die Herzen eurer Kameraden. Viele glaubten, daß es um das Vaterland gehe, und sie wußten nicht, daß es um die Partei ging. Aber viele glaubten nicht einmal dieses. Viele wußten, daß es um eine ungerechte Sache ging, und sie haßten den, der sie schickte. Aber sie glaubten, daß es Soldatenpflicht sei, zu gehorchen, und sie gehorchten. Sie trugen eine Last, von der niemand weiß, und sie wagten nicht, sie abzuwerfen. Ihre Hände blieben rein, auch wenn das Blut sie rötete. In den Gewittern der Schlachten waren sie so grenzenlos allein und verlassen, daß der Tod ihnen eine Erlösung war. Sie nahmen auch den Tod auf sich, wie sie die Mitschuld auf sich genommen hatten. Ihre Gräber zählen nach Hunderttausenden, und vor ihnen sollen wir uns neigen, Freund und Feind, vor ihnen und vor ihren Müttern, die sie ziehen lassen mußten, obwohl sie wußten, daß sie denen fluchten, die sie ausschickten. Viel ist gelitten worden auf unserer Erde, von dem wenige wissen, aus Irrtum, aus Schwäche, aus Gehorsam gelitten worden. Verlorenes Blut, edles Blut, unersetzliches Blut, aber wer unter uns wollte es wagen, ein Richter über den Irrtum zu sein?
Indessen sahen wir zu, wie ein Volk den letzten Rest seines sittlichen Gutes verlor und verdarb, wie ein Spieler verdirbt. Wie die sogenannte Volksgemeinschaft eines sogenannten Heldenvolkes der fadenscheinige Mantel war, der über einen Abgrund von Neid, von Mißgunst, von Haß, von Diebstahl und Hehlerei gespannt war. Vor unseren Augen verfiel und starb, woran wir ein Leben lang geglaubt hatten, und als das Ende gekommen war, sahen wir nicht nur ein totes Antlitz in einem kümmerlichen Sarg, sondern hinter diesem toten Antlitz die lange Reihe von Geschlechtern und Ahnen, zurück bis zum ersten Anfang, und wir wendeten uns ab und suchten mit bangen Augen, ob wir einen neuen Beginn fänden, eine Kinderhand, noch, mit Märchen oder biblischen Geschichten oder Blumen gefüllt, einige Kinderhände, viele, junge unschuldige Kinderhände, in die wir das Samenkorn und den Auftrag legen könnten, der aus allem Tode erwächst, aus keinem aber eindringlicher und mahnender als aus dem Tode eines Volkes.
Wir sahen zu. Wir wußten von allem. Wir zitterten vor Empörung und Grauen, aber wir sahen zu. Die Schuld ging durch das sterbende Land und rührte jeden einzelnen von uns an. Jeden einzelnen, außer denen, die auf dem Schafott oder am Galgen oder im Lager den Tod statt der Schuld wählten. Wir können zu leugnen versuchen, wie es einem feigen Volk zukommt, aber es ist nicht gut, zu leugnen und die Schuld damit zu verdoppeln. Wir sahen auch das Ende, und das Ende riß auch die letzten Masken ab. Es war des Anfangs wert. Das Ende des „Übermenschen“, wie er sich in Hüllen und Verkleidungen in die Einöde schlich oder in den Selbstmord stahl. Die Phrasen zerbrachen, die Lüge zerbrach, das heroische Pathos zerbrach. Und dahinter erschien zum ersten Male die Wahrheit, die so lange betrogene und geschändete: die nackte Todesangst der Kreatur, der erbärmlichen Kreatur, und das Verbrecherische des Todes schlang sich sinnbildlich um das Verbrecherische des Lebens. Der Vorhang sank, das Licht erlosch, der Zeiger fiel, und über dem dunklen Theaterrund lag die verödete Bühne mit den Gruben des Todes, von einem gespenstischen Schimmer erhellt, dem Schimmer der Verwesung, indes der Engel der Apokalypse die rote Sichel in einem grauenvollen Schweigen sinken ließ. Da stehen wir nun vor dem verlassenen Haus und sehen die ewigen Sterne über den Trümmern der Erde funkeln oder hören den Regen hinabrauschen auf die Gräber der Toten und auf das Grab eines Zeitalters. So allein, wie niemals ein Volk allein war auf dieser Erde. So gebrandmarkt, wie nie ein Volk gebrandmarkt war. Und wir lehnen die Stirnen an die zerbrochenen Mauern, und unsere Lippen flüstern die alte Menschheitsfrage: „Was sollen wir tun?“ Ja, was sollen wir tun?
Zweimal, meine Freunde, habe ich versucht, Ihnen eine Antwort auf diese Frage zu geben. Das erste Mal im Jahre 1933, das zweite Mal zwei Jahre später. Ich habe diese Antwort gebüßt und Sie haben gebüßt, daß Ihre Herzen sie nicht gehört haben. Nur der Rausch der Stunde hat sie gehört, aber der Rausch verflog, und es blieb nichts als die schönen Worte eines Toren, eingeschrieben in das Buch der Erinnerung, am Kaminfeuer zu lesen, indes der Nachtwind leise um die Fenster geht. Aber jedes Feuer erlischt, und aus jedem Nachtwind wird ein Wind der Frühe, und in jeder Frühe werden wir aufgerufen, einen Weg für unsere Füße zu suchen und ein Tagwerk für unsere Hände. Laßt uns zuerst erkennen und dann laßt uns tun. Laßt uns erkennen, daß wir schuldig sind und daß vielleicht hundert Jahre erst ausreichen werden, die Schuld von unseren Händen zu waschen. Laßt uns aus der Schuld erkennen, daß wir zu büßen haben, hart und lange. Daß wir nicht Glück und Heim und Frieden zu haben brauchen, weil die anderen glücklos und heimlos und friedlos durch uns wurden. Laßt uns erkennen, daß für uns das hatte Gesetz geschrieben wurde: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut!“ Laßt uns nicht aufbegehren dagegen, weil wir zwölf Jahre gerichtet haben nach dem Gesetz des „Übermenschen“: „Auge um nichts, Zahn um nichts, Blut um“ nichts!“ Es ist ein gerechteres Urteil, das uns gesprochen wird, als es dieses Urteil war. Zunächst aber laßt uns einen neuen Anfang setzen, einen neuen Grenzstein vor einem neuen Feld. Laßt uns ausrotten, was unseren Weizen verdarb, mit Ähre und Halm und Wurzeln ausrotten, ja, mit dem Boden, der die Wurzeln trug. Laßt uns die Henker auslöschen von unserer Erde, die Marktschreier, die falschen Propheten. Laßt es uns ohne Haß tun, wie der Pflug ohne Haß das Unkraut wendet, aber laßt es uns ohne Gnade tun, wie sie ohne Gnade waren. Wer Gnade mit dem Aussatz hat, verdirbt. Aber, meine Freunde, laßt es nicht dabei bewenden. Nicht bei Urteil, Zerstörung und Vernichtung. Bevor wir einen neuen Anfang setzen, laßt uns noch einmal die Waage in der Hand halten, soweit es uns zukommt. Und laßt uns der Worte gedenken, die Abraham zu Gott sprach, bevor er Sodom und Gomorra verdarb: „Willst Du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es möchten vielleicht 50 Gerechte in der Stadt sein: Wolltest Du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin waren? Das sei ferne von Dir, daß Du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, daß der Gerechte sei wie der Gottlose!“ Dieses laßt uns bedenken, meine Freunde, und laßt es uns auch denen zurufen, die den Sieg gewonnen haben über unser Volk. Und wenn wir alle schuldig sind außer den Märtyrern, doch war es nicht so, wie viele der Sieger glauben: daß ein ganzes Volk ohne Zögern seine Hand zum Morden hingegeben hat. Doch wissen wir, daß Tausende sich abgewendet haben von den Dämonen und daß es langsam Hunderttausende und Millionen wurden. Daß die Wurzel der Gerechtigkeit in Millionen Herzen nicht verdorrt war. Daß sie zwölf oder zehn oder sieben Jahre Schmerzen litten, von denen die anderen nichts wissen, aber von denen ich weiß; daß sie nicht wagten, ihre Lippen zu öffnen, weil das den Tod bedeutete. Aber daß sie über Menschenkraft litten unter dem Furchtbaren, das geschah. Sie waren gehorsam und sie waren still, aber jeder Schritt ihres Lebens war ein Dornenweg, und in den Nächten, wenn niemand sie sah, rangen sie die Hände zu ihrem Gott und sie beteten um den Sieg der Feinde. In Millionen von Häusern und Hütten wurde so gebetet, um den Untergang der Machthaber und um den Sieg der Feinde. Weiß die Welt, was solch ein Gebet bedeutet? Weiß sie, was ein Volk gelitten haben muß, um so zu beten? Es ist leicht, den Stab zu brechen über ein ganzes Volk, aber Gott hat nicht gewollt, daß der Gerechte mit dem Gottlosen getötet werde. Ja, er hat nicht einmal gewollt, daß der Ungerechte mit ihm getötet werde. Und die Siegerwelt hat Beispiele genug in ihrer Geschichte, daß selbst gerechte Völker der Gewalt und dem Blut sich gebeugt haben, ein Jahr lang, viele Jahre lang. Und selbst wenn die Welt den Stab brechen wollte über ein ganzes Volk, so wollen wir der Millionen Herzen nicht vergessen, die von Mördern in den Abgrund gerissen wurden, aber in denen das Licht der Wahrheit und der Gerechtigkeit niemals erloschen war. Wenn das Zeitliche fortgewischt sein wird, dann wird unter Tränen und Trümmern das Schmerzensgesicht erscheinen, das den Urgrund unseres Volkes bildet, ein Gesicht trotz allem voller Güte und Rechtlichkeit, von Leid und Scham verdunkelt, aber nicht ausgelöscht; ein Gesicht, das gutmachen will, nichts als gutmachen, und über das Christus sich doch erbarmen wird, auch wenn die Welt kein Erbarmen hat Und nun erst laßt uns einen neuen Anfang setzen. Nicht für die Alten, aber für euch und für die Kinder. Vielleicht erkennt ihr, daß unser aller Anfang falsch war. Denn wir lebten nach dem Wort des Johannes- Evangeliums: „Am Anfang war das Wort“. Aber statt des Gotteswortes setzten wir das Menschenwort, und das Menschenwort war der Fluch eines ganzen Zeitalters. Bedenkt das wohl und vergeßt es nicht! Wollt ihr mir nicht glauben, so blickt nur die Zeitungen dieser zwölf Jahre an, nichts anderes. Der Aussatz eines Volkes wuchert in ihnen wie ein stinkendes Geschwür, und auf dem Grunde des Geschwürs wuchert das Wort. Das Heiligtum jeder Sprache in die Hände von Zuhältern gegeben, von bezahlten, feigen und erbärmlichen Knechten, und in ihnen entstellt bis zur unauslöschlichen Schande einer ganzen Nation.
Wäre das Wort ihr heilig gewesen und als ein Heiligtum vor den Augen aller Jugend aufgerichtet worden, so hätte ein Gelächter ohnegleichen den „Übermenschen“ zurückgetrieben in die Höhlen seines Ausgangs. Nehmt zwei seiner Worte, nehmt die Worte „Vaterland“ und „Ehre“, und bedenkt, über welchen Abgrund des Verbrechens sie als eine schillernde Brücke gespannt waren. Nehmt das Wort „Staat“, und das Wort „Freiheit“, das Wort „Recht“. Die großen Betrüger der Menschheit, wenn eine verlogene Hand sie aus einem Zweck in ein Mittel verwandelt. Nein, laßt uns einen neuen Anfang setzen. Laßt uns die Liebe statt des Wortes an den Anfang setzen, und selbst wenn es nicht wahr wäre, selbst wenn die Liebe am Ende stände statt am Anfang, so laßt uns mit diesem Irrtum beginnen, weil es ein heilsamerer Irrtum ist als eine zweideutige Wahrheit. Laßt uns dann denken, daß zwölf Jahre lang nichts mit solchem Haß verfolgt und gekreuzigt worden ist als die Liebe. Sie war das Gegenbild des Antichrist, die Märchenwurzel, von der man wußte, daß sie die Mauern des Turmbaus sprengen kann. Sie war das, was übersprungen werden mußte, damit der Haß gedeihen konnte, die Vernichtung, der Mord. Sie aus den Herzen der Jugend zu reißen, war die entscheidende Aufgabe dieser zwölf Jahre, das A und O einer ganzen Weltanschauung, verschleiert und verheimlicht, aber im Verschleierten wie Verheimlichten mit der glühenden Leidenschaft betrieben, mit der der Mörder seinen ersten und letzten Stoß führt. Fragt nicht, wo und wie ihr mit der Liebe beginnen sollt. Ihr habt eine Saat zu säen, und das Feld erwartet euch. Ein verstörtes Volk erwartet euch, und für die Ärmsten dieses Volkes seid ihr durch den feurigen Ofen gegangen, für seine Kinder. Sie haben kein Dach und sie haben kein Brot, sie haben keine Bibel und keine Märchen. Über ihren Kinderjahren standen die Götzenbilder der Wüste, und der feurige Moloch streckte die glühenden Arme nach ihnen aus. Sie sind das einzige Feld, das uns geblieben ist, der einzige und der kostbare Schatz, den wir besitzen. Der Wald ist abgeschlagen, aber tief aus dem Urgrund des Volkes schießen die neuen Triebe heraus, die Zukunft, die einzige Zukunft, und in eure Hände ist sie gelegt Einmal werdet ihr Erzieher sein oder Prediger, einmal Ärzte und Richter, und einige von euch werden das tröstende Licht der Kunst aufheben vor den hungrigen Augen. Dann denkt daran, daß keine neue Erde aufblühen wird, ohne daß ihr sie durchtränkt hättet mit eurer Liebe. Ich weiß, was ich für viele Menschen in diesen bitteren Jahren gewesen bin: ein Licht, eine Hoffnung, und vielleicht so etwas wie das Gewissen eines verstörten Volkes. Es lag kein Ruhm darin, sondern nur eine große und schwere Pflicht. Aber es lag für mich auch ein tiefer Trost darin. An jedem Abend, nach dem furchtbaren Tagwerk, pflegte ich im TotenwaldLager zu der Eiche zu gehen, unter der schon Goethe mit Charlotte von Stein gesessen und über das ferne, blühende Land geblickt hatte. Dort saß ich, eine stille Viertelstunde, zu Tode erschöpft, ganz allein, und wußte nicht, ob ich am nächsten Abend dort noch sitzen würde. Aber wenn ich dann der Menschen gedachte, für die ich gelebt hatte und für die ich dies alles auf mich genommen hatte, dann wart auch ihr darunter, Werdende und Kommende, und ich wußte mit einer durch nichts zu erschütternden Sicherheit, daß ihr einmal weiterreichen würdet, was ich nicht vollenden konnte. Und wenn nur zwei oder drei unter euch waren, so war es genug, und nichts war umsonst und vergeblich gewesen. Laßt es zu, daß ich euch daran erinnere in dieser Stunde. Ihr sollt wissen, daß auch mir nichts geschenkt worden ist in diesen Jahren, und erst wer gelitten hat, darf zum Leiden aufrufen.
Und ihr sollt ja nicht nur leiden, sondern auch tun. Und alles was ihr tut, sollt ihr ja tun, um das Leid zu mindern. Laßt die am Besitz Hängenden ihre Häuser und ihren Hausrat ausgraben aus dem Schutt der Zerstörung. Ihr aber sollt etwas anderes ausgraben, was tiefer begraben liegt als dieses: ihr sollt Gott ausgraben unter den Trümmern des Antichrist, gleichviel, welchen Namen ihr ihm gebt. Und ihr sollt die Liebe ausgraben unter den Trümmern des Hasses. Und ihr sollt die Wahrheit wieder ausgraben und das Recht und die Freiheit und vor den Augen der Kinder die Bilder wieder aufrichten, zu denen die Besten aller Zeiten emporgeblickt haben aus dem Staub ihres schweren Weges. Es wird wohl sein, daß eure Augen sehender geworden sind. Für die Tafeln der Namen wie für die der Geschichte. Und vielleicht werdet ihr eines als eure Hauptfrage erkennen: daß es von dieser Stunde an niemals und unter keiner Bedingung einen deutschen Staat zu geben hat, in dem einer oder zwei oder drei das Recht besitzen, ein ganzes Volk auf die Schlachtfelder zu schicken, ohne vorher das ganze Volk zu befragen, Mütter und Söhne zu befragen. Laßt mich euch dies auf die Seele binden wie ein Vermächtnis. Denn auf den Schlachtfeldern verbluten niemals die zwei oder drei, sondern auf ihm verbluten die Mütter und die Söhne, und wenn uns nichts auf dieser Erde gehört, so doch wenigstens das Blut unserer Herzen, und in unsere Hand muß es gelegt sein, zu entscheiden, ob sie es an ein blutiges Phantom hingeben oder an die Werke der Liebe und Menschlichkeit. Erkennt bis zu eurem Herzensgrunde, was die Gewalt ist, die Lüge, der Haß, das Unrecht, die Phrase. Und wenn ihr es erkannt habt, dann sät es aus in die Herzen des kommenden Geschlechtes. Laßt euch kein Unkraut verdrießen, keine Dürre, keinen Hagelschlag. Und wenn es hundertmal mißlungen ist, so beginnt mit demselben Glauben, mit dem ihr das erste Mal begonnen habt. Erinnert euch des Vogels im Märchen, der alle tausend Jahre kommt, um ein Körnchen aus dem Demantberg zu brechen. Erinnert euch daran, was vor euch steht und daß es in der ganzen Weltgeschichte niemals eine größere Aufgabe gegeben hat als die eurige. Das Blut eines Volkes zu erneuern und die Schande von dem Gesicht eines ganzen Volkes abzuwaschen. Glaubt nicht an die jahrtausendalte Lüge, daß Schande mit Blut abgewaschen werde, sondern an die junge Wahrheit, daß Schande nur mit Ehre abgewaschen werden kann, mit Buße, mit Verwandlung, mit dem Worte des verlorenen Sohnes: „Vater, ich habe gesündigt, und ich will hinfort nicht mehr sündigen“. Klagt nicht, daß wir barfuß gehen werden, daß wir hungern werden, daß der Richter über uns sitzen wird bei Tag und bei Nacht. Laßt uns einen neuen Anfang setzen, laßt uns neu geboren werden und seid gewiß, daß niemand aus der Welt herausfällt, der nicht zuvor aus Gott herausgefallen wäre. Blickt dem Schicksal in die Augen, wie die Märtyrer der Lager es getan haben. Es gibt eine eherne Gerechtigkeit, aber so wie der Haß tausendfältig aufgegangen ist, den sie gesät haben, so wird die Liebe aufgehen, die ihr säen sollt, nur daß sie hunderttausendfältig aufgehen wird. Wer hat uns zugesagt, daß wir ernten sollen? Aber wir haben Gott zugesagt, daß wir säen wollen, und dies soll das Werk eures Lebens sein. Aus jeder Sintflut treibt die Arche dem Berge zu, aus jeder Arche fliegt die Taube und kehrt mit dem Ölblatt wieder. Die Spaten der Totengräber sind zerbrochen, laßt uns die Spaten der Auferstehung in die Hand nehmen. Eine reinere Form wollen wir schaffen, ein reineres Bild, und einmal vielleicht werden wir das Schicksal segnen, weil es ein Volk zerbrach, damit aus den Trümmern eine neue Krone geglüht werde. In den bittersten Jahren dieses Krieges, als der sausende Schlag des Pendels immer näher an mein Leben streifte, als jeder Tag eine Warnung von unbekannten Händen brachte, mich zu verbergen oder aus dem Land zu gehen, habe ich mit meinem Teil der Aufgabe begonnen, die ich nun vor euch hinstelle, mit dem Brot für die Hungrigen, mit einem Band Kindermärchen für die Ärmsten aller Völker. Und während ringsum Leben und Recht und Freiheit zerbrachen, habe ich sie wieder aufgerichtet, in Hunderten von Blättern, und eine neue Erde der Gerechtigkeit geschaffen, auf meine Weise, und die Worte Goethes davorgesetzt:
„Komm, wir wollen Dir versprechen
Rettung aus dem tiefsten Schmerz …
Säulen, Pfeiler kann man brechen,
aber nicht ein freies Herz.“
Und auch ihr sollt sie bewahren und damit ausgehen zu den Armen unseres Volkes, und wo ein Kind die trostlosen Augen zu euch aufhebt, sollt ihr euch niederbeugen und voll Gewißheit sagen:
„Komm, wir wollen Dir versprechen
Rettung aus dem tiefsten Schmerz!“
Ist es nicht ein schönes Los, das uns zugefallen ist? Und können wir nicht fröhlichen Herzens sein, wenn wir uns auf den Weg machen?
Und hier, an dieser Stelle, laßt mich euch noch eines bitten, das Letzte und das Schwerste. In der Zeit, die kommen wird, werden vielleicht einige sein unter denen, die zwölf Jahre lang gejubelt haben, die erkennen werden. Nicht unter den Henkern und Mördern, aber unter denen, die „Hosianna!“ gerufen haben. Deren blinde Augen sich auftun werden und die erkennen werden. Die verfemt und geächtet und vogelfrei sein werden und die noch einmal anfangen möchten. Vielleicht werden es wenige, vielleicht werden es viele sein. Und sie werden zu euch hinüberblicken wie Kinder, die aus einem Spiel ausgestoßen worden sind. Und wenn ihr glaubt, daß ihre Herzen neu geworden sind, stoßt sie nicht zurück! Solange kein Blut an ihren Händen ist, stoßt sie nicht zurück. Wir haben alle gefehlt, und es kommt uns nicht zu, zu richten, selbst denen unter uns nicht, die am meisten gelitten haben. Erinnert euch der Worte im Alten Testament: „Wenn Du den Esel des, der dich hasset, siehest unter seiner Last liegen, hüte dich, und laß ihn nicht, sondern versäume gern das Deine um seinetwillen.“ So laßt uns auch das Unsrige versäumen, wenn wir sie unter ihrer Last liegen sehen. Keine Liebe ist wärmer und fruchtbarer als die, die sich zu den Schuldigen neigt. Und was ist nun noch zu sagen, was nicht besser getan würde? Aber ist es nicht ein wunderbarer Anfang, daß wieder gesagt werden durfte, was ich hier gesagt habe? Und so laßt mich enden mit den Versen, die ich im letzten Kriegssommer niederschrieb, wenn ich in die großen Wälder ging und dabei auf einem Baumstumpf saß und unser aller Leben überdachte.
„Es geht ein Pflüger übers Land,
der pflügt mit kühler Greisenhand
die Schönheit dieser Erden.
Und über Menschenplan und -trug
führt schweigend er den Schicksalspflug,
vor dem zu Staub wir werden.
So pflügt er Haus und Hof und Gut
und Greis und Kind und Wein und Blut
mit seinen kühlen Händen.
Er hat uns lächelnd ausgesät,
er hat uns lächelnd abgemäht
und wird uns lächelnd wenden.
Rings um ihn still die Wälder stehn,
rings um ihn still die Ströme gehn,
und goldne Sterne scheinen.
Wie haben wir doch zugebracht
wie ein Geschwätz bei Tag und Nacht
so Lachen wie Weinen.
Nun lassen Habe wir und Haus,
wir ziehen unsere Schuhe aus
und gehn mit nackten Füßen.
Wir säten Tod und säten Qual,
auf unsren Stirnen brennt das Mal,
wir büßen, wir büßen.
Und nächtens pocht es leis ans Tor,
und tausend Kinder stehn davor
mit ihren Tränenkrügen.
Und weisen still ihr Totenhemd
und sehn uns schweigend an und fremd,
mit schmerzversteinten Zügen.
O gib den Toten Salz und Korn
und daß des Mondes Silberhorn
um ihren Traum sich runde.
Und laß indessen Zug um Zug
uns leeren ihren Tränenkrug
bis zu dem bittren Grunde.
Und gib, daß ohne Bitterkeit
wir tragen unser Bettlerkleid
und deinem Wort uns fügen.
Und laß uns hinterm Pfluge gehn,
solang die Disteln vor uns stehn,
und pflügen und pflügen.
Und führe heut und für und für
durchs hohe Gras vor meiner Tür
die Füße aller Armen.
Und gib, daß es mir niemals fehlt
an dem, wonach ihr Herz sich quält:
ein bißchen Brot und viel Erbarmen!“
[1] Gehalten am 11. November 1945 im Münchner Schauspielhaus.