Verweigerung des Geläuts nach der über 99 % „Ja-Wahl“ am 29.3.1936
Von Karl Steinbauer
Zufällig war ich am Dienstag um 12 Uhr in Seeshaupt und hörte Glockengeläut unseres Kirchleins. Ich fuhr sofort hinüber. Die Kirchnerin steht da und zieht im Rhythmus an den beiden Glockenseilen.
„Warum läuten Sie denn?“
Ihre Antwort: „Wegen des wunderbaren Wahlergebnisses.“
„Hören Sie bitte sofort auf! “
„Ja, warum denn?“
„Weil wir als Christen Betrug nicht mitmachen dürfen. Lügen muß man ohne Gott.“
Auf ihren weinerlichen Einwand: „Dann werd’ ich eingesperrt“, entgegnete ich: „Wenn Sie gefragt werden, dürfen Sie sich selbstverständlich auf mich berufen. Ich übernehme als Pfarrer, als Hirte der Gemeinde die Verantwortung. Wir dürfen Betrug nicht decken, schon gar nicht mit den Kirchenglocken. Damit würden wir sozusagen Gott zum Mitlügen zwingen. Die Männer des Staates müssen wissen: Lügen kann man nur ohne Gott!“
Ich wurde angezeigt. Der zuständige Kommissar aus Penzberg, übrigens ein sehr feiner, grundanständiger Mann, hat mich vernommen: „Herr Pfarrer, warum haben Sie denn nicht geläutet?“
„Herr Kommissar, warum fragen Sie denn? Das wissen Sie so gut wie ich. Aber ich weiß, sie müssen mich als Polizist fragen, und ich will Ihnen als Pfarrer klar und eindeutig antworten: „Ich hab’ nicht läuten lassen, weil die Wahl ein aufgelegter Schwindel war.“
„Aber Herr Pfarrer, das dürfen Sie doch nicht sagen, da gibt’s wieder was. Da werden S’ diesmal bestimmt eingesperrt.“
„Herr Kommissar, ich muß das sagen. Ich könnte mich herausreden und Ihnen vormachen, ich hätte es vergessen; das wäre einfach, aber unredlich. Der Staat hat Recht und Pflicht, Gesetze und Verordnungen zu erlassen. Die Staatsbürger ihrerseits sind gehalten und verpflichtet, sie zu befolgen. Wenn sie es nicht tun, müssen sie gewichtige Gründe dafür haben. Diese Gründe zu erfahren, hat der Staat das Recht. Wo kämen wir hin, wenn jeder unkontrolliert tun und lassen dürfte, was er wollte. Ich habe nicht geläutet, weil die Wahl ein Schwindel war. Meine Behauptung stützt sich nicht auf vage Vermutungen; ich weiß von geheimen Anordnungen aus dem Innenministerium, habe Kenntnis von den Anweisungen bei der geheimen Bürgermeisterversammlung, in der der Kreisleiter im einzelnen die Schwindelanweisungen gab, wie das gewünschte Wahlergebnis zustande zu bringen ist. Ich weiß, daß die Wahl hier in Penzberg keine geheime, sondern eine kontrollierte Wahl war, daß eine genaue Liste aller Nein-Wähler vorhanden ist, daß auch ich mit meiner Frau und unserem Mädchen draufstehen, daß aber trotzdem die abgegebenen Nein-Stimmen bis auf wenige unterschlagen wurden usw. Und nun ist die Sache so: Es geht fürs erste nicht an, daß ich durch Läuten hinterher so tue, als könnte ich nun doch mit Ja‘ wählen. Aber das ist das Geringere. Schlimmer ist: Ich soll sozusagen mit dem Läuten Gott zu diesem Betrug ,Ja‘ sagen lassen und der Gemeinde gegenüber so tun, als sei die Wahl Anlaß, auf die Knie zu fallen und Gott zu danken. Dann hätte ich Menschen und Gott belogen, wie es in der Apostelgeschichte bei Ananias und Saphira heißt (Apg. 5,1 ff.). Ich kann das um keinen Preis der Welt tun. Unsere Glocken rufen zum Wort der Wahrheit und zum Gebet. Ich würde mich schämen, wieder auf die Kanzel zu gehen, wenn ich wissentlich solchen Betrug mit Glockenläuten gedeckt hätte.“
Zunächst erfolgte nichts.
Dem Landeskirchenrat habe ich sofort Bericht von der polizeilichen Anzeige erstattet. Ich wurde in die Arcisstraße vorgeladen zu einer Besprechung vor mehreren Herren der Kirchenleitung. Der Landesbischof nahm das über 99%ige Ergebnis offenbar für bare Münze und fragte mich fast etwas vorwurfsvoll, ob ich denn nicht die unerhörte Begeisterung aus den Radioübertragungen gehört hätte, gab aber klausuliert zu erkennen, daß gegebenenfalls das Geläute durch die Kirche verweigert worden wäre, wenn man von den Unkorrektheiten vorher Kenntnis gehabt hätte. Mir wurde aber mit sehr ernster Vermahnung zu bedenken gegeben: „Stellen Sie sich vor, welche unabsehbaren Folgen es für die bayer. Landeskirche hätte haben müssen, wenn mehrere Pfarrer oder gar alle nicht hätten läuten lassen!“ Ich konnte nur antworten: „Herr Landesbischof, Sie bedenken offenbar nicht, daß das Läuten auch Folgen hatte, diese nämlich, daß die Männer von Staat und Partei der Kirche kein Stück Brot mehr abnehmen. Ich täte es an deren Stelle auch nicht. Diese Leute müssen meinen, die Kirche sei durchaus in der Lage, offensichtlichen Betrug auf einen Wink des Staates mit Glockengeläute zu salvieren.“
Quelle: Karl Steinbauer, Einander das Zeugnis gönnen, Bd. 2, Erlangen 1983, S. 3-6.